„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 9. Mai 2010

Neurophysiologie: Von Nährflüssigkeiten, Flugsimulatoren und Traummaschinen (Fortsetzung)

In meiner Lektüre des zweiten Teils von Metzingers „Ego-Tunnel“ glaube ich nun so weit vorangeschritten zu sein, daß ich wieder einiges dazu sagen kann. In meine bisherige Verwirrung hinsichtlich der zahlreichen logischen und inhaltlichen Widersprüche, mit denen Metzinger so sorglos arbeitet, kommt langsam etwas Klarheit. Metzinger liefert eine Fülle von hochinteressanten neurophysiologischen Daten, die nicht nur das Gehirn betreffen, sondern auch den übrigen Organismus, den „physischen Körper“, zu dem wir Metzinger zufolge keinen „direkten Kontakt“ haben. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.167)

Das Hauptziel von Metzinger liegt in der Darstellung des Gehirns als eines besonders leistungsfähigen Erzeugers virtueller Realität. Als Analogie für diese Fähigkeit wählt Metzinger den „Flugsimulator“ (S.158ff.). Metzinger zufolge gibt es nur graduelle, keine prinzipiellen Unterschiede zwischen den Gehirnfunktionen und einem Flugsimulator, d.h. das Gehirn ist auch den modernsten Simulationstechniken in seiner Rechengeschwindigkeit überlegen, die in „Echtzeit“ (vgl. „Ego-Tunnel“, S.164 (hier stellt sich sofort die Frage: ‚echt‘ in bezug auf was?)) stattfindet, seine Berechnungen sind zuverlässiger, und es hat „eine viel höhere Auflösung“. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.160) Prinzipielle Aspekte einer Differenz von Simulation und Realität werden hier nicht genannt: die Simulationsqualitäten der Gehirnfunktionen sind „total“. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.160) Zwar schreibt Metzinger, daß es „einen kontinuierlichen Strom von Input“ gibt, „der durch die Sinnesorgane geliefert wird“ (vgl. „Ego-Tunnel“, S.159); an dieser Stelle kommt er der Vorstellung einer „Wahrnehmungsschleife“ recht nahe. Aber weder beschreibt Metzinger an irgendeiner Stelle der vorangegangenen 160 Seiten, wie dieser Input zustande kommt (dazu müßte er die Wahrnehmung zum Thema machen; stattdessen verwendet er aber den Begriff der „Transparenz“, die ausschließlich als gehirninduziert dargestellt wird), noch hat dieses Zugeständnis an einen „Input“ der Sinnesorgane irgendeine Auswirkung auf Metzingers Darstellung des Gehirns als „Flugsimulator“, anhand dessen er die neurophysiologische Datenlage interpretiert.

Zwei Aspekte einer Differenz von Realität und Simulation werden von Metzinger an keiner Stelle diskutiert; auch dort nicht, wo er sich explizit positiv auf Neurophysiologen wie Antonio Damasio bezieht, der prononciert gegenteilige Vorstellungen über die organischen und neurophysiologischen Funktionen des Körpers vertritt. D.h. er übernimmt seine Forschungsergebnisse, geht aber nicht auf seine Interpretation dieser Daten ein.

Bei den genannten zwei Aspekten handelt es sich um die Wahrnehmungsschleifen von Chris Frith und um die Körperschleifen von Antonio Damasio. Bei den Wahrnehmungsschleifen geht es um die Differenz zwischen bloß phantasierten Weltmodellen des Gehirns und den in der „Wahrnehmungsschleife" stattfindenden Abgleich zwischen den realitätsbezogenen Weltmodellen des Gehirns mit den Sinneswahrnehmungen. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft" (2010), S.168). Es gibt eine meßbare Bevorzugung der Sinneswahrnehmungen durch das Gehirn, also eine beobachtbare „Wertschätzung" der äußeren Realität gegenüber reinen Phantasieprodukten, die in den Fehlerrückmeldungen der Wahrnehmungsschleife begründet ist. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft", (2010), S.182f.) Die eigenen ‚total‘ berechenbaren, sprich ‚fehlerlosen‘ Konstrukte können hinsichtlich ihrer Attraktivität mit der stets unerwarteten, unberechenbaren Realität nicht mithalten. Und es gibt keinen sowohl logisch nachvollziehbaren als auch unsere ‚Vorurteile‘ betreffenden (in dem Sinne, daß wir uns über unsere eigene Realitätsuntauglichkeit aufklären müßten) Grund, warum wir von den virtuellen Fähigkeiten des Gehirns her auf die prinzipielle Unzugänglichkeit zu unserem Körper bzw. zur äußeren Realität schließen müßten. Das macht weder einen wissenschaftlichen noch einen lebensweltlichen Sinn.

Bei dem anderen Aspekt handelt es sich um die von Damasio beschriebenen „Körperschleifen“. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.337ff.) Hier beschreibt Damasio den Gesamtorganismus einschließlich das Gehirn als eine Homöodynamik. Jede Wahrnehmung, jede Bewußtseinsleistung führt zur Veränderung innerer organischer Zustände, die in einem beständigen relativen Gleichgewicht zu den Zuständen in der äußeren Umwelt des Organismus gehalten werden. Ein wichtiger Bestandteil dieser Homöodynamik ist die Somatomotorik, d.h. der Zustand der Muskeln, der unmittelbar mit Emotionen verbunden ist, die wiederum vom Gehirn in Form von Gefühlen (Damasio unterscheidet zwischen Emotionen und Gefühlen) zur Kenntnis genommen werden. D.h. Gefühle sind als eine Form der Selbstbeobachtung des Gehirns zu verstehen, das sich beständig über die homöodynamischen Zustände ‚seines‘ Organismus (von dem es ein Teil ist) auf dem Laufenden zu halten versucht.

Die Aktivitäten der Muskeln, die Somatomotorik, ist dabei so wichtig, daß Damasio bezweifelt, daß wir ohne Muskelaktivität überhaupt Gefühle hätten. Das betrifft den ganzen Organismus, aber in einem vielleicht noch wichtigeren Sinne betrifft es unsere Gesichtsmuskeln. So sollen z.B. Frauen, die ihr Gesicht mit einem Nervengas behandeln lassen, um die Falten zu glätten, mit der damit einhergehenden Lähmung der Gesichtsmuskeln auch einen Verlust an Empathiefähigkeit erleiden. Damasio berichtet von Selbsterfahrungen von Patienten, die am ganzen Körper gelähmt gewesen waren und nur noch die Bewegungen der Augen und der Augenlider kontrollieren konnten. Diese Patienten hatten – obwohl im eigenen Körper ‚gefangen‘ – keinerlei Angstzustände. Sie befanden sich vielmehr in einem ausgeglichenen, teilnahmslosen inneren Zustand: ohne Kontrolle über unsere Muskeln also keine Emotionen und deshalb auch keine Gefühle.

Anhand dieser Erfahrungen bezweifelt Damasio, daß ein Gehirn in einer Nährlösung in der Lage wäre, „die Vielfalt von Körperzuständen zu simulieren, die entsteht, wenn solche Zustände von einem Gehirn ausgelöst werden, das mit Wertungen befaßt ist“, sprich: von einem Gehirn, das Gefühle hat. (Vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.304) Oder was den von Metzinger beschriebenen „Flugsimulator“ betrifft: „Das ‚Aussehen‘ von Emotionen kann simuliert werden, doch wie sich Gefühle anfühlen, lässt sich nicht in Silizium nachbilden. Gefühle lassen sich nicht simulieren, solange man Fleisch nicht simulieren kann, solange man nicht die Wirkung des Gehirns auf lebendiges Fleisch simulieren kann, solange man nicht simulieren kann, wie das Gehirn das Fleisch spürt, nachdem das Gehirn auf das Fleisch eingewirkt hat.“ (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.377) – Daß sich nur das „Aussehen“ von „Emotionen“ simulieren läßt (d.h. die aus der Dritte-Person-Perspektive beobachtbaren Emotionen, während Damasio die „Gefühle“ als Erste-Person-Beobachtungen der eigenen Emotionen beschreibt), bezieht sich z.B. auch auf die Aussage des im Interview befragten Traumforschers Allan Hobson, daß die „Aktivierung von Wahrnehmungs- und Emotionsmodulen“ in einer „Traummaschine“ kein technisches Problem aufwerfe. (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.224)

Cyborgs wären also möglich, – bis zu einer Minimalgrenze, die darin besteht, daß es nichts bringt, lediglich das menschliche Gehirn in eine Maschine zu ‚verpflanzen‘, denn dort fehlte ihm das Feedback der Muskeln. Wenigstens ein menschliches Gesicht müßte es haben, d.h. als lebendiges Organ, um Gefühle in den maschinellen ‚Körper‘ hinein zu projizieren. Ein Gefühlschip, wie der von Data bei Enterprise, würde definitiv nicht genügen!

Nachtrag (17.05.10):
Es gibt mindestens zwei Möglichkeiten, die neurophysiologischen Daten zu interpretieren. Metzingers Interpretation gipfelt in der Feststellung: „Natürlich ist es nicht das Selbst, das das Gehirn benutzt ... – das Gehirn benutzt das Selbstmodell.“ (Vgl. „Ego-Tunnel“, S.272) Das, was wir als Willensfreiheit erleben „ist immer nur auf ein sehr enges Fenster prämotorischer Aktivität begrenzt, auf lediglich einen Zwischenschritt in einem wesentlich längeren Vorgang“ (vgl. „Ego-Tunnel“, S.184), der „Präkonstruktion“ (vgl. „Ego-Tunnel", S.183f.), d.h. jener Prozesse in unserem Organismus, die die scheinbar freie Willensentscheidung anbahnen. Metzinger zufolge sind wir uns nur dieses „engen Fensters“ bewußt und halten die darin auftauchenden Phänomene und infolgedessen auch unsere Entscheidungen für spontan, für ‚frei‘. Sogar das ‚Veto‘, also die Freiheit, vorgebahnte (unbewußte) Entscheidungen zu widerrufen, wird in unserem Bewußtsein entzogenen Prozessen angebahnt. ((Vgl. „Ego-Tunnel“, S.185)

Das ist also Metzingers Version möglicher Schlußfolgerungen aus den neurophysiologischen Daten. Ganz anders Damasio: Bei ihm bildet die erste Stufe oberhalb der Bewußtseinsschwelle das „Kernselbst“, und er beschreibt es als die „ungeschminkte Evidenz, das unmittelbare Empfinden unseres individuellen Organismus im Akt des Erkennens.“ (Vgl. Damasio, „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.154) Ähnlich wie das „sehr enge Fenster“ erstreckt es sich über einen sehr kurzen Zeitraum von maximal drei Sekunden. Damasio beschreibt es deshalb als pulsierend, von Augenblick zu Augenblick, von Wahrnehmung zu Wahrnehmung und von Vorstellung zu Vorstellung. Das Kernselbst lebt mit den Gegenständen, auf die sich unsere Aufmerksamkeit richtet. Zugleich ist das Kernbewußtsein die „Nabelschnur“ (vgl. Damasio, „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.154), die das erweiterte Bewußtsein mit den unbewußten Lebensprozessen des Körpers verbindet, deren „gemeinsames Wesen ... der Körper (ist)“. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.341) Das Selbstbewußtsein ist also ein emergentes organisches Produkt der Lebensfunktionen eines mit seinem Körper wechselwirkenden Gehirns. Alles andere macht auch weder einen wissenschaftlichen noch einen lebensweltlichen Sinn. Denn ohne Selbstbewußtsein würden keine Bücher geschrieben, nicht einmal das von Metzinger.

Nach Damasios Interpretation werden wir also als selbstbewußte Lebewesen pulsierend und atmend von unseren organischen Lebensfunktionen getragen, anstatt sie nur als ängstliche kleine Voyeure durch ein winziges Guckloch zu belauern. Was mich betrifft: Ich finde, Damasio hat einfach die schöneren Argumente auf seiner Seite. Und Schönheit ist zumindestens ein Indiz auf der Waage der Wahrheit. Außerdem widerspricht er sich nicht so oft. Auf dieser Grundlage kann man dann durchaus auch über die von der Neurophysiologie beschriebenen verblüffenden Leistungen des Gehirns hinsichtlich der Selbsterfahrung und der Wirklichkeitserzeugung staunen und reden.

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