„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 5. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (1)

Das von Manfred Sommer aus dem Nachlaß herausgegebene Buch von Hans Blumenberg möchte ich in sechs aufeinanderfolgenden Posts besprechen. Zur Orientierung soll der folgende Überblick dienen:

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Was mich immer am meisten interessiert, ist die mit Kants Forderung, sich keiner anderen Autorität als dem eigenen Verstand zu unterwerfen, verknüpfte Frage, wie das funktionieren soll bzw. was das überhaupt ist, der eigene Verstand und wie er funktioniert. Die Hauptzielrichtung gegen die Scheinautorität institutionalisierter Machthaber ist klar. Doch Kant selbst weist schon darauf hin, daß es diesen äußeren Mächten gegenüber eine innere Bereitschaft der Subjekte gibt, sich lieber ihnen zu unterwerfen als dem eigenen Verstand. Denn es bedarf des Mutes, also der Bereitschaft und der Kraft, eventuelle unangenehme Folgen eines eigenen Verstandesgebrauchs hinzunehmen.

Aber das Problem reicht tiefer. Denn wer vom fehlenden Mut spricht, bewegt sich noch im Bereich bewußter Entscheidungen. Es gibt aber auch unbewußte Haltungen, Vorurteile, Bequemlichkeiten etc., die uns selbst da am eigenen Verstandesgebrauch hindern, wo wir uns in der vollsten Freiheit des eigenen Verstandesgebrauchs wähnen, stattdessen aber nur dem undurchdachten Zeitgeist huldigen. Es sind gerade die Selbstverständlichkeiten, die sich unserem wachen Verstand entziehen und ihn unbemerkt entmündigen. Sie setzen einen Scheinverstand an die Stelle des eigenen, und wir nehmen ihn als unseren eigenen an und halten an ihm fest, ihn auch dort verteidigend, wo uns andere dabei helfen wollen, uns eines besseren zu besinnen.

Blumenberg beschreibt genau diese Situation anhand des Platonischen Höhlengleichnisses: die Bewohner einer Höhle blicken, auf Stühlen gefesselt, auf die Höhlenwand, auf der sich dunkle Schatten bewegen, die sie für die Wirklichkeit halten, weil sie nie etwas anderes kennengelernt haben. Diese dunklen Schatten bilden den Gegenstand ihres Verstandes, mit dem er sich beschäftigt. Es ist durchaus ihr eigener Verstand, denn sie gebrauchen ihn auf die ihnen mögliche Weise. Ihre Mutmaßungen über die Natur der Schatten, die sie für die Wirklichkeit halten, sind ganz und gar ihre eigenen. Dabei macht es keinen Unterschied, daß sich hinter ihrem Rücken eine Illusionsmaschinerie abspielt, daß hinter einer Mauer vor einem Feuer Figuren hin und her getragen werden, deren auf die Höhlenwand projizierte Schatten von den Höhlenbewohnern beobachtet werden.

Einer dieser Höhlenbewohner hatte aber die Höhle verlassen und die wirkliche Welt draußen gesehen. (Interessanterweise unterschlägt Platon aber, daß der Höhlenbewohner bei dieser Gelegenheit auch die Illusionsmaschinerie hatte sehen müssen. Der Hinweis auf diese Illusionsmaschinerie wäre ein wichtiges Argument in der nachfolgenden Auseinandersetzung mit den Höhlenbewohnern gewesen!) Er kehrt zurück, um den anderen Höhlenbewohnern über die wirkliche Welt zu berichten. Blumenberg beschreibt das nun folgende Dilemma des Rückkehrers als ein Legitimationsproblem. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.159) Der Rückkehrer in die Höhle und die Zurückgebliebenen haben keine gemeinsame Anschauung von der Wirklichkeit mehr; das heißt, sie haben letztlich keinen gemeinsamen Verstand, auf den sie sich berufen könnten. Das macht Blumenberg zufolge den zurückkehrenden Lehrer sprachlos, – eine Sprachlosigkeit, die schlimmer ist, als wenn sie nur verschiedene Sprachen sprechen würden, denn hätten sie nur gemeinsame Anschauungen, würden sie sich auch schnell auf eine gemeinsame Sprache verständigen!

In einer solchen Situation bleibt allen Beteiligten nur eine Möglichkeit: jeder kann nur dem jeweils eigenen Verstand vertrauen. Eine wechselseitige Annäherung könnte nur schrittweise erfolgen, durch allmähliche Erweiterung der jeweiligen Horizonte, denn nicht nur die Zurückgeblieben haben einen eingeschränkten Horizont, sondern auch der Rückkehrer, der die Schattenwelt der Höhlenbewohner nicht mehr versteht. Hier wäre die gemeinsame Aufmerksamkeit aller Beteiligten auf die Illusionsmaschinerie im Hintergrund hilfreich, ein Blick über die Mauer auf das, was dahinter vor sich geht. Aber diese Möglichkeit wird von Platon unterschlagen, und auch Blumenberg greift sie nicht auf. Wichtig ist an dieser Stelle vor allem eins: der Verstand des Rückkehrers – egal was er draußen ‚in der Wirklichkeit‘ für Erfahrungen gemacht haben mag – hat keine höhere Autorität als der Verstand der Zurückgebliebenen, und deshalb hat der Rückkehrer das von Blumenberg angesprochene Legitimationsproblem.

Und genau an dieser Stelle wird nun auch klar, was die Phänomenologie so geeignet macht, den autonomen Verstandesgebrauch jedes Menschen, unabhängig von seiner Intelligenz und seinem sozialen Prestige, zu stärken und zu schulen: es ist ihr Gegenstand, also daß sie sich mit dem beschäftigt, „was jeder schon kennt oder zu kennen glaubt oder jederzeit ohne Aufwand und Methode kennen zu können meint“ („Theorie der Lebenswelt“, S.29). Ein Gegenstand, den jeder kennt oder zu kennen meint – das macht vor dem eigenen Verstand zunächst keinen Unterschied –, ist der ideale Gegenstand für jedermann! Jeder hat etwas dazu zu sagen, und kein angeblicher Experte kann ihm den Mund verbieten wegen angeblicher Unzuständigkeit. Phänomenologen sind also paradoxe Experten für etwas, über das jedermann genauso gut Bescheid weiß wie irgendwer anderes: für die Lebenswelt!

Wer schon mal Alfred Schütz’ und Thomas Luckmanns „Strukturen der Lebenswelt“ gelesen hat, weiß, was das für das betreffende Expertenwissen bedeutet. Ich persönlich jedenfalls habe selten ein langweiligeres Buch gelesen als dieses, denn nahezu alles, was es darin zu lesen gibt, versteht sich von selbst, und es steht wirklich nichts, rein gar nichts für den Leser irgendwie Neues darin. Blumenberg bezeichnet deshalb auch nicht von ungefähr die Phänomenologie als „selbsterklärte Wissenschaft von den Trivialitäten“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.28). Bei dieser Feststellung kann es natürlich nicht bleiben. Letztlich kommt es doch wieder darauf an, was die Phänomenologie mit diesen Trivialitäten macht. Blumenberg beschreibt ihre Aufgabe „als Auflösung aller Selbstverständlichkeiten in Verständlichkeit“. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.31)

Damit sind wir nun genau bei dem Punkt, von dem der eigene Verstand jedes Menschen unendlich profitiert. Es sind gerade die Selbstverständlichkeiten, die unseren Verstand, auf den wir uns Kant zufolge immer beziehen sollen, hinterrücks – also gerade da, wo wir am meisten glauben, bei uns selbst, bei unserem eigenen Verstand zu sein – entmündigen, denn: „Es war eine der bitteren Erfahrungen des Rationalismus und Empirismus der gesamten Aufklärung, daß Vorurteile unerkannt überleben konnten, während man dabei war, die vordergründigen zu beseitigen, und daß es Quellen für die Neuentstehung von Vorurteilen gab, die sich nicht so leicht zum Versiegen bringen ließen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.123)

Die Phänomenologie verhilft uns bzw. unserem Verstand zu einer schrittweisen Aneignung seiner selbst, indem sie uns über die Selbstverständlichkeiten aufklärt, von denen wir in unserem Denken immer schon ausgehen, ohne uns dessen bewußt zu sein. Und gerade das ist wieder spannend und überhaupt nicht langweilig. Man muß sich nur davor hüten, die Phänomenologie in der reinen Beschreibung von Selbstverständlichkeiten verharren und erstarren zu lassen. Es besteht hier durchaus die Gefahr eines möglichen Bündnisses „zwischen einer Phänomenologie der Lebenswelt und einer hinterweltlerischen Sehnsucht nach Affirmation der gemütlichen Erstarrung“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.47). Zwei Bewegungsrichtungen unserer Verstandestätigkeiten müssen in der Balance gehalten werden: die ‚naive‘ und die selbstkritische. Die Naivität beschreibt Blumenberg als „Kraft“, als „Kraft der Naivität“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.172), denn es bedarf zum von Kant angesprochenen „Mut“, den eigenen Verstand zu gebrauchen, einer gehörigen Portion Naivität. Eine allzu große Skepsis hinsichtlich der Ursprünglichkeit der eigenen Anschauungen würde uns im vorhinein zum Schweigen verurteilen, und wir würden nie den Mund aufmachen. Pure Naivität jedenfalls, so Blumenberg, liegt Husserls „Prinzip aller Prinzipien“ zugrunde, „der Verweisung aller Bewußtseinsakte auf originär gebende Anschauung als letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen ...“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.173).

Zugleich bedarf es aber eben auch der Kritik und der Selbstkritik gegenüber den Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Verstandes: „Es gibt bei Husserl keine Unschuld dessen, was er die natürliche Erfahrung nennt; vielmehr gilt es, ihre Schuld zu kennen und zu übernehmen, um jenen Schuldigkeiten nachkommen zu können, die uns auferlegt sind; so vollzieht schon die gesamte natürliche Erfahrung eine Art Abstraktion, die dann das philosophische Denken dazu verführt, bloße Abstrakte zu verabsolutieren.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.199) – In all den lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten, in unserer natürlichen Erfahrung, liegt eine ständige ‚natürliche‘ Neigung, phänomenale Zusammenhänge zu hypostasieren, Symbole, die auf Wirkliches verweisen, für das Wirkliche selbst zu nehmen. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.173) Man braucht dabei nur an den längst nicht abgegoltenen, nach wie vor virulenten Nominalismus/Realismus-Streit der Scholastik zu denken.

Naivität und Selbstkritik gehören also eng zusammen und nur zusammen ergeben sie das, was Kant den eigenen Verstandesgebrauch nennt. Nun spricht Blumenberg aber von der Notwendigkeit, den Verstand zur Vernunft zu bringen, (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.209/213), also im Grunde genommen vom Verstand als der naiven Komponente und von der Vernunft als der selbstkritischen Komponente des Bewußtseins. Dem liegt die kantische Differenzierung zwischen Verstand und Vernunft zugrunde, die aber schon hinsichtlich ihres Urhebers an mangelnder Konsequenz leidet. Denn wenn die Vernunft das Vermögen der Ideen und Prinzipien ist und der Verstand das Vermögen der Anschauung, dann hätte Kant seine Aufklärungsformel, in der es um den eigenen Verstandesgebrauch geht, anders formulieren müssen: denn letztlich ginge es ja vor allem um den eigenen Vernunftsgebrauch!

Für mich ist diese Differenzierung insofern nicht brauchbar, als Kant den Verstand auf die sinnlichen Anschauungen bezieht, auf die ich als Fundament eines eigenständigen Verstandesgebrauchs (kantisch Vernunftsgebrauchs!) nicht verzichten kann. Den ‚Verstand‘ zur ‚Vernunft‘ bringen zu wollen, bedeutet letztlich, dies auf dem Boden des Verstandes selbst zu tun, – also Naivität und Kritik.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen