„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 5. Juni 2010

Wiesing: Kritik

An drei Stellen hätte ich allerdings noch Kritik an Wiesings „Mich der Wahrnehmung“ nachzutragen. Eine erste hatte ich schon im ersten Post zu Wiesing aufgeführt, wo ich auf seine Verbindung von Identität und Entwicklung (vgl. Autopsie, S.188f., 193) zu sprechen kam. Daß sich das Wahrnehmungssubjekt selbst als identisch erleben muß, um von ihm unabhängige Wahrnehmungsgegenstände identifizieren zu können, leuchtet ohne weiteres ein. Daß mit der eigenen Identität ineins aber auch die eigene Veränderlichkeit gegeben sein müsse, leuchtet mir nicht ein, und als Gegenbeispiel habe ich das Bewußtsein von Kindern aufgeführt. Kinder entwickeln erst mit dem Eintritt in die Pubertät ein wirkliches Bewußtsein von der eigenen Veränderlichkeit, was dann auch gleich erhebliche Identitätsprobleme mit sich bringt. Ein anderes Beispiel bildet die über Jahrzehntausende der Menschheitsgeschichte hinweg dominierende zyklische Vorstellung von der Zeit, in der Veränderungen nur im Rahmen der Jahreszeiten wahrgenommen wurden, in die auch die Erfahrung von Geburt und Tod eingebunden war. Da keine über die sich wiederholenden Jahreszeiten hinausgehende Entwicklung wahrgenommen wurde, haben wir es auch hier, wie bei Kindern, mit einem statischen Weltbild zu tun.

Die beiden Kritikpunkte, auf die ich nun hier noch näher eingehen will, beziehen sich auf Wiesings Behandlung des Theodizeeproblems (vgl. Autopsie, S.173ff.) und auf die „optische Entindividualisierung“ (vgl. Autopsie, S.219ff.). Die Theodizee, also die Frage, wie Gott eine Welt schaffen konnte, in der es Leid und Unrecht gibt, will Wiesing nicht mehr als ein Problem der Welt selbst, also des Gesamts aller möglichen Wahrnehmungsgegenstände betrachtet sehen, sondern als ein Problem der Wahrnehmung: „Die Welt verhält sich nicht so widerständig, weil sie widerständig ist, sondern weil die Welt, in der ich lebe, ein Objekt meiner Wahrnehmung ist, und die Wahrnehmung mir nur widerspenstige Objekte zu Bewußtsein bringt. Man kann die Wahrnehmung dafür hassen oder lieben, doch sicher ist: Sie verwehrt mir mein paradiesisches Dasein in meinen Phantasiewelten. Deshalb gibt es nur für den Wahrnehmenden eine Theodizee, wenn man nicht sogar sagen will, daß das eigentliche Problem einer Theodizee die Wahrnehmung des Menschen ist ...“ (Autopsie, S.173)

Das ist gleichzeitig ‚schief‘ und konsequent gedacht. Konsequent ist es, weil Wahrnehmungssubjekt und Wahrnehmungsobjekt ja Teile eines Ganzen, nämlich der Wahrnehmung sind. Das Wahrnehmungsobjekt, also in diesem Fall die Gesamtheit aller möglichen Wahrnehmungsgegenstände, besteht demnach nicht unabhängig von der Wahrnehmung. ‚Schief‘ gedacht ist es aber, weil zu den unausweichlichen Folgen der Wahrnehmung gehört, daß dem Wahrnehmungssubjekt seine Wahrnehmungsobjekte als kontinuierlich und unabhängig gegeben sind und die Wahrnehmung selbst als verursacht durch den Wahrnehmungsgegenstand erlebt wird. Wie kann die Theodizee also ein Problem der Wahrnehmung sein, da es doch in ihr wesentlich um den Gegenstand der Wahrnehmung geht, um die Welt nämlich und nicht um die Wahrnehmung? Daß mir die Wahrnehmung nur widerspenstige Objekte zu geben vermag, heißt noch lange nicht, daß es keine Paradiese geben kann. Widerspenstigkeit und Paradieshaftigkeit der Welt sind keine der Wahrnehmung inhärenten Widersprüche, denn die Paradieshaftigkeit der Welt muß ja nicht notwendigerweise ohne jede Widerspenstigkeit gedacht werden; jedenfalls dann nicht, wenn Entwicklung ein notwendiger Bestandteil von Bildung ist.

Die Welt kann sich also – unter denselben Wahrnehmungsbedingungen – auf ganz verschiedene Weisen widerständig verhalten, von denen einige unsägliches Leid beinhalten. Andere wiederum können durchaus als Momente ihrer Paradieshaftigkeit begriffen werden. Deshalb hat die Theodizee auch weiterhin ein Problem mit der Welt und nicht mit der Wahrnehmung. An dieser Stelle kann man aus einem Problem mit dem So-Sein, also mit der ‚schlechten‘ Faktizität der Welt, nicht einfach ein Wahrnehmungsproblem machen.

Bei dem anderen Kritikpunkt geht es um die Bildwahrnehmung. (Vgl. Autopsie, S.199, 202, 219ff.) Die Bildwahrnehmung unterscheidet sich von der eigentlichen Wahrnehmung dadurch, daß es den Wahrnehmungsgegenstand, also das Bild, nicht ‚gibt‘, d.h. es hat keine vom Wahrnehmungssubjekt unabhängige Existenz („artifizielle Präsenz“ (vgl. Autopsie, S.202)). Außerdem gewährt es dem Bildbetrachter eine „Partizipationspause“: „Was jedem Subjekt einer Wahrnehmung unvermeidlich widerfährt, bleibt dem Betrachter eines Bildes erspart: die Partizipation am Wahrgenommen.“ (S.199) Eine weitere Differenz zur eigentlichen Wahrnehmung besteht darin, daß an der Bildwahrnehmung ausschließlich der Gesichtssinn beteiligt ist und alle anderen Sinneswahrnehmungen ausgeschaltet sind. (Vgl. Autopsie, S.202)

Diese spezifischen Merkmale der Bildwahrnehmung, schlußfolgert Wiesing nun, bewirken beim Bildbetrachter eine „optische Entindividualisierung“ (vgl. Autopsie, S.219ff.). Das heißt, daß Wiesing zufolge der Bildbetrachter von den mit der normalen Wahrnehmung verbundenen Folgen nicht mehr betroffen ist. Zu diesen Folgen gehört auch die mit der zeitlichen und räumlichen Verortung der Person einhergehende Individualisierung, insbesondere was die Wahrnehmungsperspektiven betrifft. Der Bildbetrachter steht außerhalb der Zeit und befindet sich in einem Zustand des reinen Genusses. Während in der Welt der normalen Wahrnehmung die Zeit eine wichtige Rolle spielt, weil Wahrnehmungssubjekte und Wahrnehmungsobjekte ständigen Veränderungen unterliegen und deshalb sich bietende Gelegenheiten, etwas zu tun, versäumt werden können, kann man bei der Bildbetrachtung „(w)eder den rechten Moment der Betrachtung noch den rechten Standort für eine Betrachtung ... verpassen.“ (Vgl. Autopsie, S.222) Zu jeder Zeit ist das Bild dasselbe, weil es nicht altert, und deshalb altert auch der Bildbetrachter nicht.

Am Begriff der optischen Entindividualisierung zeigt sich, daß Wiesing keinen Begriff von ‚Bildung‘ hat. So wenig wie das Wahrnehmungssubjekt sich von den Folgen der Wahrnehmung befreien kann (außer bei der Bildwahrnehmung, da stimme ich Wiesing zu), so wenig kann sich das Bildungssubjekt von den Veränderungen befreien, die ihm in der Zeit durch sein Handeln widerfahren. Und diese Veränderungen wirken sich sehr wohl gerade auch bei der Bildbetrachtung aus. Wiesing unterschlägt die ästhetische Gestimmtheit des Bildbetrachters, die ein Moment seines bisherigen Bildungswegs ist. Es macht also durchaus einen Unterschied, zu welchem Zeitpunkt ein Betrachter sich ein Bild ansieht.

Und mehr noch: Nicht nur der bisherige Bildungsweg wirkt sich auf die Bildbetrachtung aus, sondern die Bildbetrachtung kann sich wiederum auf den weiteren Bildungsweg des Bildbetrachters auswirken. Bildwahrnehmung beinhaltet notwendigerweise auch eine optische Individualisierung! Insofern kann man aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive heraus, wegen der Altersabhängigkeit der Bildwahrnehmung, durchaus „den rechten Moment der Betrachtung“ verpassen.

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