„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 6. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (3)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

In dem Aufsatz „Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie“ („Theorie der Lebenswelt“, S.181-224) entwickelt Blumenberg einen Begriff von geschichtlicher Kontinuität, vom historischen Sinn, der sich diametral von dem Geschichtsverständnis von Plessner unterscheidet. Ich führe den Unterschied in der Geschichtsauffassung darauf zurück, daß Blumenberg den Fokus auf die Lebenswelt richtet und die Leiblichkeit des Menschen nur am Rande streift, während Plessner mit den Sinnesorganen genau diese Leiblichkeit in den Mittelpunkt seines Interesses rückt. (Vgl. meine Posts vom 14. und vom 15.07.10)

Plessner bestreitet entschieden, daß es außerhalb der Geschichtsbücher so etwas wie eine geschichtliche Kontinuität geben könne: „Man vergißt unter dem Eindruck der Kontinuität geschriebener Geschichtsbücher und dessen, was man uns gesagt hat, immer wieder die einfache Tatsache, daß in Wirklichkeit es nie so aussehen kann, wie es in literarischer Fassung erscheint und daß ‚Geschichte‘ nicht die Aufzeichnung möglichst sämtlicher vergangener Weltvorgänge oder Menschenbegebenheiten ist, von denen ja nur ein verschwindender Bruchteil sich faktisch manifestiert.“ (Plessner 1980, S.144f.) – Denn anders als bei gegenständlichen Erscheinungsformen, bei denen „(i)n der Ausgangswahrnehmung () die einheitliche Bewegungsgestalt“ vorgegeben ist (vgl. Plessner 1980, S.121), fehlt eine solche individuelle Gestaltwahrnehmung bei historischen ‚Gegenständen‘ völlig: „Geschichte hat also überhaupt keine vorgegebene Grundlage in einem intuitiv einheitlichen Ganzen. Also fehlt die letzte Kontrollmöglichkeit der historischen Reihenbildung (durch Motivationszusammenhänge) an zusammenhängenden Erscheinungen in einer Anschauung.“ (Plessner 1980, S.147)

Damit bewegt sich Plessner auf der Höhe gegenwärtiger Theorien zum kulturellen bzw. kommunikativen Gedächtnis (vgl. insbesondere hinsichtlich des kommunikativen Gedächtnisses Harald Welzer, Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung, München 2/2008). Blumenberg hingegen verbindet seine phänomenologischen Analysen der Technik, genauer: der Technisierung als Prozeß (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.191), mit geschichtsphilosophischen Erwägungen: „Die Logik in der Geschichte hat etwas zu tun mit der Frage nach der Identität in der Geschichte ... Wir suchen deshalb zu verstehen, weil nur Verstehen uns dessen versichert, daß wir in der Identität menschlichen Handelns und Verhaltens stehen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.232) – Blumenberg geht also von einer über die leibliche Konstitution des individuellen Menschen hinausgehenden lebensweltlich begründeten Konstitution des inter- oder sogar suprasubjektiven Menschen aus, also von der „Identität menschlicher oder menschheitlicher Subjekte“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.232)): „Der einzelne Mensch ist gar nicht mögliches Subjekt einer unendlichen Aufgabe, dieses Subjekt muß in Gestalt der Gesellschaft, der Nation, der Menschheit, der Wissenschaft künstlich konstituiert werden, und zwar als ein dem Glücksanspruch des Individuums gegenüber rücksichtslos gebietendes Prinzip.“ („Theorie der Lebenswelt“, S.219)

Die „unendliche Aufgabe“, von der Blumenberg hier spricht, ist die der Wissenschaft, die selbst schon durch die Formalisierung ihrer Gegenstände einen der Technik entsprechenden mechanischen Anspruch beinhaltet, die Phänomene selbst zu produzieren. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.203) Unendlich ist ihre Aufgabe, weil sie davon ausgeht, ihre Gegenstände nie vollständig in Besitz nehmen zu können. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.177f.)

Nun sind zwar Blumenberg zufolge alle Menschen potentielle „Funktionäre“ dieser unendlichen Aufgabe, nämlich als „lebendige Bewegung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung“ (vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.196), aber die Phänomenologie hat im Rahmen dieses gemeinschaftlichen Projekts eine herausragende Position inne: „Die Phänomenologie ist die abschließende und nun freilich unendliche Aufgabe einer Geschichte, die sich alle Auswege zum reinen Sein als mystische Sackgassen versagen mußte und nirgendwo anders als in der Höhle selbst und unter deren Ausgangsbedingungen erfahren und bestanden werden kann.“ („Theorie der Lebenswelt“, S.164) – „Nirgendwo anders als in der Höhle selbst“ heißt aber: in unserer Lebenswelt als einziger Wirklichkeitsbedingung des Menschen – also eben keine Metaphysik! – liegen die Möglichkeiten einer sinnstiftenden Fortschrittsgeschichte.

Damit ist also klar, daß Blumenberg mit der Fokussierung auf die Lebenswelt zu einer Geschichtsphilosophie kommt. In den folgenden Posts werde ich zu zeigen versuchen, daß er dies nur kann, weil er es versäumt, die Leiblichkeit des Menschen systematisch auf die Lebenswelt zu beziehen.

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