„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. Mai 2010

Neurophysiologie: Was ist Realität? (Fortsetzung)

Der uneingeschränkte Reduktionismus vieler Neurophysiologen führt zu entsprechend starken Aussagen, wie z.B. daß der ‚Körper‘ (und das Gehirn ist ja immerhin unbestreitbar ein Teil dieses Körpers) nur eine Illusion des Gehirns sei. Damit einher geht die nicht minder starke Aussage, der Realitätsbezug sei nur simuliert, mithin also auch die Realität eine Illusion. In Metzingers Fall wird dabei die Existenz einer Außenwelt keineswegs geleugnet. Nur das, was wir von ihr wahrnehmen, ist eine Illusion. Doch da unser Bild von der Realität illusionär ist, ist es auch die Realität selbst, denn letztlich ist diese auch in der Philosophiegeschichte nie etwas anderes gewesen als unsere Wahrnehmung von ihr. Denn die Wahrnehmung ist der Ursprung der ‚Empirie‘, – nicht mehr und nicht weniger.

Immer wieder spielen die betreffenden Neurophysiologen gerne mit der Vorstellung, das nackte Gehirn schwimme in einer Nährlösung und erträume sich dort einen Körper und die ganze Außenwelt (vgl. Metzinger 5/2009, S.40). Antonio Damasio spricht in diesem Zusammenhang von einer „bemerkenswerten Abwesenheit eines Organismusbegriffs in der Kognitions- und Neurowissenschaft“. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.55) Er selbst spricht nicht von einem bloß simulierten Körper- und damit Realitätsbezug, sondern er beschreibt den Organismus als einen „neuronalen Raum“, der „Körper und Gehirn in Wechselwirkung“ umfaßt. (Vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.166)

Damit wird der Körper den Gehirnfunktionen nicht irgendwie schattenhaft und unwirklich gegenübergestellt, sondern er ist ein wesentlicher und unverzichtbarer Teil davon. Das ‚Innere‘ des Menschen wird nicht mehr als Fluchtpunkt rätselhafter zentralnervöser Mechanismen imaginiert, sondern die „Haut“ kommt wieder zu ihrem angestammten, evolutionären Recht, nämlich als Grenzfläche zwischen Innen- und Außenwelt zu fungieren. (Vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.127 und „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.167f.) Denn so sehr die erwähnten Neurophysiologen auch von ihren seltsamen Nährlösungen besessen sein mögen: sie können nicht bestreiten, daß die Organismusthese von Damasio den klaren Vorzug hat, erklären zu können, wie das Gehirn entstanden ist, nämlich in einem evolutionären Prozeß, „von den einfachsten bis zu den komplexesten Formen“, in dem die bevorzugten Forschungsobjekte der Neurophysiologen damit betraut waren, ihren Körper (Damasio spricht hier vom „Primat des Körpers“) am Leben zu erhalten. (Vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.305) Ein entsprechendes Primat läßt sich für die erwähnte Nährlösung in keiner Weise begründen.

Mit diesem Primat für den Körper, dem sich auch das Gehirn und mit ihm die Neurophysiologen zu fügen haben, ergibt sich nun in der Tat ein hartes, keineswegs illusorisches Realitätsprinzip: das Handeln, also das Einwirken auf die Wirklichkeit, die wiederum alles beinhaltet, was unser Überleben gleichzeitig bedroht und ermöglicht.

Nun habe ich von den ‚starken‘ Aussagen der Neurophysiologen gesprochen. Damit meine ich, daß sie dazu neigen, ihre Aussagen nicht zu relativieren, und daß sie es versäumen, ihre Gültigkeit auf bestimmte Aspekte ihrer Forschung einzuschränken. Denn gegen die Formulierung, der Körperbezug sei nur eine Illusion, läßt sich leicht mit dem dringenden Bedürfnis des Gehirns nach Blut und Sauerstoff und – warum nicht? – nach so etwas wie einer ‚Nährlösung‘ argumentieren. Über die entsprechenden Notwendigkeiten sind wir uns alle sehr bewußt, und der Körper versäumt es nicht, uns auf einer Dringlichkeitsskala von ‚dezent‘ bis ‚verzweifelt‘ darauf hinzuweisen. Nur etwas anders formuliert wäre die hinter den neurophysiologischen Erkenntnissen stehende Einsicht aber unbestreitbar. So spricht Chris Frith z.B. nicht einfach vom ‚Körper‘, sondern von der „Welt unseres Körpers“, zu der „wir nicht in direkter Verbindung“ stehen. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft“, (2010), S.208) Diese Aussage ist unbestreitbar richtig (z.B. müßten wir schon ein Küchenmesser zu Hilfe nehmen, um einen unmittelbaren Einblick in die Beschaffenheit unserer inneren Organe zu bekommen, was wir allerdings nicht lange überleben würden), und sie enthält keineswegs, daß wir mit der Unzugänglichkeit der ‚Welt‘ des Körpers zugleich keinen Zugang zum Körper hätten. Die Wechselwirkung zwischen Gehirn und dem übrigen Körper umfaßt alle Lebensprozesse, das Bewußtsein eingeschlossen.

Friths „Welt des Körpers“ entspricht Damasios „Modell-des-Körpers-im-Gehirn“ (vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.36), das ebenfalls weitgehend unbewußt ist. Damasios Konzept des erweiterten Bewußtseins erstreckt sich über verschiedene Ebenen von den einfachen organischen, eben ‚unbewußten‘ Funktionen eines Proto-Selbst bis hin zur Ethik und zu Gewissensphänomenen. Übrigens zeigt dieses Beispiel, wie interpretationsbedürftig die angeblich so harte Faktenlage der Neurophysiologie ist. Dieselben Daten zugrundegelegt kommt der eine (Metzinger) zum Konzept eines Ego-Tunnels und der andere (Damasio) zum Konzept eines erweiterten Bewußtseins. Jedenfalls beschreibt auch Damasio, daß die allermeisten Lebensprozesse unserem Bewußtsein entzogen sind und diese Lebensprozesse dennoch unser Denken und Wollen beeinflussen. Dennoch erweitert das Bewußtsein den Horizont unseres Handelns und damit die Möglichkeiten, auf die Wirklichkeit im Dienste des Überlebens (und sonstiger Bedürfnisse) Einfluß zu nehmen. Wo die einen also das Bewußtsein aus derselben Datenlage für null und nichtig erklären (gesteuert und determiniert durch das Gehirn), erhält es bei Damasio die Würde einer äußersten (und deshalb auch besonders verletzlichen) Anstrengung des Organismus, sich in der Welt, in der es sich entwickelt hat, zu behaupten.

Chris Frith jedenfalls gelingt es durch seine Formulierung von der dem Bewußtsein unzugänglichen „Welt des Körpers“, trotzdem den Körper selbst in seine Interpretationen der neurophysiologischen Forschungsergebnisse einzubeziehen, nämlich über die Thematisierung der sinnlichen Prozesse der Wahrnehmung und des Handelns (die Husserl übrigens als „Kinästhetik“ bezeichnet hat – denn die Philosophen, jedenfalls die, die wirklich gut sind, können durch bloße Versenkung (Meditation) durchaus zu gelegentlich naturwissenschaftlich belegbaren Einsichten gelangen). Der für mich interessanteste Aspekt dieser Interpretationen betrifft die von Frith beschriebenen Wahrnehmungsschleifen. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft“, (2010), S.168) Diese Wahrnehmungsschleifen erinnern wiederum an Damasios „Körperschleifen“. (Vgl. „Ich fühle, also bin ich“ (8/2009), S.337ff.) Die Wahrnehmungsschleifen beschreibt Frith ganz ähnlich wie Damasio mit den Körperschleifen als ständigen Wechselbezug zwischen dem Gehirn und dem übrigen Körper. Bei den Wahrnehmungsschleifen registriert das Gehirn die ständig eingehenden somatosensorischen Signale (bei Damasio ist das Gehirn das „faszinierte“ Publikum bzw. Auditorium, das den inneren Körperprozessen lauscht (vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.16 u.ö.). Die Wahrnehmungsschleife besteht dabei aus „A-priori-Auffassungen“ über die Welt, mit deren Hilfe das Gehirn Vorhersagen darüber macht, was da draußen vor sich geht, die dann mit den tatsächlich eingehenden Sinnessignalen abgeglichen und nötigenfalls korrigiert werden.

Wichtig ist daran vor allem, daß sich das Gehirn durch die Wahrnehmung in seinen ‚Vorhersagen‘ (also in seinen Konstrukten) von den Sinnessignalen korrigieren läßt. Es selbst – womit gemeint ist: der nicht bewußte Teil der Gehirnfunktionen – nimmt also offensichtlich den körperbasierten Realitätsbezug sehr ernst. Und Frith kann sogar zeigen, daß unser Gehirn die Realität nicht nur sehr ernst nimmt, sondern sie auch seinen eigenen, von jeglicher Realität unbelasteten Konstrukten eindeutig vorzieht: die Realität ist ihm lieber (jedenfalls reagiert es intensiver auf sie) als seine Phantasieprodukte! (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft“, (2010), S.182f., 189) Phantasieprodukte sind nämlich vorhersehbar und deshalb langweilig (man denke nur an das bedauernswerte Gehirn, das sich in seiner Nährlösung vor sich hin langweilt). Wir brauchen die Außenwelt und die Sinne als Brücke zu ihr, um in dieser Außenwelt unsere inneren Konstrukte der Bewährung (der Fehlerkorrektur) auszusetzen. Erst „dieses ständige Unerwartete (macht) das Wechselspiel mit der realen Welt so faszinierend“. (Vgl. „Wie unser Gehirn die Welt erschafft“, (2010), S.182f.)

Wenn in allen diesen neurophysiologischen Büchern der Körper und die Realität als simulierte Illusion beschrieben werden, so beinhaltet das immer auch eine Verengung der Phänomene auf die sie analysierenden Begriffe, mit denen der Alltag, in dem wir leben, nur wenig zu tun hat. ‚Realität‘ wird dann mit einer Aura falsch verstandener Unmittelbarkeit ausgestattet, von der unsere Wahrnehmung getrennt wird: hier die Realität und dort die Wahrnehmung; und der ‚Körper‘ wird seiner organischen Ganzheitlichkeit entkleidet und in das Gehirn und den Rest zerlegt, der dann als Körper natürlich recht armselig daherkommt. Es gibt aber gar keinen Grund, die Realität von der Wahrnehmung zu trennen, um dann die Wahrnehmung der Realität selbst, auf die sie untrennbar bezogen ist, als bloße Simulation abzutun. Vielmehr ist die Realität unsere Wahrnehmung von ihr, und diese Wahrnehmung ist selbstverständlich nicht beliebig, sondern, wie Frith es anhand der Wahrnehmungsschleife beschreibt, aufgrund unserer Bewegung und unseres Handelns ständig der Korrektur durch die Realität unterworfen (Kinästhetik). Diese Verbindung von Realität und Wahrnehmung als einer Einheit und dann wiederum die Realität als korrektives Korrelat der Wahrnehmung ist nur dann widersprüchlich, wenn wir davon ausgehen, daß es die Welt jenseits unserer ‚Haut‘ (bzw. der bei Neurophysiologen so beliebten Blut-/Hirnschranke) nicht gibt.

Darauf, daß ich keine direkte Verbindung zur Welt meines Körpers habe, kann ich also gut verzichten, solange ich nur – in Abwandlung eines Wortes von Schopenhauer – meine Hand darauf legen kann, mit dem beruhigenden Gefühl einer unmittelbaren Berührung meiner selbst.

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