„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 7. August 2010

Hans Blumenberg, Theorie der Lebenswelt, Berlin 2010 (4)

1. Der eigene Verstand
2. Und noch einmal: Anmerkungen zum Wesensbegriff
3. Geschichte: Plessner und Blumenberg im Vergleich
4. Lebenswelt und virtuelle Welten
5. Methode und Beweisverzicht
6. Die ‚Antinomie‘ der Phänomenologie

Gerade Blumenbergs im letzten Post angesprochener Technikaufsatz regt zu ein paar Gedanken über den Zusammenhang von Lebenswelt und virtueller Welt an. Denn der Prozeß der Technisierung stellt eine Umkehrung der von Kant beschriebenen Aufklärung als Mut, seinen eigenen Verstand zu gebrauchen, dar. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.123) Und von dieser Umkehrung der Aufklärung in ihr Gegenteil ist auch die Wissenschaft selbst betroffen, die ja als Projekt der Aufklärung mit dem Anspruch angetreten war, alle undurchdachten Vorurteile und Werturteile aus der Welt zu schaffen.

Zunächst möchte ich kurz auf den Zusammenhang von Lebenswelt und Mythos eingehen. Im Mythos geht es Blumenberg zufolge im Unterschied zur Wissenschaft um das Vermeiden von Erkenntnis: „Mythen antworten nicht auf Fragen, sie machen unbefragbar.“ („Arbeit am Mythos“, S.142) Indem sie das „Erklärungsbedürfnis“ stillegen („Arbeit am Mythos“, S.144), vermeiden sie einen unendlichen Regreß, wie sie jeder vollständige Erklärungsversuch beinhaltet (vgl. „Arbeit am Mythos“, S.143). Deshalb ist der Mythos keine Vorform der Wissenschaft (vgl. „Arbeit am Mythos“, S.184). Der Mythos läßt deshalb keine Fragen offen, weil er keine beantwortet. (Vgl. „Arbeit am Mythos“, S.193)

Es ist sogar so, daß Fragen zu beantworten seine eigentliche Funktion, den Absolutismus der Wirklichkeit zu bewältigen, torpedieren würde. Sobald Fragen gestellt werden, werden wieder Sorgen und Ängste geweckt, die der Mythos gerade verhindern soll. Es gibt also ein unverächtliches Bedürfnis des Menschen, keine Fragen stellen zu müssen, und diesem Bedürfnis kommt der Mythos entgegen, indem er den Anschein erzeugt, alles zu sagen und nichts ungesagt zu lassen; so kommt es, daß im Mythos ein immenser Sinnüberschuß („Es ist alles voll von Göttern!“) dafür sorgt, daß keine Fragen offenbleiben, obwohl gar keine beantwortet werden. Das eigentliche Bedürfnis des Menschen, in der Welt heimisch zu werden und zu sein, kann nicht im unendlichen Regreß von Fragen und Antworten befriedigt werden. Der Mythos trägt dazu bei, diesen Regreß, diesen Teufelskreis, stillzustellen. Erst so wird der Mensch handlungsfähig.

Ganz ähnlich wie den Mythos beschreibt Blumenberg nun die Lebenswelt: „Ihre (der Lebenswelt – DZ) Rationalität besteht nicht darin, nach Gründen nicht fragen zu wollen oder zu sollen oder zu können, sondern nach ihnen nicht fragen zu brauchen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.85) – Und: „Der Lebensweltbegriff enthält die Anweisung, die Rationalität von Begründungslosigkeit zu denken, nicht die der verweigerten Begründung vom Typus theologischer Antworten ... Begründungslosigkeit kann nur gerechtfertigt werden durch Funktionssicherheit nicht für das Leben, sondern für das Bewußtsein.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.90)

Es erstaunt also nicht, daß Blumenberg Lebenswelt und Mythos in enger Arbeitsteilung aufeinander bezieht, indem er die Mythen immer aus der Lebenswelt hervorgehen läßt, während er ihr mögliches Ende als offen bezeichnet: „Geschichten dieser Art (Mythen – DZ) dürfen irgendwo aufhören, aber sie müssen in der Lebenswelt anfangen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.138)

Inwiefern kehrt die Technisierung nun den Prozeß der Aufklärung und der Wissenschaft um? Die wissenschaftliche Theorie hat ihren Ausgangspunkt in der Lebenswelt, indem sie deren Vorurteile in Frage stellt, und sie beginnt sich mit zunehmender analytischer Schärfe und disziplinärer Formalisierung von dieser Lebenswelt zu entfernen, mit dem unendlichen Ziel einer restlos aufgeklärten, vorurteilsfreien Welt vor Augen. (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.28, 31f., 35, 107f., 164, 204) Dabei vollzieht sie insbesondere in Form der Naturwissenschaft die Abstraktion einer reinen Körperwelt: „Die Abdeckung dieser geschichtlichen Bedingtheit ermöglicht es dem modernen Bewußtsein zu glauben, die exakte Wissenschaft könne mit Hilfe der Mathematik die hinter den Erscheinungen gleichsam versteckte ‚an sich wahre Welt‘ entdecken und darstellen. Die Abdeckung der Genesis dieser exakten Objektwelt durch Abstraktion aus der Lebenswelt begründet die fraglose Natürlichkeit dieser Natur.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.204f.) Dieser von der Lebenswelt ausgehende, mit der Anschaulichkeit auch die Einsichtigkeit ihrer Ergebnisse verhindernde Abstraktionsprozeß der Wissenschaft beinhaltet zugleich eine technische Anweisung, „denn was formalisiert werden kann – das heißt: was seine Anwendbarkeit unabhängig von der Einsichtigkeit des Vollzuges gewinnt –, das ist auch im Grunde schon mechanisiert ...“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.215)

Von der Wissenschaft, die ursprünglich den menschlichen Verstand aus seinen lebensweltlichen Abhängigkeiten befreien sollte, geht also eine neue Form der Entmündigung des Verstandes aus, die schon im Wesen der Formalisierung begründet ist: „Technisierung ist Verwandlung ursprünglich lebendiger Sinnbildung zur Methode, die sich weitergeben läßt, ohne ihren Urstiftungssinn mitzuführen, die ihre Sinnesentwicklung abgestreift hat und im Genügen an der bloßen Funktion nicht mehr erkennen lassen will.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.206) – Und weiter: „Der von Husserl analysierte Prozeß der Verdeckung des Entdeckten erreicht erst darin sein Telos, daß das im theoretischen Fragen unselbstverständlich Gewordene zurückkehrt in die Fraglosigkeit. ... Die Technisierung reißt nicht nur den Fundierungszusammenhang des aus der Lebenswelt heraustretenden theoretischen Verhaltens ab, sondern sie beginnt ihrerseits, die Lebenswelt zu regulieren, indem jene Sphäre, in der wir noch keine Fragen stellen, identisch wird mit derjenigen, in der wir keine Fragen mehr stellen.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.211)

Insofern also die Technisierung einen Verdeckungszusammenhang darstellt, in dem wir keinen Einblick mehr in den Zusammenhang der technischen Effekte und Apparate haben, die wir völlig unspezifisch alle mit einem Knopfdruck in Gang setzen können, insofern also mit der Technisierung „das im theoretischen Fragen unselbstverständlich Gewordene zurückkehrt in die Fraglosigkeit“, haben wir nicht nur in der Technik die Wiederkehr der Lebenswelt, sondern die technischen Apparate stellen sogar im (Blumenbergschen) Wortsinne mythische Objekte dar.

Diese hier beschriebenen Zusammenhänge lassen uns an die virtuellen Welten des Cyberspace denken, in denen wir uns inzwischen im Web 2.0 bewegen, in denen das tägliche Leben nachgespielt wird, ein Leben, an dem wir mit Hilfe von Avataren teilnehmen. Diese virtuellen Welten bestätigen den Verlust der Lebenswelt, indem sie Ersatz dafür schaffen. Und auch ihr Hauptmerkmal scheint mir zu sein, daß sie uns die Möglichkeit verschaffen, wieder in eine Welt der Selbstverständlichkeiten einzutauchen, die wir nicht in Frage zu stellen brauchen – und damit auch uns selbst nicht.

Zugleich haben diese virtuellen Welten den Vorteil, zwar wie eine Lebenswelt zu funktionieren, stattdessen aber technische ‚Umwelten‘ zu bilden, die der vollen rechnerischen Kontrolle unterliegen: „Eine Welt ist diejenige Realität, in der man sich umsieht, ehe man sich verhält; eine Umwelt diejenige, in der man sich verhält, ohne sich umsehen zu müssen, weil sie ständig die bestimmtesten Informationen für die Regelung des Verhaltens gibt.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.66) – Eine Umwelt wird nicht durch Gegenstände ausgefüllt, wie die Lebenswelt, sondern durch Informationen reguliert. (Dazu im nächsten Post mehr!) Sie ist deshalb – anders als die Lebenswelt – manipulierbar, und das heißt letztlich kontrollierbar: „Es scheint einfacher und machbarer, eine Realität rings um das Subjekt so zu bauen, daß dieses im positiven oder zumindest im gewünschten Sinne beeinflußt wird, als es selbst unmittelbar zu beeinflussen. Die gewandelte oder eingerichtete Umwelt zeichnet sich in ihrem Einfluß auf die Individuen durch ständige Präsenz, auch bei Absenz der Einflußnehmer, die doch noch anderes zu tun haben, aus.“ (Vgl. „Theorie der Lebenswelt“, S.67)

So mündet der Prozeß der Aufklärung und Verwissenschaftlichung nicht nur in einer Welt der technischen Objekte, die wir aus unserer technischen Lebenswelt nicht mehr wegdenken können (weil sie sich aufgrund ihres mythischen Charakters nicht hinterfragen lassen), sondern die technischen Objekte bringen aus sich eine neue Lebensform hervor, die sich von der Lebenswelt dadurch unterscheidet, daß sie von den verschiedensten „Einflußnehmern“ gemacht wurde – ob nun mit dem Bewußtsein der Einflußnahme oder nicht – und die die totale Kontrolle über unser Bewußtsein ausübt. Eine wirkliche Horrorvision, auf die Husserl und Blumenberg zwar ansatzweise hingedacht hatten, die sie aber in dieser Form wohl kaum vorhergesehen haben. Und insbesondere Blumenberg ist bei all diesen Gedankengängen eigentlich viel technikfreundlicher, als es hier den Anschein hat. Er verbindet, wie wir im vorangegangenen Post gesehen haben, mit der Technik alles in allem und trotz bedenklicher Nebenwirkungen eine Fortschrittsgeschichte.

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