„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 5. Juni 2010

Wiesing: Individuelle Urteilskraft

Nach der quälenden Auseinandersetzung mit den pseudophilosophischen Widersprüchlichkeiten rund um die Neurophysiologie ist es die reine Freude, mal wieder einen echten philosophischen Text zu lesen! Was mich daran besonders interessiert, ist wieder die Frage, wie individuelle Urteilskraft bzw. schlichter: ‚gesunder Menschenverstand‘ möglich wird. Die schon in der Auseinandersetzung mit Metzinger von mir angesprochenen zwei Quellen der Gewißheit, die eigene Sinneswahrnehmung und Gruppendynamiken, korrespondieren mit den von Wiesing angesprochenen Mythen des Gegebenen und des Mittelbaren. Auch hier spitzt sich die Problematik auf die Frage zu: mit den eigenen Augen sehen oder durch die Augen anderer sehen? Eine Welt, die sich in Medien und virtuellen Welten widerspiegelt, ist eine Welt des Mittelbaren und alle Gewißheiten haben die Qualität von Simulationen. Das ist die Welt, die sich gleichermaßen in den Spiegelneuronen unseres zentralen Nervensystems und in den digitalen Schaltkreisen unserer elektronischen Medien verliert.

Daran ändert auch Metzingers ständiges ostentatives Festhalten am ‚Dennoch‘ der Selbstverständlichkeit einer unabhängigen Außenwelt nichts. Denn Metzinger verstrickt sich hier im Widerspruch einer Virtualisierung und damit Verunmöglichung des ‚Zugangs‘ zu dieser Außenwelt und der gleichzeitigen Eröffnung dieses Zugangs über die Wissenschaftlergemeinschaft: also zwar kein direkter Zugang zum eigenen Körper, dafür aber ein (indirekter) Zugang zur Außenwelt über die Wissenschaftlergemeinschaft. Wiesing verweigert sich dieser aus der Räumlichkeitsmetapher des Zugangs sich ergebenden Aporie und setzt die Wahrnehmung aus intuitiv gewonnenen Gewißheiten als eine Teil-Ganzes-Relation aus Wahrnehmungssubjekt und Wahrnehmungsgegenstand an deren Stelle. Das ermöglicht eine Differenzierung der verschiedenen phänomenalen Zustände von Erlebnissubjekten, unter denen durch eidetische Variation die Spezifität des Wahrnehmungssubjekts herausgearbeitet werden kann. Dieses Wahrnehmungssubjekt kann nun zweierlei nicht: sich selbst täuschen und simulieren.

Jede Selbsttäuschung und jede Simulation entpuppt sich als eine Verwechslung der Erlebnissubjekte: wo ich mich durch mich selbst getäuscht glaubte, habe ich lediglich die phänomenalen Zustände verwechselt und Phantasien oder Träume für Wahrnehmungen genommen. Wo ich einer optischen Illusion, wie z.B. den Lichtbrechungen an der Wasseroberfläche, unterlag, habe ich lediglich Gewißheiten mit physikalischem Wissen verwechselt.



Um vor allem letzteren Punkt noch einmal zu verdeutlichen, möchte ich das Beispiel aufgreifen, das Jean-Jacques Rousseau in seinem Erziehungsroman „Emíle" beschreibt. (Vgl. Emile, Stuttgart 1963, S.429-434) Der Erzieher Jean-Jacques geht mit seinem Zögling Emíle spazieren und stößt wie zufällig auf einen kleinen Teich mit künstlich regulierbarem Abfluß, in den der Erzieher kurz zuvor einen Stock gesteckt hatte. Dort fragt er Emíle, was er sieht, und Emíle antwortet, durch zahlreiche vorhergehende Unterrichtserfahrungen gewitzt: „Ich sehe einen gebrochenen Stab." – Der Erzieher Jean-Jacques lobt diese Antwort, denn sie ist völlig richtig. Hätte Emíle nämlich geantwortet, daß der Stab gebrochen ist, hätte er nicht einfach nur den Augenschein wiedergegeben, sondern über das, was er sieht, geurteilt. Mit Wiesing gesprochen: er hätte an die Stelle einer Gewißheit ein Wissen gesetzt, und dieses Wissen wäre nachweisbar falsch gewesen! Indem Emíle aber geantwortet hat, daß er einen gebrochen Stab sieht, hat er eine unwiderlegliche Gewißheit zum Ausdruck gebracht.

Das Interessante ist nun, wie Rousseau dieses Unterrichtsbeispiel fortführt. Es passiert nun etwas, was an Wiesings eidetische Variation erinnert, nur nicht als Gedankenexperiment, sondern als ein in der Realität stattfindendes physikalisches Experiment, das uns etwas über die Natur der optischen Sinneswahrnehmungen lehrt. Emíle soll jetzt nämlich durch selbst ausgedachte Experimente herausfinden, was tatsächlich der Fall ist; kurz: er soll sich nachprüfbares Wissen über den Stock im Teich erarbeiten. Einzige und wichtigste Voraussetzung ist dabei, daß er ausschließlich optische Sinneseindrücke zur Hilfe nehmen soll. Er soll den Stock z.B. nicht anfassen und so über den Tastsinn den Gesichtssinn widerlegen. Das hat Rousseau zufolge zwei Gründe: erstens soll es keine Konkurrenz der verschiedenen Sinneswahrnehmungen untereinander geben, so daß mir z.B. der Tastsinn, als realer bzw. als wahrer erscheint als der Gesichtssinn. Die verschiedenen Sinneseindrücke haben alle den gleichen Realitätsgehalt und keiner ist wichtiger oder wahrer als die anderen. Es gibt keinen Grund, dem Gesichtssinn zu mißtrauen!

Der zweite Grund erinnert nun, wie schon erwähnt, an Wiesings eidetische Variationen: um richtig über Sinneseindrücke zu urteilen – um also die richtigen Schlüsse aus unseren Gewißheiten zu ziehen –, bedarf es einer größtmöglichen Vereinfachung der Erfahrung. Zur wirklichen Evidenz gelangen wir nur durch die Prüfung jedes Sinnes durch sich selbst! Rousseau läßt Emíle also so vorgehen, wie es Wiesing in seinen eidetischen Variationen zur Wahrnehmung macht, nämlich die optische Wahrnehmung des Gegenstands, in diesem Fall dem Stock, auf verschiedene Weise zu manipulieren (variieren). Erst wenn wir den notwendigen Zusammenhang der verschiedenen Manipulationsversuche geprüft haben, können wir aus unseren Gewißheiten ein Wissen schlußfolgern. Würden wir neben dem Gesichtssinn noch unsere anderen Sinne hinzunehmen, käme es Rousseau zufolge zu einem „Mitempfinden" dieser Sinneswahrnehmungen, die ständig heimliche, uns unbewußte Schlußfolgerungen über den Zusammenhang der Sinneswahrnehmungen mit sich führen. Das heißt, wir hätten immer schon geschlußfolgert, ohne uns überhaupt des optischen Eindrucks hinsichtlich des scheinbar gebrochenen Stockes vergewissert zu haben. Es bedarf also einer Epoché, einer Einklammerung der anderen Sinneswahrnehmungen.

Unter der von seinem Erzieher gemachten Voraussetzung, nur den Gesichtssinn zu verwenden, macht Emíle also nun verschiedene Experimente: er geht um den Teich herum und sieht, wie die Knickstelle mit dem Ortswechsel ‚mitwandert‘. Er blickt senkrecht auf den Stock (es scheint sich also um einen sehr kleinen Teich zu handeln), und sieht wie die Knickstelle ‚verschwindet‘. Er schlägt Wellen und sieht wie die Knickstelle auf- und abschwappt. Er läßt am künstlichen Abfluß Wasser abfließen und sieht wie die Knickstelle nach unten ‚wandert‘. Alle diese Experimente beinhalten optische Gewißheiten und führen nun insgesamt zu einem Wissen über den Stock und die Natur der Lichtbrechung. Und keine dieser optischen Gewißheiten – darauf legt Rousseau großen Wert – ist eine Sinnestäuschung. Die Täuschung liegt in unseren Urteilen über die Sinneswahrnehmung, nicht aber in der Sinneswahrnehmung selbst. Denn wenn wir erst einmal angefangen haben, unseren Sinneswahrnehmungen zu mißtrauen oder auch nur einzelnen Sinneswahrnehmungen wie z.B. dem Tastsinn den Vorzug gegenüber den anderen Sinneswahrnehmungen zu geben, haben wir dem Verstand jede Grundlage entzogen und die individuelle Urteilskraft entscheidend geschwächt.

Diese Ähnlichkeiten hinsichtlich Wiesings eidetischen Variationen sind schon auffallend, gehen aber noch weiter. Ähnlich wie Wiesing hat Rousseau etwas gegen ‚Modelle‘ und ‚Apparate‘. So wendet er z.B. gegen die „Armillarsphäre", einem Modell des Sonnensystem aus Drähten und Pappe, ein, daß Emíle daraus nur Falsches lernen könne: „Die darauf markierte Wirrnis von Ringen und bizarren Figuren vermittelt einen magischen Eindruck, vor dem der kindliche Geist zurückschreckt. Die Erde wird zu klein, die Ringe werden zu groß dargestellt; einige, wie die Koluren, sind vollkommen überflüssig! Jeder Ring ist größer als die Erde; die Dicke des Kartons vermittelt den Eindruck einer Festigkeit, nach der man sie für wirklich existierende runde, starke Gebilde halten könnte. Und sagt ihr dem Kind, daß es sich dabei nur um imaginäre Ringe handelt, weiß es nicht mehr, was es sieht und versteht überhaupt nichts mehr." (Emíle, S.361)

Stattdessen soll Emíle auch hier nur durch Augenschein lernen. Der Erzieher Jean-Jacques macht mit Emíle frühmorgendliche Spaziergänge, um den Sonnenaufgang zu beobachten und gemeinsam darüber zu reden. Allein durch Beobachtung der Sonnenaufgänge und die gemeinsamen Gespräche, in denen der Erzieher nur als Moderator fungiert, d.h. Fragen stellt und die Antworten allein Emíle überläßt, erwirbt sich Emíle mehr und nachhaltigeres Wissen als durch die Betrachtung einer Armillarsphäre. Daß das tatsächlich funktioniert, bestätigen die Unterrichtserfahrungen des Physik- und Mathematikdidaktikers Martin Wagenschein, der mit seinen Schülern nachts unterwegs war, um den Mond zu beobachten. Auch hier erwarben sich die Kinder, ohne belehrende Beeinflussung durch Wagenschein, allein durch Beobachten und gemeinsame Gespräche physikalisches Wissen über den Mond, über die Erde und über die Sonne.

Wie sehr es hier immer wieder um die Möglichkeit individueller Urteilskraft, um den schlichten Menschenverstand geht, bringt Wiesing mit dem Auftrag der Philosophie auf den Punkt: „Die Philosophie scheint ... ein ständiger Kampf gegen die Verhexung des Verstandes durch Modelle zu sein." (Autopsie, S.29) Und: „Dieses Projekt [einer Philosophie ohne Modelle – DZ] wäre zumindest dann möglich, wenn in dieser Philosophie nicht mehr behauptet werden würde, als durch selbst erfahrenes phänomenales Wissen möglich ist." (Autopsie, S.75) Und schließlich: „... er [der Phänomenologe – DZ] enthält sich der Diskussionen, in denen prinzipiell anzweifelbare Urteile als sinnvoll, praktisch oder vernünftig verteidigt werden. Ein Phänomenologe drückt sich vor jedem Modell, vor jeder Induktion, vor jedem noch so plausiblen Schluß, einfach deshalb, weil er ihnen nur außerhalb von philosophischen Argumentationen einen Platz zubilligt. Dieses ‚sich drücken‘ nennt man ‚Epoché‘: die Enthaltung von Urteilen. ... Dies ist das Prinzip ... der Autopsie: Selbst sehen, um zu sehen, wie man selbst ist." (Autopsie, S.79f.)

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