„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 16. Mai 2010

Neurophysiologie: Abschließendes zu Metzinger

Was Metzinger dem Leser seines „Ego-Tunnels" vor allem schuldig bleibt, sind saubere Definitionen. Zur Erinnerung: das „bewusste Erleben" ist eine „Simulation und bringt das Subjekt des Erlebens niemals in direkten Kontakt mit der Wirklichkeit." (Vgl. „Ego-Tunnel", S.95) – Das ist so einer der im Buch verteilten Statements, die einen so unbefriedigt lassen, weil keine der darin enthaltenen Begrifflichkeiten definiert ist. Was ist „Simulation" (oder „Illusion", oder „virtuelle Realität")? In welchem Verhältnis steht sie zur „Wirklichkeit" (zur „Wahrnehmung", zum „Körperbezug", zur „Außenwelt")? Hätte Metzinger präzise Begriffe, dann müßte er sich begrifflich nicht so schwammig ausdrücken, wenn es z.B. darum geht, die durch unsere Sinneswahrnehmungen veranlaßten ‚Simulationen‘ unseres Wachbewußtseins von den intern veranlaßten Simulationen unseres Traumbewußtseins zu unterscheiden: das „virtuelle Selbst" des Traumbewußtseins ‚definiert‘ Metzinger lediglich als „in einem noch stärkeren Sinne" „ausschließlich internes Phänomen" als das virtuelle Selbst unseres Wachbewußtseins. (Vgl. „Ego-Tunnel", S.197)

Diese vage Definition von Traum- und Wachbewußtsein erhöht die (nicht nur) begriffliche Verwirrung: Das virtuelle Selbst ist also ein „ausschließlich internes Phänomen"? Es gibt also keinerlei Beeinflussung durch äußere Phänomene, z.B. über die Sinneswahrnehmung? Wie kann es dann ein zweites virtuelles Selbst geben, das „in einem noch stärkeren Sinne" „ausschließlich intern" simuliert ist? Gibt es denn graduelle Unterschiede in der Ausschließlichkeit der Simulation? Ist also das eine virtuelle Selbst, das des Wachbewußtseins, etwas weniger ausschließlich intern? Ist es letztlich doch, zumindestens ein bißchen, von außen beeinflußt?

Ins geradezu Absurde steigert sich das begriffliche Defizit des Philosophieprofessors, wenn er „auf der Ebene des bewussten Erlebens" das Leiden zum Thema macht. (Vgl. „Ego-Tunnel", S.270ff.) Es ist nachvollziehbar, daß es so etwas wie simuliertes Leiden gibt, – z.B. bei Hypochondern. Aber es ist unerträglich, das Leiden selbst als bloße Simulation zu imaginieren. Selbst auf der Ebene des Schmerzempfindens gesteht Metzinger den Betroffenen zu, daß der „sinnliche Aspekt" des Schmerzes „genau das ist, was wir mit keinem anderen Menschen teilen können: Wir können die schneidende, pulsierende oder brennende sinnliche Qualität des Schmerzerlebens nicht teilen ..." (Vgl. „Ego-Tunnel", S.240) – Das ist eine bemerkenswerte Aussage, wenn man Metzingers andere Aussage daneben hält, daß das bewußte Erleben nur eine Simulation sei. Sicherlich kann man daran festhalten, daß auch der Schmerz nur eine Simulation unseres Gehirns ist und wir uns vom Schmerzempfinden befreien können, wenn wir die betreffende Gehirnregion operativ entfernen. Aber wir können so ziemlich alles in unserem Körper lahmlegen, wenn wir nur genügend Gehirnregionen operativ entfernen und dabei auch das verlängerte Rückenmark nicht vergessen. Macht das deshalb die Atmung oder den Pulsschlag zu einer bloßen Illusion?

Oder das Leiden? Wenn wir leiden, simulieren wir nicht. Im Gegenteil: alle unsere Simulationen lösen sich dort auf, wo das Leiden beginnt.

Irgendwie hängen alle Aussagen im „Ego-Tunnel" von der einen, immer wieder wiederholten Behauptung Metzingers ab, daß das Selbstbewußtsein keinen direkten Körperbezug habe. Daraus ergibt sich rein logisch, daß es keinen direkten Bezug zur äußeren Realität haben kann. Dann aber kann es – wiederum logischerweise – auch keinen direkten Bezug zu irgendeinem anderen Selbstbewußtsein als sich selbst haben, also zur Welt seiner Mitmenschen. Denn auch dieser Bezug müßte über die Sinneswahrnehmung und damit über einen direkten Bezug des Selbstbewußtseins zum Körper vermittelt sein. Dennoch erhebt Metzinger die Kommunikation unter großen Gruppen, insbesondere die Kommunikation „in wissenschaftlichen Gemeinschaften", zur einzigen, wahrheitsstiftenden Realitätsebene. (Vgl. „Ego-Tunnel", S.25, 243, 293, 302) Ohne Sinneswahrnehmungen sind aber gerade deren „empirische Daten" (S.25), auf die Metzinger so großen Wert legt, eben nichts mehr Wert.

Nun ist es aber besonders erschütternd, wenn wir im Fortgang der Lektüre feststellen müssen, daß Metzinger, nachdem er sich so große Mühe gegeben hat, das Selbst des Menschen zu virtualisieren und ihm jeden Körperbezug zu verweigern, mit ebenso großem Eifer künftigen Robotergenerationen eben diese Vorzüge zugesteht: künftige Roboter sollen „einen echten Begriff von sich selbst als einem Subjekt des Wissens und Erlebens besitzen" (Vgl. „Ego-Tunnel", S.271), und sie sollen sogar so etwas wie einen direkten Körperbezug haben. Denn wie soll man es anders verstehen, wenn Metzinger schreibt, daß künftige Robotergenerationen „bewusst fühlende Selbste" haben könnten, die „jeden Verlust der homöostatischen Kontrolle als schmerzhaft erleben" würden, ein Kontrollverlust, der „eine tiefe Form der Betroffenheit" beinhaltet, „von der sie sich kaum distanzieren könnten." (Vgl. „Ego-Tunnel", S.274) Das den künftigen Robotergenerationen zur Verfügung stehende Leidenspotential imaginiert Metzinger dabei in einer „Intensität, die wir, ihre fahrlässigen Schöpfer, uns noch nicht einmal vorstellen könnten" (ebenda). Ich frage mich: kann man sich einen direkteren (bzw. ‚intensiveren‘) Bezug zum eigenen Körper vorstellen? Und ist das bewußte Erleben, das dieser „Sorge über ihre eigene Existenz" (ebenda) zugrundeliegt, nicht so ‚echt‘ und so ‚authentisch‘, wie es nur sein kann? – Und all das gesteht Metzinger Robotern zu, – nur nicht dem Menschen!

Es hat etwas Entwaffnendes, wenn Metzinger zum Schluß die zentrale, seinem „Ego-Tunnel" zugrundeliegende These, daß wir kein Selbst haben, wieder zurücknimmt und das Gegenteil behauptet. Zunächst gesteht er ein, daß man vom Selbst auch anders reden kann, als er es bislang getan hat: nämlich nicht im Sinne einer substantiellen, unteilbaren Entität, sondern als von einem „weitverteilte(n) Vorgang im Gehirn" (vgl. „Ego-Tunnel", S.290). Allerdings wendet Metzinger gegen diese Definition des Selbst ein, daß wir mit ihr „unsere eigene Phänomenologie ... nicht wirklich ernst nehmen" (ebenda), sprich, daß wir alle unser Selbst anders erleben! Wieder einmal soll also das „dümmste Argument" gelten, daß uns etwas „auf eine ganz bestimmte Weise erscheint"? (Vgl. „Ego-Tunnel", S.192)

Was soll's! Denn endlich sagt Metzinger tatsächlich etwas wirklich Kluges: „Zusammenfassend kann man sagen, dass sowohl auf der Beschreibungsebene der Phänomenologie als auch auf jener der Neurobiologie das bewusste Selbst weder eine Form von Wissen noch eine Illusion ist. Es ist einfach das, was es ist." (vgl. „Ego-Tunnel", S.292) – Das ist ein wunderbares Schlußwort! Damit möchte ich hier gerne endlich den „Ego-Tunnel" zuklappen und zur Seite legen, – allerdings nicht ohne die letzten beiden Kapitel zu den „Bewusstseinstechnologien" und zu einer „neuen Art der Ethik" ausdrücklich zu empfehlen (S.289-338): Hier werden spannende Ausblicke auf gesellschaftliche Veränderungen eröffnet, und die Fragen, die Metzinger stellt, sind hochbrisant!

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