„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 25. April 2010

Michael Tomasello, Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a.M. 2009

(Vgl. auch meine Posts vom 24.05.2011 und vom 06.06., 07.06. und 08.06.2012)

Tomasello führt die Ursprünge der menschlichen Kommunikation anders als die Linguisten, Sprachwissenschaftler und Anthropologen des 20. Jhdts. nicht auf den im engeren Sinne sprachlichen Gebrauch der menschlichen Stimme zurück (auditiver Kanal), sondern auf im prägnanten Sinne vorsprachliche Fähigkeiten, insbesondere auf das menschliche Handeln als ursprünglicher Quelle von Sinnhaftigkeit (Vgl.S.245f.), aus der zunächst die bildhaften Gesten und Gebärden hervorgegangen sind, die vor allem den visuellen Kanal unseres Sinnesapparates in Anspruch nehmen. Generationen von Anthropologen haben aufgrund ihrer Fixierung auf den auditiven Kanal versucht, bei Tieren, speziell bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, deren Vokalisation zu trainieren und zu manipulieren, in der Hoffnung, daß sie so etwas wie eine Wortsprache entwickeln. Tomasello kann aber eindrucksvoll belegen, daß die Stimme bei den Primaten genetisch als individualistischer Ausdruck von Emotionen festgelegt ist und an keine bestimmten Empfänger gerichtet ist, mit denen sich dann so etwas wie eine Kommunikation ergeben könnte. (Vgl.S.30, 42, u.ö.) Die Stimme richtet sich aufgrund der Natur des Schalls natürlicherweise an alle, die sich in einer erreichbaren Nähe befinden und dient deshalb vor allem als Alarmsignal. Dafür bedarf es aber keiner kommunikativen Absicht.

Die meisten Primaten außer dem Menschen sind auch gar nicht frei, ihre Stimme willkürlich für bestimmte Zwecke zu verwenden, um z.B. andere über etwas zu informieren oder etwas mit ihnen zu teilen. Sie teilen nicht einmal absichtlich Emotionen mit; sie drücken sie nur aus, also expressiv, ohne kommunikative Absicht. Für kommunikative Absichten verwenden Primaten hauptsächlich Gesten und Gebärden, weshalb die erwähnten Anthropologen auch bald, nach der offensichtlichen Vergeblichkeit sprachlicher Übungen, dazu übergegangen waren, ihren Schimpansen rudimentäre Zeichensprachen beizubringen.

Tomasello geht nun davon aus, daß der phylogenetische Ursprung der menschlichen Sprache genau in diesem Bereich der Gesten und Gebärden zu finden ist. Ontogenetisch ist es jedenfalls so, daß die individuelle Sprachentwicklung bei kleinen Kindern zunächst mit Zeigegesten und Gebärdensprache beginnt, während dann in der weiteren Entwicklung speziell die Gebärdensprache von Vokalisierungen abgelöst wird. (Vgl.71, 166f.u.ö.)

Hier ist eine kurze Bemerkung zur Verwendung der Begriffe „Sprachlichkeit“ und „Vorsprachlichkeit“ angebracht. Tomasello spricht immer von „vorsprachlichen“ Kleinkindern (S.71u.ö.) oder von der „nichtsprachlichen“ Infrastruktur des intentionalen Verstehens (S.69). Es ist sicher problematisch, in Bezug auf den Menschen von einer vorsprachlichen Entwicklungsphase von Kleinkindern oder von vorsprachlichen Fähigkeiten bei Erwachsenen zu sprechen. Der Mensch ist zeitlebens so sehr in sprachliche Kontexte eingebunden, daß alles, was er tut, denkt und fühlt, als in irgendeiner Weise ‚sprachlich‘ bezeichnet werden muß. Dennoch gibt es aufgrund von Unfällen oder Krankheiten Beschädigungen des Gehirns, die bei den Betroffenen zur Sprachlosigkeit (Aphasie) führen, ohne daß sie in ihren kognitiven oder emotionalen Fähigkeiten als beeinträchtigt erscheinen. Viele Beispiele hierfür finden sich bei Antonio Damasio. Und es gibt wiederum viele Beispiele von Kindern, die aufgrund von Behinderungen (Taubheit) oder anderen Umständen ohne Sprache aufwachsen, die aber dennoch eine Art von ‚Sprache‘ entwickeln, die aber wiederum erkennbar anders ist als die von Kindern, die mit normalen Fähigkeiten und in normalen sozialen Kontexten aufwachsen. Tomasello bringt hierfür viele Beispiele, besonders beeindruckend ist die Nicaragua-Zeichensprache. (Vgl.S.294ff.)

Alle diese Beispiele zeigen, daß es Aspekte des menschlichen Denkens und Fühlens gibt, die auf Kompetenzen beruhen, die wir mit Tieren und speziell unseren Primatenverwandten gemeinsam haben, also unterhalb der Schwelle der spezifisch menschlichen Sprachlichkeit. Da macht es Sinn, von ‚Vorsprachlichkeit‘ zu reden. Das ermöglicht es auch, den phylogenetischen und ontogenetischen Übergang von der Vorsprachlichkeit zur ausgereiften Sprachlichkeit des erwachsenen Menschen in den Blick zu nehmen und zu beschreiben.

Tomasellos Konzept setzt genau hier an. Und es zeigt sich dabei, daß sich hinsichtlich der menschlichen Kommunikation eine ähnliche Schichtung der Komponenten einer „sozio-kognitiven Infrastruktur“ aufzeigen läßt wie im menschlichen Organismus. (Vgl.S.149) Wir kennen alle den Blinddarm als ein Relikt aus früheren Zeiten, der allerdings keine Funktion mehr hat. Besser paßt hier vielleicht das menschliche Ohr, das sich aus den Kiemen von Fischen herausgebildet hat, weil hier frühere Organe umgewandelt und einer neuen Funktion zugeführt wurden. Antonio Damasio beschreibt die verschiedenen Schichten des Gehirns, die ja ebenfalls nicht einfach räumliche, sondern auch zeitliche Schichten sind, in denen die älteren Gehirnstrukturen weiter unten liegen und die jüngeren sich immer weiter darüber gelagert haben. Dabei haben die verschiedenen Gehirnstrukturen, die wir zum Teil mit den Tieren gemeinsam haben, im menschlichen Organismus neue Funktionen übernommen.

Genauso ist es auch mit den verschiedenen Komponenten der sozio-kognitiven Infrastruktur des Menschen (S.120), zu denen insbesondere die Kommunikationsmotive (S.95-99) des Aufforderns, des Helfens (Informieren) und des Teilens gehören mit ihrer zugrundeliegenden sozio-motivationalen Infrastruktur aus gemeinsamer Absicht (Rekursivität/Relevanzschlußfolgerungen), gemeinsamer Aufmerksamkeit, prosozialen Motiven, geteilten Erwartungen, und sprachlichen Konventionen. Mit Schimpansen haben wir vor allem das Kommunikationsmotiv des Aufforderns und das damit verbundene Inventar an Gesten und Gebärden gemeinsam. Beim Menschen hat aber das Auffordern über die Erfüllung individueller Bedürfnisse hinaus einen sozialen Sinn, den Schimpansen nicht verstehen können. Das liegt nicht etwa in ihrer beschränkten Kognition, die wiederum einfach durch das primitivere Schimpansengehirn erklärbar wäre. So können bei Menschen aufgewachsene Schimpansen sehr wohl zwischen ihren Artgenossen, die keine prosozialen Motive wie z.B. zu helfen an den Tag legen, und den Menschen, die solche prosozialen Motive zeigen, unterscheiden. Entsprechend richten sie Aufforderungen signifikant häufiger an vermutlich kooperationswilligere Menschen als an ihre Artgenossen. (Vgl. 49, 105, 115) Entsprechende soziale Kontexte und eine etwas größere Bereitschaft zum Teilen vorausgesetzt, so Tomasello, und irgendein „früher Homo“ fing direkt nach dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse unabhängig von der Gehirnentwicklung an zu kommunizieren.

Diese recht vereinfachte Darstellung muß aber nun noch um die beiden Aspekte der „Rekursivität“ (S.100, 106ff.u.ö.) und der „Relevanzschlußfolgerungen“ (S.65u.ö.) ergänzt werden. Rekursivität und Relevanzschlußfolgerungen hängen eng mit den Kommunikationsmotiven des Helfens (Informieren) und Teilens zusammen. Zu ihnen gehört der schon erwähnte soziale Kontext: nicht nur, daß ich bereit bin, zu helfen und zu teilen, ist wichtig, sondern ganz genauso wichtig ist, daß mein Kommunikationspartner weiß, daß ich ihm helfen und mit ihm teilen will. Nur dann kommt eine echte Kommunikation zustande. Wüßte mein potentieller Kommunikationspartner nicht um meine kommunikative Absicht, er würde meine freundlichsten Kontaktversuche nur als unverständliches Kauderwelsch oder als sinnloses Handeln wahrnehmen.

Menschen gehen natürlicherweise davon aus, daß jemand, der mit ihnen Kontakt aufzunehmen versucht, etwas für sie Relevantes beabsichtigt. Ein Schimpanse käme nie auf die Idee, daß ein anderer Schimpanse etwas für ihn Relevantes mitzuteilen beabsichtigt. Sie gehen immer nur davon aus, daß es nur für den anderen Schimpansen relevant ist, wenn er Kontakt mit ihnen sucht, nicht aber, daß es für sie selbst bzw. für beide gemeinsam relevant sein könnte. Und Menschen gehen nicht nur wechselseitig genau davon aus, sie wollen eben auch, daß der jeweils andere weiß, daß man selbst will, daß der andere weiß, daß es etwas für ihn Relevantes zu erfahren oder zu tun gibt. Diese neue, zusätzliche intentionale Schicht, die erst den gemeinsamen Kommunikationsraum eröffnet, in dessen Rahmen Hilfeleistungen und Informationen ausgetauscht werden können, nennt Tomasello „Rekursivität“. Diese Rekursivität ist prinzipiell unbegrenzt, insofern man will, daß der andere weiß, daß man selbst weiß, daß der andere weiß usw. usw. In der Alltagskommunikation beschränken wir uns allerdings aus pragmatischen Gründen auf die eine zusätzliche intentionale Schicht, in der wir wollen, daß der andere nicht nur weiß, daß wir ihm etwas Relevantes mitzuteilen haben, sondern auch, daß er weiß, daß wir das wollen.

Stände uns diese zusätzliche intentionale Schicht nicht zur Verfügung, würden die einfachsten Verabredungen nicht mehr funktionieren. Nur im gleichzeitigen Wissen um die Bereitschaft des anderen, mit uns zu kooperieren, und im Wissen darüber, was wir gemeinsam wissen (gemeinsamer Hintergrund (S.87, 140ff.u.ö.)), können wir berechenbar und koordiniert handeln, ohne ständig im direkten Sichtkontakt mit unserem Partner stehen zu müssen, denn wir können darauf vertrauen, daß er unsere eigenen Überlegungen und Ziele in seine Handlungen mit einbezieht und berücksichtigt. Das ist auch der Grund, warum Tomasello das „kooperative Schlußfolgern“ (S.117ff., 143ff.u.ö.) für ursprünglicher hält als asoziale Verhaltensweisen wie das Lügen. Denn auch die Lüge funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß der Belogene an die gemeinsame Relevanz der falschen Informationen glaubt und entsprechende rekursive Schlußfolgerungen daraus zieht: „... sogar das Lügen erfordert Zusammenarbeit, um die täuschende Botschaft zu übermitteln, und ein Gefühl von Vertrauen seitens des Empfängers (andernfalls würde die Lüge niemals funktionieren), und deshalb sehen wir sogar hier die kooperative Infrastruktur.“ (S.205)

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