„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 8. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (6)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Blumenbergs Kritik an Husserls Phänomenologie bezieht sich auf ihre implizite, von Husserl nicht reflektierte „Antinomie von Unendlichkeit und Anschauung" (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.217). Diese Kritik leidet aber selbst an einer spezifischen Vernachlässigung des Aspekts der Leiblichkeit in Blumenbergs Theorie der Lebenswelt. Damit kommen wir auch noch einmal kurz auf Plessners Anthropologie der Sinne zu sprechen.

Zu diesem Zweck möchte ich an dieser Stelle vor allem einen Aspekt des Blumenbergschen Lebensweltansatzes ansprechen: die Stabilität der Lebenswelt. Blumenberg zufolge besteht die gedankliche Herausforderung des Lebensweltbegriffs in seiner Grenzbegrifflichkeit. Die Lebenswelt bezieht sich als „Grenzbegriff" auf die „in jeder Welt bestehende() Tendenz zur Selbstverständlichkeit" und auf den „Ausgangswert() einer Welterfahrung überhaupt ..." (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.65). Die „Tendenz zur Selbstverständlichkeit" beinhaltet ihre Stabilität. Keine einzelne Erfahrung kann die Lebenswelt in Frage stellen, weil sie immer schon Mechanismen beinhaltet, die sie gegen solche Ausnahmeerfahrungen immunisiert: „Man muß davon ausgehen, daß jede partielle oder atomistische Durchbrechung der Grenzen und der Beständigkeit der Lebenswelt angesichts ihrer Integrationsfähigkeit zum Scheitern verurteilt wäre." (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.203)

Da stellt sich dann auch gleich das Problem, wie es zu einem Bruch in der Lebenswelt kommen kann, die den Menschen aus der Beheimatung in lauter Selbstverständlichkeiten entläßt und ihn seinen Weg durch die Geschichte, die nun zugleich eine Entfremdungsgeschichte ist, nehmen läßt? Wie also kann die Lebenswelt zum Ausgangspunkt einer Welterfahrung werden? Daß Blumenberg hier keine andere Option sieht als von der „Autodestruktion der Lebenswelt" (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.103) zu sprechen, von der Lebenswelt als einem „System der Selbstzerstörung" (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.98), ist erhellend. Weil die Lebenswelt weder von außen noch von innen in Frage gestellt werden kann, muß sie sich selbst zerstören. Blumenberg bezieht den Menschen so sehr auf die Lebenswelt als dem hauptsächlichen Merkmal seiner Menschlichkeit, daß diesem keine andere Freiheit bleibt als die ihm von dieser Lebenswelt gewährte.

Die Leiblichkeit des Menschen wird hierbei, wie gesagt, nur am Rande thematisiert, und hier ist Blumenbergs Lieblingsaspekt, auf den er sich immer wieder gerne bezieht, die Selbstaufrichtung, der aufrechte Gang. Und erst über den Umweg über die Selbstaufrichtung thematisiert er auch die Wahrnehmung (und Beobachtung) als Folge dieser Selbstaufrichtung. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.142) Dieser Weg führt Blumenberg aber nicht zu einer von der Lebenswelt unabhängigen Betrachtung der Wahrnehmung. Am Beispiel von Plessner können wir sehen, welches Reflexionspotential ihm hier entgeht.

Bei Plessner hat die Exzentrizität des Menschen ihre Wurzeln im Verhältnis zu seiner Leiblichkeit. Es braucht nicht erst eine Lebenswelt hinfällig zu werden, um den Menschen aus seinen Selbstverständlichkeiten zu entlassen. Bei Plessner liegt der Mensch mit seinem Körper im Streit (Plessner 1980, S.369), und schon aufgrund dieser immerwährenden Unangepaßtheit ist Neugierde immer schon möglich: „Der Mensch liegt eben mit seinem Körper in Streit, auch wenn er weiß, daß es sein eigener Leib ist, der ihm dazwischenkommt. Als Leib bin ich Außending, das anderen Körpern im Wege steht oder Platz macht und im Unterschied zur Selbstempfindung meines Leibes mich zur Wahrnehmung und Abschätzung von Distanzen und Tragfähigkeiten zwingt. ... Mein eigenes Körper-Sein stellt sich mir, dem Subjekt, als ein Konflikt dar, dessen Unlösbarkeit mit der Subjekt-Objekt-Spaltung gegeben ist. Die Spaltung zwingt den Menschen zu handeln, eine Art des Verhaltens, die den Tieren verschlossen ist." (1980, S.369)

Dieser Streit mit unserem Körper führt u.a. dazu, daß wir gegen unseren Willen rot werden können. Der wichtigste Aspekt ist aber wohl der, daß wir aufgrund dieses ständigen Konflikts zum Handeln gezwungen sind und daß uns das instinktive Verhalten der Tiere verschlossen bleibt. Das schönste Beispiel für diesen anthropologischen Grundkonflikt habe ich bei Keiji Nishitani gelesen. Er beschreibt, wie uns ein einfaches, alltägliches Niesen aus den Selbstverständlichkeiten unseres alltäglichen Lebens herausreißen und auf einen langen Weg zu innerer Erleuchtung führen kann. (Vgl. Was ist Religion? (2/1986), S.93ff.)

Weil also Blumenberg der Leiblichkeit des Menschen nicht genügend Aufmerksamkeit zuwendet, muß er die Schwierigkeiten überschätzen, die Lebenswelt zu verlassen, und sogar von einer Selbstzerstörung der Lebenswelt ausgehen. Das führt uns nun auch zu der von Blumenberg festgestellten, angeblichen Antinomie in der Husserlschen Phänomenologie, die zwischen „Unendlichkeit" und „Anschauung" bestehen soll: „Die Forderung nach der absoluten Evidenz und der Radikalität der Begründung und genetischen Sinnanalysen setzt sich selbst gegenüber der Vorstellung von einer Unendlichkeit der geforderten Arbeit ins Unrecht." (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.215)

Wir hatten schon in unserem Post zum eigenen Verstand auf die hervorragende Eignung der Phänomenologie hingewiesen, die individuelle Urteilskraft zu stärken und zu schulen. Diese Eignung besteht vor allem in dem Moment der von Blumenberg angesprochenen Antinomie, der alle Behauptungen auf eine ursprüngliche Anschauung, auf eine absolute Evidenz zurückbezieht. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.173) Dies gilt, wenn schon nicht immer real durchführbar, zumindest der Möglichkeit nach. Dem hält Blumenberg nun das andere Moment der Antinomie entgegen, daß nämlich jede Gegenstandswahrnehmung eine potentiell unendliche Aufgabe ist und in keine Richtung weder nach innen noch nach außen eine letzte Grenze, also auch keine absolute Evidenz denkbar ist. Beide Grundprinzipien der Husserlschen Phänomenologie widersprechen einander.

Dies tun sie aber nur, weil Blumenberg die sinnliche Wahrnehmung nicht in seine Betrachtung einbezieht. Mit Plessners Analysen der Sinnesorgane können wir sehr wohl so etwas wie letzte Bezugsinstanzen einer absoluten Evidenz aufstellen: eben die Sinnesorgane und ihre Funktionsweise. Und das ist auch ganz im Sinne der Husserlschen Wahrnehmungsanalysen. Das widerspricht auch in keiner Weise dem anderen Prinzip, daß jede Gegenstandswahrnehmung aufgrund der Horizontstruktur eine unendliche Aufgabe darstellt. Das trifft nämlich wiederum nur für das Bewußtsein als Intentionalität zu, das dabei aber immer seine ‚Erdung‘ in den Sinnesorganen haben muß. Zwischen beidem spannt sich seine Intentionalität, zwischen Wahrnehmung (absolute Evidenz) und Welt (unendliche Aufgabe), und die Lebenswelt stellt dabei tatsächlich jenen Grenzbegriff dar, aus dem wir uns aufgrund unserer leiblichen Verfaßtheit immer schon herausfallen sehen in eine offene Weite, nichts von heilig.

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Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (5)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Husserl macht den von ihm beklagten Sinn- und Anschauungsverlust der Technik am Begriff der Methode fest: „Technisierung ist Verwandlung ursprünglich lebendiger Sinnbildung zur Methode, die sich weitergeben läßt, ohne ihren Urstiftungssinn mitzuführen, die ihre Sinnesentwicklung abgestreift hat und im Genügen an der bloßen Funktion nicht mehr erkennen lassen will.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.206) – Die wesentliche Funktion der Methode besteht also in der Möglichkeit, durch einsichtige Erfahrung gewonnene Erkenntnisse an andere weiterzugeben, ohne daß diese anderen noch einmal den umwegigen Entdeckungszusammenhang durchlaufen müssen. Husserl versteht also unter der Methode eine Abkürzung, die Zeit spart. Spätere Forscher- und Ingenieursgenerationen können auf diese Weise auf den Erkenntnissen ihrer Vorgänger aufbauen und weiterforschen bzw. weitere technische Entwicklungen einleiten.

Im Unterschied zu Husserl, der hier von einem Sinn- und Anschauungsverlust spricht – in postmodernen Diskursen ist auch von Erfahrungsverlusten die Rede –, will Blumenberg, der der Technisierung insgesamt positiver gegenübersteht als Husserl, hier aber nur von einem bewußten „Beweisverzicht“ reden, der in der wissenschaftlichen Arbeit unvermeidlich ist: „Der Sinnverlust, von dem Husserl gesprochen hat, ist in Wahrheit ein in der Konsequenz des theoretischen Anspruchs selbst auferlegter Sinnverzicht.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.216) – Als Beispiel nennt Blumenberg die euklidische Geometrie: „Hätte sie (die euklidische Geometrie – DZ) die Bearbeitung ihrer Theoreme und Probleme hinausgeschoben, bis alle Axiome und Postulate bewiesen gewesen wären, dann gäbe es vielleicht heute noch keine Geometrie – der Beweisverzicht, der Aufschub der strengsten Forderungen, als Bedingung der Möglichkeit des Erkenntnisfortschritts.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.217)

Die mit der Methode einhergehende Formalisierung wurde schon im vorangegangenen Post beschrieben. An dieser Stelle möchte ich nun vor allem auf den Charakter der Abkürzung eingehen, den Husserl zufolge die Methode bzw. der Schematismus der wissenschaftlichen „Formelwelten“ ermöglicht. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.206) Der Mensch versucht auf diese Weise den Umweg der Erfahrung zu überspringen: „In der Technisierung, wie Husserl sie versteht, entzieht sich der Mensch der Redlichkeit des einsichtigen, auf originärer Anschauung bestehenden Vollzuges seiner Praxis in jenem weitesten Sinne, der auch die Theorie einschließt. Er will sozusagen ‚im Sprunge‘ vorankommen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.208f.)

Mich interessiert hier insbesondere die von Blumenberg nicht explizit ausgeführte, aber implizit naheliegende Differenzierung zwischen ‚Information‘ und ‚Gegenstand‘. Bei dieser Differenzierung geht es mir nicht um eine mathematische Definition des Informationsbegriffs, etwa daß eine Nachricht um so informativer ist, je unerwarteter sie ist oder ähnliches. Mir geht es vielmehr um den Aufschluß, den uns die Differenzierung zwischen ‚Information‘ und ‚Gegenstand‘ über das Bewußtsein als Intentionalität ermöglicht, und darüber, warum z.B. Maschinen zwar mit Informationen arbeiten können, aber keine Gegenstände bewußt haben können.

An zwei Stellen spricht Blumenberg in bezeichnender Weise von ‚Informationen‘ und nicht von ‚Gegenständen‘. Er spricht einmal von der „Umwelt“, „in der man sich verhält, ohne sich umsehen zu müssen, weil sie ständig die bestimmtesten Informationen für die Regelung des Verhaltens gibt.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.66) – Informationen sind also präzise definierte Anweisungen, die keinen Interpretationsspielraum zulassen, also Formeln, die ein bestimmtes Verhalten regeln, wie etwa bei Maschinen. Ich habe diese von Blumenberg angesprochenen ‚Umwelten‘ im letzten Post auch auf die virtuellen Welten bezogen.

An anderer Stelle spricht Blumenberg vom „Informationszufluß, der keinerlei Einstellung über die des Zuschauers hinaus verlangt“ und der „äquivalent dem Wirklichkeitsverhältnis einer Welt (ist), in der man von allem schon weiß, was es mit ihm auf sich hat und wie man sich zu ihm zu verhalten hat.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.58) – Hier faßt Blumenberg Informationen als von unserem Erleben völlig getrennte ‚Nachrichten‘, die uns über Medien, mit denen wir uns ‚auskennen‘, vermittelt werden, wie z.B. eine Fernsehsendung. Blumenberg spricht hier auch von Gegenständen der sekundären Aufbereitung, der flüchtigen Kenntnisnahme, des puren Zuschauerverhaltens. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.58)

Die Information wäre also „der Inbegriff von Erfahrungen, die andere gemacht haben“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.59). – An anderer Stelle läßt Blumenberg genau diese Funktion von ‚Symbolen‘ einnehmen: „Die ‚Entlastung‘ durch Symbole stabilisiert sich gerade dadurch, daß ihre Verweisungen auf ‚das Wirkliche selbst‘ nicht wahrgenommen werden und nicht verfolgt zu werden brauchen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.173)

Blumenberg hat hier keine einheitliche Begrifflichkeit, der Sache nach läuft es aber auf dasselbe hinaus, und das steckt auch schon im Husserlschen Begriff der Methode: Informationen sind die Erfahrungen anderer, die wir uns zunutze machen, ohne den Erfahrungszusammenhang, den ‚Urstiftungssinn‘ kennen zu müssen, dem die ursprüngliche Einsicht, die zur Information wurde, entstammt. Auf einen kurzen Satz gebracht: für Informationen braucht es kein Bewußtsein! Das hört sich vielleicht etwas schräg an, aber der Beweis liegt uns allen tagtäglich offen vor Augen: wir sind von automatischen Informationsverarbeitungssystemen in Hardware und Software umgeben (um nicht zu sagen umzingelt), die uns ihre Dienste auf Knopfdruck zur Verfügung stellen!

Warum aber brauchen wir für ‚Gegenstände‘ Bewußtsein? Ebenfalls ganz kurz auf den Punkt gebracht: weil Gegenstände zu haben, Bewußtsein bedeutet! Wobei das ‚Haben‘ des Gegenstandes selbst eher ein Bestreben des Bewußtseins ist, ihn haben zu wollen, eben seine Intentionalität. Bewußtsein als Intentionalität bedeutet, „daß alles Bewußtsein seine Gegenstände nicht nur ‚hat‘, sondern daß es immer in der Intention auf die je mögliche volle Gegebenheit seiner Gegenstände steht.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.193) – Das Bewußtsein gibt sich nicht mit einem Ersatz zufrieden, wie z.B. mit Informationen, und auch nicht mit einem nur teilweisen Besitz seines Gegenstandes. Als Intentionalität will es seinen Gegenstand ganz, in seiner ganzen Fülle.

Die Vollständigkeit der Gegenstände ist in der Bildungstheorie schon immer ein wichtiges Prinzip der Bildung gewesen. Wilhelm von Humboldt verweist in seinen Schulplänen (3/1982, S.168-195) auf die enge Verbindung zwischen einer vollständigen Bildung und dem „Gemüth“ des Menschen, wobei er mit Vollständigkeit nicht die Menge des Stoffs meint, mit der ein Schüler im Verlauf seines Schulbesuchs in Berührung kommt, sondern daß er sich mit den Gegenständen auch gründlich, also bis zu ihren Gründen, ihren Anfängen befaßt: „Denn im Gemüth und in der Wissenschaft (die nur sein von allen Seiten vollständig gedachtes Object ist) steht jeder einzelne Punkt mit allen vorigen und künftigen in Contact, ist kein Anfang und kein Ende, ist alles Mittel und Zweck zugleich, und also jeder Schritt weiter Gewinn, auch wenn unmittelbar dahinter eherne Mauern gezogen würden.“ („Schulpläne“, S.190) – Man sieht, daß Humboldt noch ganz im Geist der Aufklärung die Wissenschaft nicht als eine spezielle Disziplin begreift, sondern eng mit dem ‚Gemüt‘ bzw. mit dem Bewußtsein des Menschen verknüpft. Die „ehernen Mauern“, von denen hier die Rede ist, beziehen sich auf den Übergang von der Schule ins Berufsleben, also auf den plötzlichen Abbruch der Schulbildung, der zu Humboldts Zeiten jederzeit aufgrund der Geldknappheit weniger begüterter Eltern zu Ende sein konnte.

Das Bewußtsein als Intentionalität stellt also als phänomenologisches Grundprinzip zugleich ein Grundprinzip der klassischen Humanitätsidee dar. Der phänomenologische Begriff des Gegenstandes bildet deshalb einerseits eine unendliche Aufgabe. Dafür steht der Begriff der Horizontstruktur mit ihren inneren und äußeren Verweisungszusammenhängen; d.h. daß der Gegenstand nach ‚außen‘ in seinen Bezügen zu anderen Gegenständen und nach ‚innen‘ in seiner eigenen inneren Struktur als Ganzes von Teilen keine endgültige Grenze aufweist, jenseits deren es nichts Neues mehr über ihn zu wissen gibt. Andererseits aber werden alle diese ausufernden, unendlichen Horizonte doch durch die Gestalt (Husserl spricht vom ‚Wesen‘) des Gegenstandes zusammengehalten. Blumenberg findet für diese fundamentale Eigenschaft des Gegenstands das schöne Bild des „Identitätspols“: „Gegenstände sind nicht Konglomerate von Bewußtseinsinhalten, sondern ursprüngliche Identifizierbarkeit, ihre Zuordnung zu je einem Identitätspol.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.193) – Man denkt hierbei unweigerlich an einen Magneten, der die verstreuten Eisenspäne (Aspekte, Horizonte) versammelt und ordnet.

Ohne also explizit den Unterschied zwischen ‚Information‘ und ‚Gegenstand‘ zu thematisieren, liefert Blumenberg uns doch einige Anhaltspunkte, in diese Richtung weiterzudenken und dabei mögliche Unterscheidungskriterien für reale und virtuelle Welten zu finden.

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Samstag, 7. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (4)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Gerade Blumenbergs im letzten Post angesprochener Technikaufsatz regt zu ein paar Gedanken über den Zusammenhang von Lebenswelt und virtueller Welt an. Denn der Prozeß der Technisierung stellt eine Umkehrung der von Kant beschriebenen Aufklärung als Mut, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, dar. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.123) Und von dieser Umkehrung der Aufklärung in ihr Gegenteil ist auch die Wissenschaft selbst betroffen, die ja als Projekt der Aufklärung mit dem Anspruch angetreten war, alle undurchdachten Vorurteile und Werturteile aus der Welt zu schaffen.

Zunächst möchte ich kurz auf den Zusammenhang von Lebenswelt und Mythos eingehen. Im Mythos geht es Blumenberg zufolge im Unterschied zur Wissenschaft um das Vermeiden von Erkenntnis: „Mythen antworten nicht auf Fragen, sie machen unbefragbar.“ („Arbeit am Mythos“, S.142) Indem sie das „Erklärungsbedürfnis“ stillegen („Arbeit am Mythos“, S.144), vermeiden sie einen unendlichen Regreß, wie sie jeder vollständige Erklärungsversuch beinhaltet (vgl. „Arbeit am Mythos“, S.143). Deshalb ist der Mythos keine Vorform der Wissenschaft (vgl. „Arbeit am Mythos“, S.184). Der Mythos läßt deshalb keine Fragen offen, weil er keine beantwortet. (Vgl. „Arbeit am Mythos“, S.193)

Es ist sogar so, daß Fragen zu beantworten seine eigentliche Funktion, den Absolutismus der Wirklichkeit zu bewältigen, torpedieren würde. Sobald Fragen gestellt werden, werden wieder Sorgen und Ängste geweckt, die der Mythos gerade verhindern soll. Es gibt also ein unverächtliches Bedürfnis des Menschen, keine Fragen stellen zu müssen, und diesem Bedürfnis kommt der Mythos entgegen, indem er den Anschein erzeugt, alles zu sagen und nichts ungesagt zu lassen; so kommt es, daß im Mythos ein immenser Sinnüberschuß („Es ist alles voll von Göttern!“) dafür sorgt, daß keine Fragen offenbleiben, obwohl gar keine beantwortet werden. Das eigentliche Bedürfnis des Menschen, in der Welt heimisch zu werden und zu sein, kann nicht im unendlichen Regreß von Fragen und Antworten befriedigt werden. Der Mythos trägt dazu bei, diesen Regreß, diesen Teufelskreis, stillzustellen. Erst so wird der Mensch handlungsfähig.

Ganz ähnlich wie den Mythos beschreibt Blumenberg nun die Lebenswelt: „Ihre (der Lebenswelt – DZ) Rationalität besteht nicht darin, nach Gründen nicht fragen zu wollen oder zu sollen oder zu können, sondern nach ihnen nicht fragen zu brauchen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.85) – Und: „Der Lebensweltbegriff enthält die Anweisung, die Rationalität von Begründungslosigkeit zu denken, nicht die der verweigerten Begründung vom Typus theologischer Antworten ... Begründungslosigkeit kann nur gerechtfertigt werden durch Funktionssicherheit nicht für das Leben, sondern für das Bewußtsein.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.90)

Es erstaunt also nicht, daß Blumenberg Lebenswelt und Mythos in enger Arbeitsteilung aufeinander bezieht, indem er die Mythen immer aus der Lebenswelt hervorgehen läßt, während er ihr mögliches Ende als offen bezeichnet: „Geschichten dieser Art (Mythen – DZ) dürfen irgendwo aufhören, aber sie müssen in der Lebenswelt anfangen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.138)

Inwiefern kehrt die Technisierung nun den Prozeß der Aufklärung und der Wissenschaft um? Die wissenschaftliche Theorie hat ihren Ausgangspunkt in der Lebenswelt, indem sie deren Vorurteile in Frage stellt, und sie beginnt sich mit zunehmender analytischer Schärfe und disziplinärer Formalisierung von dieser Lebenswelt zu entfernen, mit dem unendlichen Ziel einer restlos aufgeklärten, vorurteilsfreien Welt vor Augen. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.28, 31f., 35, 107f., 164, 204) Dabei vollzieht sie insbesondere in Form der Naturwissenschaft die Abstraktion einer reinen Körperwelt: „Die Abdeckung dieser geschichtlichen Bedingtheit ermöglicht es dem modernen Bewußtsein zu glauben, die exakte Wissenschaft könne mit Hilfe der Mathematik die hinter den Erscheinungen gleichsam versteckte ‚an sich wahre Welt‘ entdecken und darstellen. Die Abdeckung der Genesis dieser exakten Objektwelt durch Abstraktion aus der Lebenswelt begründet die fraglose Natürlichkeit dieser Natur.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.204f.) Dieser von der Lebenswelt ausgehende, mit der Anschaulichkeit auch die Einsichtigkeit ihrer Ergebnisse verhindernde Abstraktionsprozeß der Wissenschaft beinhaltet zugleich eine technische Anweisung, „denn was formalisiert werden kann – das heißt: was seine Anwendbarkeit unabhängig von der Einsichtigkeit des Vollzuges gewinnt –, das ist auch im Grunde schon mechanisiert ...“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.215)

Von der Wissenschaft, die ursprünglich den menschlichen Verstand aus seinen lebensweltlichen Abhängigkeiten befreien sollte, geht also eine neue Form der Entmündigung des Verstandes aus, die schon im Wesen der Formalisierung begründet ist: „Technisierung ist Verwandlung ursprünglich lebendiger Sinnbildung zur Methode, die sich weitergeben läßt, ohne ihren Urstiftungssinn mitzuführen, die ihre Sinnesentwicklung abgestreift hat und im Genügen an der bloßen Funktion nicht mehr erkennen lassen will.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.206) – Und weiter: „Der von Husserl analysierte Prozeß der Verdeckung des Entdeckten erreicht erst darin sein Telos, daß das im theoretischen Fragen unselbstverständlich Gewordene zurückkehrt in die Fraglosigkeit. ... Die Technisierung reißt nicht nur den Fundierungszusammenhang des aus der Lebenswelt heraustretenden theoretischen Verhaltens ab, sondern sie beginnt ihrerseits, die Lebenswelt zu regulieren, indem jene Sphäre, in der wir noch keine Fragen stellen, identisch wird mit derjenigen, in der wir keine Fragen mehr stellen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.211)

Insofern also die Technisierung einen Verdeckungszusammenhang darstellt, in dem wir keinen Einblick mehr in den Zusammenhang der technischen Effekte und Apparate haben, die wir völlig unspezifisch alle mit einem Knopfdruck in Gang setzen können, insofern also mit der Technisierung „das im theoretischen Fragen unselbstverständlich Gewordene zurückkehrt in die Fraglosigkeit“, haben wir nicht nur in der Technik die Wiederkehr der Lebenswelt, sondern die technischen Apparate stellen sogar im (Blumenbergschen) Wortsinne mythische Objekte dar.

Diese hier beschriebenen Zusammenhänge lassen uns an die virtuellen Welten des Cyberspace denken, in denen wir uns inzwischen im Web 2.0 bewegen, in denen das tägliche Leben nachgespielt wird, ein Leben, an dem wir mit Hilfe von Avataren teilnehmen. Diese virtuellen Welten bestätigen den Verlust der Lebenswelt, indem sie Ersatz dafür schaffen. Und auch ihr Hauptmerkmal scheint mir zu sein, daß sie uns die Möglichkeit verschaffen, wieder in eine Welt der Selbstverständlichkeiten einzutauchen, die wir nicht in Frage zu stellen brauchen – und damit auch uns selbst nicht.

Zugleich haben diese virtuellen Welten den Vorteil, zwar wie eine Lebenswelt zu funktionieren, stattdessen aber technische ‚Umwelten‘ zu bilden, die der vollen rechnerischen Kontrolle unterliegen: „Eine Welt ist diejenige Realität, in der man sich umsieht, ehe man sich verhält; eine Umwelt diejenige, in der man sich verhält, ohne sich umsehen zu müssen, weil sie ständig die bestimmtesten Informationen für die Regelung des Verhaltens gibt.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.66) – Eine Umwelt wird nicht durch Gegenstände ausgefüllt, wie die Lebenswelt, sondern durch Informationen reguliert. (Dazu im nächsten Post mehr!) Sie ist deshalb – anders als die Lebenswelt – manipulierbar, und das heißt letztlich kontrollierbar: „Es scheint einfacher und machbarer, eine Realität rings um das Subjekt so zu bauen, daß dieses im positiven oder zumindest im gewünschten Sinne beeinflußt wird, als es selbst unmittelbar zu beeinflussen. Die gewandelte oder eingerichtete Umwelt zeichnet sich in ihrem Einfluß auf die Individuen durch ständige Präsenz, auch bei Absenz der Einflußnehmer, die doch noch anderes zu tun haben, aus.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.67)

So mündet der Prozeß der Aufklärung und Verwissenschaftlichung nicht nur in einer Welt der technischen Objekte, die wir aus unserer technischen Lebenswelt nicht mehr wegdenken können (weil sie sich aufgrund ihres mythischen Charakters nicht hinterfragen lassen), sondern die technischen Objekte bringen aus sich eine neue Lebensform hervor, die sich von der Lebenswelt dadurch unterscheidet, daß sie von den verschiedensten „Einflußnehmern“ gemacht wurde – ob nun mit dem Bewußtsein der Einflußnahme oder nicht – und die die totale Kontrolle über unser Bewußtsein ausübt. Eine wirkliche Horrorvision, auf die Husserl und Blumenberg zwar ansatzweise hingedacht hatten, die sie aber in dieser Form wohl kaum vorhergesehen haben. Und insbesondere Blumenberg ist bei all diesen Gedankengängen eigentlich viel technikfreundlicher, als es hier den Anschein hat. Er verbindet, wie wir im vorangegangenen Post gesehen haben, mit der Technik alles in allem und trotz bedenklicher Nebenwirkungen eine Fortschrittsgeschichte.

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Freitag, 6. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (3)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

In dem Aufsatz „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“ („Theorie der Lebenswelt“, S.181-224) entwickelt Blumenberg einen Begriff von geschichtlicher Kontinuität, vom historischen Sinn, der sich diametral von dem Geschichtsverständnis von Plessner unterscheidet. Ich führe den Unterschied in der Geschichtsauffassung darauf zurück, daß Blumenberg den Fokus auf die Lebenswelt richtet und die Leiblichkeit des Menschen nur am Rande streift, während Plessner mit den Sinnesorganen genau diese Leiblichkeit in den Mittelpunkt seines Interesses rückt. (Vgl. meine Posts vom 14. und vom 15.07.10)

Plessner bestreitet entschieden, daß es außerhalb der Geschichtsbücher so etwas wie eine geschichtliche Kontinuität geben könne: „Man vergißt unter dem Eindruck der Kontinuität geschriebener Geschichtsbücher und dessen, was man uns gesagt hat, immer wieder die einfache Tatsache, daß in Wirklichkeit es nie so aussehen kann, wie es in literarischer Fassung erscheint und daß ‚Geschichte‘ nicht die Aufzeichnung möglichst sämtlicher vergangener Weltvorgänge oder Menschenbegebenheiten ist, von denen ja nur ein verschwindender Bruchteil sich faktisch manifestiert.“ (Plessner 1980, S.144f.) – Denn anders als bei gegenständlichen Erscheinungsformen, bei denen „(i)n der Ausgangswahrnehmung () die einheitliche Bewegungsgestalt“ vorgegeben ist (vgl. Plessner 1980, S.121), fehlt eine solche individuelle Gestaltwahrnehmung bei historischen ‚Gegenständen‘ völlig: „Geschichte hat also überhaupt keine vorgegebene Grundlage in einem intuitiv einheitlichen Ganzen. Also fehlt die letzte Kontrollmöglichkeit der historischen Reihenbildung (durch Motivationszusammenhänge) an zusammenhängenden Erscheinungen in einer Anschauung.“ (Plessner 1980, S.147)

Damit bewegt sich Plessner auf der Höhe gegenwärtiger Theorien zum kulturellen bzw. kommunikativen Gedächtnis (vgl. insbesondere hinsichtlich des kommunikativen Gedächtnisses Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2/2008). Blumenberg hingegen verbindet seine phänomenologischen Analysen der Technik, genauer: der Technisierung als Prozeß (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.191), mit geschichtsphilosophischen Erwägungen: „Die Logik in der Geschichte hat etwas zu tun mit der Frage nach der Identität in der Geschichte ... Wir suchen deshalb zu verstehen, weil nur Verstehen uns dessen versichert, daß wir in der Identität menschlichen Handelns und Verhaltens stehen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.232) – Blumenberg geht also von einer über die leibliche Konstitution des individuellen Menschen hinausgehenden lebensweltlich begründeten Konstitution des inter- oder sogar suprasubjektiven Menschen aus, also von der „Identität menschlicher oder menschheitlicher Subjekte“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.232)): „Der einzelne Mensch ist gar nicht mögliches Subjekt einer unendlichen Aufgabe, dieses Subjekt muß in Gestalt der Gesellschaft, der Nation, der Menschheit, der Wissenschaft künstlich konstituiert werden, und zwar als ein dem Glücksanspruch des Individuums gegenüber rücksichtslos gebietendes Prinzip.“ („Theorie der Lebenswelt“, S.219)

Die „unendliche Aufgabe“, von der Blumenberg hier spricht, ist die der Wissenschaft, die selbst schon durch die Formalisierung ihrer Gegenstände einen der Technik entsprechenden mechanischen Anspruch beinhaltet, die Phänomene selbst zu produzieren. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.203) Unendlich ist ihre Aufgabe, weil sie davon ausgeht, ihre Gegenstände nie vollständig in Besitz nehmen zu können. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.177f.)

Nun sind zwar Blumenberg zufolge alle Menschen potentielle „Funktionäre“ dieser unendlichen Aufgabe, nämlich als „lebendige Bewegung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.196), aber die Phänomenologie hat im Rahmen dieses gemeinschaftlichen Projekts eine herausragende Position inne: „Die Phänomenologie ist die abschließende und nun freilich unendliche Aufgabe einer Geschichte, die sich alle Auswege zum reinen Sein als mystische Sackgassen versagen mußte und nirgendwo anders als in der Höhle selbst und unter deren Ausgangsbedingungen erfahren und bestanden werden kann.“ („Theorie der Lebenswelt“, S.164) – „Nirgendwo anders als in der Höhle selbst“ heißt aber: in unserer Lebenswelt als einziger Wirklichkeitsbedingung des Menschen – also eben keine Metaphysik! – liegen die Möglichkeiten einer sinnstiftenden Fortschrittsgeschichte.

Damit ist also klar, daß Blumenberg mit der Fokussierung auf die Lebenswelt zu einer Geschichtsphilosophie kommt. In den folgenden Posts werde ich zu zeigen versuchen, daß er dies nur kann, weil er es versäumt, die Leiblichkeit des Menschen systematisch auf die Lebenswelt zu beziehen.

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Donnerstag, 5. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (2)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Blumenberg deutet an einer Stelle an, daß es so etwas wie eine „mindere Form" der Wesensanschauung gibt – ähnlich wie Plessner von einer Art primitiver „Witterung" für „Wesenheit" spricht, und bei beiden ist es das Typische. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.14, und Plessner 1980, S.86) Blumenberg bezeichnet das Typische als „mindere Form von Idealisierung". Das Rätselhafte, das sich in diesen Steigerungsformen bis hin zum ‚Ideal‘ und zur ‚Wesenheit‘ verbirgt und für das nach einer Bezeichnung gesucht wird, ist das Verhältnis von Teil und Ganzem, letztlich das Gestalthafte. An anderer Stelle spricht Blumenberg von „Grenzbegriffen": „von der Substanz, die selbst gegenüber keiner anderen Substanz mehr Akzidens ist, von der Ursache, die ihrerseits gegenüber keiner anderen Ursache Wirkung ist, und von dem Ganzen, das seinerseits gegenüber keinem anderen Ganzen Teil ist." (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.35).

Diese Grenzbegriffe verweisen auf rätselhafte Zusammenhänge, die sich logisch nicht auflösen lassen, wo wir aber dennoch nicht anders können, als uns mit ihnen zu befassen. Genau dieses nicht-anders-Können ist aber Kants eigentliches Unterscheidungskriterium zwischen Verstand und Vernunft, die dann letztlich zu einer dualistischen Auffassung von der Welt führt. Der Verstand braucht, ja, darf sich – um seiner geistigen Gesundheit willen – nicht mit diesen Fragen beschäftigen. Die Vernunft wiederum kann nicht anders, als sich mit ihnen zu befassen – und dabei unweigerlich in schlechte Metaphysik abzugleiten. Und jede Metaphysik, die die Welt und ihre Wirklichkeit verdoppelt, in eine empirische und in eine intellektuelle, ist schlecht.

Genau darum komme ich immer wieder auf den Gestaltbegriff zurück. Hier bewege ich mich auf dem Boden der Wahrnehmung, – also auf sicherem Grund. Und auch Blumenberg zweifelt von hier her an der Tauglichkeit des Wesensbegriffs; mit Blick auf Husserls Phänomenologie in die Vergangenheitsform fallend hält er fest: „Es gab den auf seine Essenz reduzierbaren Gegenstand gar nicht; jeder Gegenstand war eingebettet in einen Horizont von Relationen, von Verweisungen, Bezüglichkeiten, Erwartungen, typischen Vorgriffen, der nicht eliminierbar war, ohne in die Binnenstruktur des Gegenstandes selbst verarmend einzugreifen." (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.117) – Von der den Wahrnehmungsanalysen entnommenen Horizontstruktur her, die jeden Gegenstand von den äußeren bis in die inneren Verweisungszusammenhänge hinein kennzeichnet, bezweifelt Blumenberg, daß sich die Gegenstände auf ein ihnen zugrundeliegendes oder innewohnendes Wesen zurückführen lassen.

Dennoch nehmen wir individuelle Gestalten wahr! Es gibt also so etwas wie einen „Identitätspol": „Gegenstände sind nicht Konglomerate von Bewußtseinsinhalten, sondern ursprüngliche Identifizierbarkeit, ihre Zuordnung zu je einem Identitätspol." (Vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.193) – Das ist das Rätsel, um das es geht und für das Philosophen Begriffe wie ‚Wesen‘ oder ‚Idee‘ verwenden, womit sie unweigerlich bei Platon landen und nicht zuletzt die Welt verdoppeln: in eine intellektuelle und in eine empirische.

Was aber nun für die Gegenstände, also für Bewußtseinsinhalte gilt, muß nicht notwendigerweise auch für die Art und Weise gelten, wie das Bewußtsein funktioniert, für seine ‚Leistungen‘, wie es Husserl nennt. Wir haben es schon bei Wiesings „Mich der Wahrnehmung" gesehen: Die Art und Weise, in der die Wahrnehmung uns ihre Gegenstände gibt, konstituiert Wirklichkeit. Das hat durchaus etwas Wesenhaftes, etwas Ideelles an sich, ohne deshalb gleich in eine metaphysische Welt abzugleiten. Die Art und Weise, wie wir Gegenstände wahrnehmen, gibt ihnen ‚Gestalt‘, fügt sie zu einem individuellen Ganzen zusammen, und von diesem Ganzen, dieser Gestalt her verstehen wir, wie die Teile funktionieren. Das ‚Wesen‘ steckt also in der Gestalt, im Ganzen eines Phänomens, ohne daß wir deshalb die Welt verdoppeln und die Grenzen des Verstandes überschreiten müßten.

So wendet sich Husserl dann auch in seiner Spätphilosophie der Lebenswelt als einem Grenzbegriff zu, bei dem es ihm nicht mehr um eine inhaltliche, sondern um eine formale Wesensbestimmung geht: „Wenn Husserl die große Aufgabe einer reinen Wesenslehre von der Lebenswelt sich gestellt sah, so ging es dabei nicht um einen durch Idealität ausgezeichneten Gegenstand, sondern um die Gewinnung einer Grenzvorstellung, die der Konstruktion eines geschichtslosen Anfanges der Geschichte, einer atheoretischen ‚Vorgeschichte‘, gerecht werden sollte und damit die Möglichkeit der ‚Wiederholung‘ eines radikalen Anfanges im Denken zu legitimieren hatte ..." (vgl. „Theorie der Lebenswelt", S.200). Beim ‚Wesen‘ der Lebenswelt haben wir es also nur noch mit einer formalen Notwendigkeit zu tun!

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Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (1)

Das von Manfred Sommer aus dem Nachlaß herausgegebene Buch von Hans Blumenberg möchte ich in sechs aufeinanderfolgenden Posts besprechen. Zur Orientierung soll der folgende Überblick dienen:

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Was mich immer am meisten interessiert, ist die mit Kants Forderung, sich keiner anderen Autorität als dem eigenen Verstand zu unterwerfen, verknüpfte Frage, wie das funktionieren soll bzw. was das überhaupt ist, der eigene Verstand und wie er funktioniert. Die Hauptzielrichtung gegen die Scheinautorität institutionalisierter Machthaber ist klar. Doch Kant selbst weist schon darauf hin, daß es diesen äußeren Mächten gegenüber eine innere Bereitschaft der Subjekte gibt, sich lieber ihnen zu unterwerfen als dem eigenen Verstand. Denn es bedarf des Mutes, also der Bereitschaft und der Kraft, eventuelle unangenehme Folgen eines eigenen Verstandesgebrauchs hinzunehmen.

Aber das Problem reicht tiefer. Denn wer vom fehlenden Mut spricht, bewegt sich noch im Bereich bewußter Entscheidungen. Es gibt aber auch unbewußte Haltungen, Vorurteile, Bequemlichkeiten etc., die uns selbst da am eigenen Verstandesgebrauch hindern, wo wir uns in der vollsten Freiheit des eigenen Verstandesgebrauchs wähnen, stattdessen aber nur dem undurchdachten Zeitgeist huldigen. Es sind gerade die Selbstverständlichkeiten, die sich unserem wachen Verstand entziehen und ihn unbemerkt entmündigen. Sie setzen einen Scheinverstand an die Stelle des eigenen, und wir nehmen ihn als unseren eigenen an und halten an ihm fest, ihn auch dort verteidigend, wo uns andere dabei helfen wollen, uns eines besseren zu besinnen.

Blumenberg beschreibt genau diese Situation anhand des Platonischen Höhlengleichnisses: die Bewohner einer Höhle blicken, auf Stühlen gefesselt, auf die Höhlenwand, auf der sich dunkle Schatten bewegen, die sie für die Wirklichkeit halten, weil sie nie etwas anderes kennengelernt haben. Diese dunklen Schatten bilden den Gegenstand ihres Verstandes, mit dem er sich beschäftigt. Es ist durchaus ihr eigener Verstand, denn sie gebrauchen ihn auf die ihnen mögliche Weise. Ihre Mutmaßungen über die Natur der Schatten, die sie für die Wirklichkeit halten, sind ganz und gar ihre eigenen. Dabei macht es keinen Unterschied, daß sich hinter ihrem Rücken eine Illusionsmaschinerie abspielt, daß hinter einer Mauer vor einem Feuer Figuren hin und her getragen werden, deren auf die Höhlenwand projizierte Schatten von den Höhlenbewohnern beobachtet werden.

Einer dieser Höhlenbewohner hatte aber die Höhle verlassen und die wirkliche Welt draußen gesehen. (Interessanterweise unterschlägt Platon aber, daß der Höhlenbewohner bei dieser Gelegenheit auch die Illusionsmaschinerie hatte sehen müssen. Der Hinweis auf diese Illusionsmaschinerie wäre ein wichtiges Argument in der nachfolgenden Auseinandersetzung mit den Höhlenbewohnern gewesen!) Er kehrt zurück, um den anderen Höhlenbewohnern über die wirkliche Welt zu berichten. Blumenberg beschreibt das nun folgende Dilemma des Rückkehrers als ein Legitimationsproblem. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.159) Der Rückkehrer in die Höhle und die Zurückgebliebenen haben keine gemeinsame Anschauung von der Wirklichkeit mehr; das heißt, sie haben letztlich keinen gemeinsamen Verstand, auf den sie sich berufen könnten. Das macht Blumenberg zufolge den zurückkehrenden Lehrer sprachlos, – eine Sprachlosigkeit, die schlimmer ist, als wenn sie nur verschiedene Sprachen sprechen würden, denn hätten sie nur gemeinsame Anschauungen, würden sie sich auch schnell auf eine gemeinsame Sprache verständigen!

In einer solchen Situation bleibt allen Beteiligten nur eine Möglichkeit: jeder kann nur dem jeweils eigenen Verstand vertrauen. Eine wechselseitige Annäherung könnte nur schrittweise erfolgen, durch allmähliche Erweiterung der jeweiligen Horizonte, denn nicht nur die Zurückgeblieben haben einen eingeschränkten Horizont, sondern auch der Rückkehrer, der die Schattenwelt der Höhlenbewohner nicht mehr versteht. Hier wäre die gemeinsame Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf die Illusionsmaschinerie im Hintergrund hilfreich, ein Blick über die Mauer auf das, was dahinter vor sich geht. Aber diese Möglichkeit wird von Platon unterschlagen, und auch Blumenberg greift sie nicht auf. Wichtig ist an dieser Stelle vor allem eins: der Verstand des Rückkehrers – egal was er draußen ‚in der Wirklichkeit‘ für Erfahrungen gemacht haben mag – hat keine höhere Autorität als der Verstand der Zurückgebliebenen, und deshalb hat der Rückkehrer das von Blumenberg angesprochene Legitimationsproblem.

Und genau an dieser Stelle wird nun auch klar, was die Phänomenologie so geeignet macht, den autonomen Verstandesgebrauch jedes Menschen, unabhängig von seiner Intelligenz und seinem sozialen Prestige, zu stärken und zu schulen: es ist ihr Gegenstand, also daß sie sich mit dem beschäftigt, „was jeder schon kennt oder zu kennen glaubt oder jederzeit ohne Aufwand und Methode kennen zu können meint“ („Theorie der Lebenswelt“, S.29). Ein Gegenstand, den jeder kennt oder zu kennen meint – das macht vor dem eigenen Verstand zunächst keinen Unterschied –, ist der ideale Gegenstand für jedermann! Jeder hat etwas dazu zu sagen, und kein angeblicher Experte kann ihm den Mund verbieten wegen angeblicher Unzuständigkeit. Phänomenologen sind also paradoxe Experten für etwas, über das jedermann genauso gut Bescheid weiß wie irgendwer anderes: für die Lebenswelt!

Wer schon mal Alfred Schütz’ und Thomas Luckmanns „Strukturen der Lebenswelt“ gelesen hat, weiß, was das für das betreffende Expertenwissen bedeutet. Ich persönlich jedenfalls habe selten ein langweiligeres Buch gelesen als dieses, denn nahezu alles, was es darin zu lesen gibt, versteht sich von selbst, und es steht wirklich nichts, rein gar nichts für den Leser irgendwie Neues darin. Blumenberg bezeichnet deshalb auch nicht von ungefähr die Phänomenologie als „selbsterklärte Wissenschaft von den Trivialitäten“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.28). Bei dieser Feststellung kann es natürlich nicht bleiben. Letztlich kommt es doch wieder darauf an, was die Phänomenologie mit diesen Trivialitäten macht. Blumenberg beschreibt ihre Aufgabe „als Auflösung aller Selbstverständlichkeiten in Verständlichkeit“. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.31)

Damit sind wir nun genau bei dem Punkt, von dem der eigene Verstand jedes Menschen unendlich profitiert. Es sind gerade die Selbstverständlichkeiten, die unseren Verstand, auf den wir uns Kant zufolge immer beziehen sollen, hinterrücks – also gerade da, wo wir am meisten glauben, bei uns selbst, bei unserem eigenen Verstand zu sein – entmündigen, denn: „Es war eine der bitteren Erfahrungen des Rationalismus und Empirismus der gesamten Aufklärung, daß Vorurteile unerkannt überleben konnten, während man dabei war, die vordergründigen zu beseitigen, und daß es Quellen für die Neuentstehung von Vorurteilen gab, die sich nicht so leicht zum Versiegen bringen ließen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.123)

Die Phänomenologie verhilft uns bzw. unserem Verstand zu einer schrittweisen Aneignung seiner selbst, indem sie uns über die Selbstverständlichkeiten aufklärt, von denen wir in unserem Denken immer schon ausgehen, ohne uns dessen bewußt zu sein. Und gerade das ist wieder spannend und überhaupt nicht langweilig. Man muß sich nur davor hüten, die Phänomenologie in der reinen Beschreibung von Selbstverständlichkeiten verharren und erstarren zu lassen. Es besteht hier durchaus die Gefahr eines möglichen Bündnisses „zwischen einer Phänomenologie der Lebenswelt und einer hinterweltlerischen Sehnsucht nach Affirmation der gemütlichen Erstarrung“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.47). Zwei Bewegungsrichtungen unserer Verstandestätigkeiten müssen in der Balance gehalten werden: die ‚naive‘ und die selbstkritische. Die Naivität beschreibt Blumenberg als „Kraft“, als „Kraft der Naivität“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.172), denn es bedarf zum von Kant angesprochenen „Mut“, den eigenen Verstand zu gebrauchen, einer gehörigen Portion Naivität. Eine allzu große Skepsis hinsichtlich der Ursprünglichkeit der eigenen Anschauungen würde uns im vorhinein zum Schweigen verurteilen, und wir würden nie den Mund aufmachen. Pure Naivität jedenfalls, so Blumenberg, liegt Husserls „Prinzip aller Prinzipien“ zugrunde, „der Verweisung aller Bewußtseinsakte auf originär gebende Anschauung als letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen ...“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.173).

Zugleich bedarf es aber eben auch der Kritik und der Selbstkritik gegenüber den Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Verstandes: „Es gibt bei Husserl keine Unschuld dessen, was er die natürliche Erfahrung nennt; vielmehr gilt es, ihre Schuld zu kennen und zu übernehmen, um jenen Schuldigkeiten nachkommen zu können, die uns auferlegt sind; so vollzieht schon die gesamte natürliche Erfahrung eine Art Abstraktion, die dann das philosophische Denken dazu verführt, bloße Abstrakte zu verabsolutieren.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.199) – In all den lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten, in unserer natürlichen Erfahrung, liegt eine ständige ‚natürliche‘ Neigung, phänomenale Zusammenhänge zu hypostasieren, Symbole, die auf Wirkliches verweisen, für das Wirkliche selbst zu nehmen. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.173) Man braucht dabei nur an den längst nicht abgegoltenen, nach wie vor virulenten Nominalismus/Realismus-Streit der Scholastik zu denken.

Naivität und Selbstkritik gehören also eng zusammen und nur zusammen ergeben sie das, was Kant den eigenen Verstandesgebrauch nennt. Nun spricht Blumenberg aber von der Notwendigkeit, den Verstand zur Vernunft zu bringen, (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.209/213), also im Grunde genommen vom Verstand als der naiven Komponente und von der Vernunft als der selbstkritischen Komponente des Bewußtseins. Dem liegt die kantische Differenzierung zwischen Verstand und Vernunft zugrunde, die aber schon hinsichtlich ihres Urhebers an mangelnder Konsequenz leidet. Denn wenn die Vernunft das Vermögen der Ideen und Prinzipien ist und der Verstand das Vermögen der Anschauung, dann hätte Kant seine Aufklärungsformel, in der es um den eigenen Verstandesgebrauch geht, anders formulieren müssen: denn letztlich ginge es ja vor allem um den eigenen Vernunftsgebrauch!

Für mich ist diese Differenzierung insofern nicht brauchbar, als Kant den Verstand auf die sinnlichen Anschauungen bezieht, auf die ich als Fundament eines eigenständigen Verstandesgebrauchs (kantisch Vernunftsgebrauchs!) nicht verzichten kann. Den ‚Verstand‘ zur ‚Vernunft‘ bringen zu wollen, bedeutet letztlich, dies auf dem Boden des Verstandes selbst zu tun, – also Naivität und Kritik.

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