„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 21. April 2010

Entwicklungslogiken

(Vgl. auch meine Posts vom 09.09., 10.09., 11.09.2012, 31.01.201313.06.2014 und vom 14.01.2015)



Das Schema faßt den dreifachen Entwicklungsprozeß der biologischen Evolution, der kulturellen Evolution und der individuellen Entwicklung zusammen, wobei die Stufung von links unten nach rechts oben keine Höherentwicklung wohin auch immer zum Ausdruck bringen soll, sondern nur eine Sedimentierung. Wäre es darstellbar, müßten die drei Gebilde also nicht nebeneinander, sondern übereinander liegen. Die Reihenfolge ergibt sich aus der zeitlichen Dauer des jeweiligen Prozesses, insofern die biologische Evolution am weitesten zurückreicht, bis zum Beginn des Lebens, die kulturelle Evolution nicht weiter zurückreicht als die Evolution der Menschheit und die individuelle Entwicklung sich nur über die Dauer eines menschlichen Lebens erstreckt.

Biologische und kulturelle Evolution bilden bezogen auf das Individuum ‚Sedimente‘, und zwar nicht nur hinsichtlich seiner Physis, sondern auch hinsichtlich seines ‚Bewußtseins‘. Dieses ‚Bewußtsein‘ wäre so zu denken, daß es sich selbst nicht vollständig durchsichtig ist, etwa im Sinne eines Selbstbewußtseins. Es beinhaltet sich selbst nicht bewußte Dimensionen, in Form von Sedimenten, d.h. Ablagerungen von Entwicklungsprozessen, in diesem Fall gemeint als Teil seiner eigenen individuellen Entwicklung, also seiner Ontogenese. Die biologische und die kulturelle Evolution bilden also weitgehend sedimentierte Bestandteile der Ontogenese, die immer noch Motive zum individuellen Denken und Handeln beisteuern, ohne daß wir uns darüber Rechenschaft zu geben vermögen, wobei dieser evolutionäre und kulturelle Beitrag zum individuellen Bewußtsein im Laufe des Lebens in unterschiedlicher Weise abnimmt und zunimmt. Das hängt im Einzelnen wiederum von den Freiheitsgraden ab, die für die jeweiligen Lebensalter spezifisch sind und die wir uns mit unserer individuellen Bildung erarbeiten.

Alle drei Prozesse tragen also zur Menschwerdung des Individuums bei und bilden im Laufe seiner Entwicklung verschiedene Formen eines Unterbewußten, eines ihm fremden Fundaments, so daß das sich selbst vertraute Individuum auf einem dreifach differenzierten Fremden aufruht. Die Fremdheit des ersten Sediments besteht in der Stummheit des Naturprozesses, aus dem der Mensch als biologische ‚Art‘ hervorgegangen ist und der sich in jeder Ontogenese wiederholt, so daß diese den Evolutionsprozeß spiegelt. Dieser Naturprozeß ist nur beschreibbar, aber nicht erklärbar und auch nicht interpretierbar, da wir es zwar mit einem das menschliche Bewußtsein mitbestimmenden, aber selbst nicht bewußtseinsaffinen Phänomen zu tun haben. Ging man allerdings bis vor kurzem noch davon aus, daß evolutionäre Vererbungsprozesse sich nur in eine Richtung, nämlich auf die Individuen auswirken, so weiß man inzwischen, daß es aufgrund epigenetischer Mechanismen eine Wechselwirkung gibt und auch evolutionäre Vererbungsprozesse durch individuelles Verhalten beeinflußbar sind. Darauf verweisen die Doppelpfeile zwischen der biologischen Evolution, der kulturellen Evolution und der biographischen Entwicklung (Epigenetik & gemeinsame Aufmerksamkeit). Nach allem, was man bislang über epigenetische Mechanismen einer Wechselwirkung zwischen der biologischen Evolution und der individuellen Ontogenese weiß, wäre es vorstellbar, daß die in der Graphik zwischen den beiden Entwicklungsprozessen angesiedelte kulturelle Evolution individuelle Lebensstile über Generationen hinweg stabilisiert und so ihre dauerhafte genetische Verankerung anbahnt.

Die Fremdheit des zweiten Sediments, der kulturellen Evolution, besteht in der der biographischen Entwicklung fraglosen Vorgegebenheit der Kultur (Sinnressource). Diese Fraglosigkeit bezieht sich auf den lebensweltlichen Aspekt jeder Kultur als ein das individuelle Denken und Handeln umfassendes Sinnmedium. Aus diesem geht der Mensch als geschichtliches Wesen hervor: nichts von dem, was dem Individuum widerfährt, geschieht ihm auf biologisch naturwüchsige Weise, sondern als ‚menschengemacht‘. Deshalb sind kulturelle Prozesse im Unterschied zu Naturprozessen auch interpretierbar und nicht nur beschreibbar, denn in ihnen begegnet sich der Mensch selbst. Sie sind nichts anderes als gespeicherte, generationsübergreifende Lebenserfahrung, – eine primär geistige, das Bewußtsein betreffende Komponente, die aber, wie schon erwähnt, über die Epigenetik auch ein biologisches Moment beinhaltet.

Die Kultur ist dem Menschen auf eine essentiellere Weise ‚Schicksal‘ als die Natur. Aber diese Schicksalhaftigkeit der Kultur ist dennoch im Bewußtsein des Individuums einseitig fundiert. Das Individuum ‚bedient‘ sich der kulturell vorgegebenen Sinnressourcen nicht einfach genau so, wie es umgekehrt von der Lebenswelt in seinem Denken und Handeln bestimmt wird; vielmehr ist die Kultur selbst letztlich nur ein Spiegel individueller Entscheidungen. Kulturelle Prozesse beziehen ihre Energie aus einer Vielzahl individueller Bewußtseinsprozesse und sind ohne diese nichts. Im Unterschied zur biologischen Evolution ist also die kulturelle Evolution bewußtseinsaffin, aber eben bloß ‚affin‘, und nicht das Bewußtsein selbst, das nur als individuelles existiert. Und als bewußtseinsaffiner Evolutionsprozeß hat die kulturelle Evolution ähnlich der individuellen Ontogenese zwei Bewußtseinsebenen: neben der schon angesprochenen unbewußten Ebene in Form einer lebensweltlichen Sinntotalität (Sinnressource) eine den interagierenden Individuen bewußte Ebene in Form der „gemeinsamen Aufmerksamkeit“.

Die Fremdheit des dritten Sediments besteht in der späteren Lebensphasen eigentümlichen Unkenntnis früherer Lebensphasen. Wir haben schlicht vergessen, was uns vor allem in der frühen, teilweise aber auch späteren Kindheit widerfahren ist. Hinzu kommen den weiteren Entwicklungsverlauf prägende frühkindliche Erfahrungen, gegenüber denen wir als Erwachsene nur noch bedingt frei sind, uns dazu zu verhalten. Da wir dennoch in unserer Person Anfang und Ende unserer Existenz untrennbar vereinen und unser Lebensschicksal in unvertretbarer Weise an unserer eigenen Person erleiden, ist der Mensch sich selbst Subjekt und Substanz in einem: Subjekt, weil er seine ihn betreffenden Entscheidungen selbst treffen muß – auch wo wir sie uns scheinbar von anderen aus der Hand nehmen lassen, treffen wir sie letztlich immer selbst –, und Substanz, weil er die Folgen seiner Entscheidungen selber tragen muß; und nicht nur die Folgen seiner eigenen Entscheidungen, sondern generell die Folgen gesellschaftlichen Handelns seiner Zeit.

Die wechselseitigen Zusammenhänge der Schichtungs- und Sedimentierungsprozesse im individuellen Bewußtsein verweisen nun auf eine ungeheuer komplexe Trieb- und Motivationsstruktur menschlichen Denkens und Handelns. Diese Komplexität überschreitet speziell beim Menschen – soweit es sich aus menschlicher Perspektive heraus sagen läßt – eine bestimmte Grenze, die die bloße Möglichkeit individueller Urteilskraft umwendet in eine existentielle Notwendigkeit. Innerhalb der Unzahl möglicher Motive muß eine Auswahl getroffen werden. Und diese Auswahl wird getroffen, ständig, von welcher Instanz auch immer. Allein der Versuch aber, über die ständigen Entscheidungsprozesse den Überblick zu behalten, sich für oder gegen bestimmte Motive zu wenden und dieses zu begründen, konstituiert das menschliche Bewußtsein. Hierin behauptet es seine Identität und seine Freiheit. Damit behaupten wir uns auch gegen die Selbsthypostase kultureller Phänomene als Übersubjekte, die individuelles Denken und Handeln nicht nur zu orientieren, sondern zu determinieren versuchen, und gegen den Naturalismus, der alle Lebensphänomene einschließlich des menschlichen Lebens als blinde Naturprozesse zu kennzeichnen versucht.

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