„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 22. Oktober 2010

Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975 (1928)

1. Dingphänomene
2. Zwei Anmerkungen zu den Dingphänomenen (A & B)
3. Lebensphänomene: Pflanzen
4. Lebensphänomene: Tiere
5. Lebensphänomene: Menschen (A, B & C)
6. Entwicklungsphänomene

Bisher haben wir die Begriffe ‚Gestalt‘ und ‚Ganzes‘ synonym verwendet. Plessner hält zunächst fest: „‚Ganzes‘ und ‚Gestalt‘ bedeuten insoweit dasselbe, als beide darin übereinstimmen, mehr zu sein als die Summe ihrer Teile.“ (S.93), um dann aber doch hinsichtlich der Frage nach der Erscheinungsweise lebendiger Dinge zwischen diesen beiden Begriffen zu differenzieren. Die Frage, wie sich lebende von toten Dingen unterscheiden, führt nämlich, so Plessner, über die Grenzen des prinzipiell sinnlich Wahrnehmbaren hinaus. Plessner kennzeichnet das Lebendige als eine „übergestalthafte Ordnungsform“ (vgl.S.99, 102, 104f. 121), für die er nun den Begriff des „Ganzen“ reserviert. (Vgl.S.121) Dieses Ganze liegt insofern im uns erscheinenden Bereich des Phänomenalen – sonst könnten wir hier nicht von ‚Lebensphänomenen‘ sprechen –, als jeder Mensch mit unmittelbarer Evidenz zwischen lebenden und toten Dingen zu unterscheiden vermag, wenn er sie sieht. Er kann diesen Unterschied vielleicht nicht benennen, nicht auf Begriffe bringen, aber er kann ihn sehen, und zwar auf eine nicht-sinnliche Weise. Der Unterschied liegt letztlich ganz einfach im ‚Verhalten‘ lebendiger und toter Dinge: Lebendes verhält sich anders als Totes, – so sehr, daß man den Begriff des Verhaltens voll und ganz für die lebenden Dinge reserviert und ihn niemals auf tote Dinge anwenden würde. Beziehen wir diesen Begriff dennoch auch auf tote Materialien, so in dem deutlichen Bewußtsein, daß wir ihm hier einen völlig neuen Inhalt geben.

Letztlich bleibt die Frage, was das Verhalten ermöglicht, also die Frage nach dem Leben prinzipiell unbeantwortbar. Für die Annäherung an eine solche Antwort kommen allerdings Plessner zufolge empirische „Indikatoren“ in Betracht: „Empirische Wesensmerkmale sind vergänglich, sie haben nur indikatorischen Wert für eine andere Seinssphäre [die Lebensphänomene – DZ], deren Erscheinungen sie sind. Die apriorischen Wesensmerkmale [des Lebens – DZ] werden von dieser Vergänglichkeit nicht berührt, denn sie konstituieren die konstante Schicht konkreter anschaulicher Erscheinung, von der die empirische Wissenschaft immer wieder ihren Ausgang nehmen muß.“ (S.117f.) – Als solche Indikatoren für Lebendigkeit werden genannt: Plastizität, Unstetigkeit im Stetigen, Tendenzcharakter der Bewegung (einem vorgegebenen Ziel zu folgen). (Vgl.S.124ff.) Als „Unstetigkeit im Stetigen“ bezeichnet Plessner kleinere Unregelmäßigkeiten in der Gestalt und in der Bewegung, z.B. die von der idealen Kreisform abweichende Gestalt des Eies oder periodische und rhythmische Vorgänge im Organismus, wie z.B. den Herzschlag. Diese von Damasio als „Homöodynamik“ (vgl. Ich fühle also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins, Berlin 8/2009, S.172) bezeichnete Unstetigkeit im Stetigen umfaßt dabei nicht nur biologische, sondern auch geistige Phänomene, neben der Musik z.B. auch Mnemotechniken (Versmaß, Reime etc.) und Lernstrategien.

Ähnlich bedeutsam scheint mir unter diesen Indikatoren der Tendenzcharakter der Bewegung zu sein, weil er auf die Intentionalität verweist, die dem Verhalten bzw. dem Handeln zugrundeliegt. Bewegt sich ein Objekt gegen die Wahrscheinlichkeit in eine bestimmte Richtung, z.B. einen Abhang hinauf, anstatt hinunter, so schreiben wir ihm Intentionalität zu und damit Lebendigkeit.

Was das Verhalten betrifft, so taugt dieses Kriterium zur Unterscheidung der lebenden von den toten Dingen nur bedingt, – denn Pflanzen bewegen sich natürlich nicht wie Tiere, und Intentionalität kann man ihnen noch weniger zusprechen. Um also auch Pflanzen zu erfassen, nimmt Plessner als grundlegendes, allem Leben gemeinsames Kriterium das Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze (vgl.S.121), d.h. ob der Körper „reiner Übergang vom Einen zum Anderen, vom Anderen zum Einen“ ist oder ob er die „Begrenzung“ zwischen ihnen „vollzieht“ bzw. ob er dieser „Übergang selbst ist“. (Vgl.S.103) „Reiner Übergang“ ist der Körper, wenn ihn ein anderer Körper anstößt oder umgekehrt bzw. wenn er mit dem ihn umgebenden Medium in einfacher, mechanischer Kausalität Energien und Zustände austauscht, also wenn sich z.B. ein Körper der Temperatur seiner Umgebung anpaßt. Ist ein Körper seine Grenze bzw. vollzieht er sie, so entsteht ein neues Phänomen, ein neue Stufe der Erscheinung: der Körper erhält ein von seinem Milieu unabhängiges Sein.

Von der anorganischen Ebene der Dingphänomene übernimmt die neue Stufe des ‚Seins‘ die Doppelaspektivität der Gestalt als die zwei Richtungen der Transgredienz über das schon Sichtbare auf das noch Unsichtbare hinaus und von der äußeren Gestalt auf den inneren Kern hinein; auf der neuen Stufe wandeln sich aber diese zwei Richtungen durch den veränderten Bezug auf die Grenze, durch den das Dingphänomen zu einem in seinem Umfeld eigenständigen, lebendigen Ganzen wird, in einen Stoffwechselprozeß um: „Kraft seiner Positionalität allein, nach der das lebendige Ding in ihm hinein – über ihm hinaus (gesetzt) ist, zerfällt es in ihm selber in zwei gegensinnige Prozesse [Dissimilation und Assimilation – DZ] und gliedert sich durch sie als selbständige Einheit in die Welt der Körperdinge ein.“ (S.199)

Diese neue Erscheinungsform der ‚Gestalt‘ des Lebens als Ganzes von Stoffwechselprozessen bezeichnet Plessner auch als „Positionalität“ (vgl.S.127-132), um damit die ‚Heraushebung‘ (Plessner: „Anhebung“) der neuen Phänomene aus der Ebene der Dingphänomenalität anzudeuten, ihre „Setzung“ als eine neue Seinsebene bzw. als neue Form des Erscheinens. Der Begriff der Positionalität verweist außerdem darauf, daß die lebendigen Dinge jetzt einen eigenen, die Richtungen von Raum und Zeit kontrollierenden, nicht relativen Ort haben: „Jedes physische Körperding ist im Raum, ist räumlich. Seine Lage besteht, was ihre Messung angeht, in Relation zu anderen Lagen und zur Lage des Beobachters. Von dieser Relativordnung sind auch die lebendigen Körper als physische Dinge nicht ausgenommen. Aber erscheinungsmäßig unterscheiden sich die lebendigen von den unbelebten als raumbehauptende von den nur raumerfüllenden Körpern. Jedes raumerfüllende Gebilde ist an einer Stelle. Ein raumbehauptendes Gebilde dagegen ist dadurch, daß es über ihn hinaus (in ihm hinein) ist, zu der Stelle ‚seines‘ Seins in Beziehung. Es ist außer seiner Räumlichkeit in in den Raum hinein oder raumhaft und hat insofern seinen natürlichen Ort.“ (S.131f.)

Das mit dem Leben einhergehende eigene Verhältnis des Körpers zu seiner Grenze kann wiederum zwei grundsätzlich verschiedene Formen annehmen: die offene und die geschlossene Form, die Plessner jeweils den Pflanzen und den Tieren zuspricht: „Offen ist diejenige Form, welche den Organismus in allen seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umgebung eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht.“ (S.219) – Pflanzen sind so sehr Bestandteil ihrer Umwelt, daß sie selbst wiederum als Umwelt wahrgenommen werden. Sie treten nicht als eigenständige Individuen auf. Ausgehend von diesem grundlegenden Merkmal der offenen pflanzlichen Lebensform macht Plessner sieben weitere Merkmale auf, die zugleich spiegelbildlich auf die entsprechenden Merkmale von Tieren verweisen. Diese Merkmale sollten allerdings – auch wenn es in ihrer Ausformulierung oft grundsätzlich hergeht – nicht als der Weisheit letzter Schluß verstanden werden. Zu fast allen lassen sich in der Pflanzenwelt auch Gegenbeispiele finden.

Zu diesem Merkmalen gehört erstens die „Tendenz zur äußeren, der Umgebung direkt zugewandten Flächenentwicklung ..., die wesensmäßig mit der Unnötigkeit einer Bildung irgendwelcher Zentren zusammenhängt.“ (S.219f.) – Pflanzen breiten sich also in ihrem Wachstum in der Fläche aus, anstatt sich nach innen hin organisch zu differenzieren.

Diese fehlende innere Ausdifferenzierung von Organen führt zweitens dazu, daß die einzelnen Teile einer Pflanze getrennt vom Ganzen selbständig weiter existieren können. Außerdem bleiben einzelne Phasen in der Entwicklung der Pflanze sichtbar, wie z.B. bei den Jahresringen des Baumes, während beim Tier die verschiedenen Entwicklungsphasen immer im Ganzen des Körpers aufgehen bzw. in ihm verschwinden. (Vgl.S.220) Daraus (Jahresringe) ergibt sich drittens auch gleich ein weiteres Merkmal, das darin besteht, daß sich Pflanzen von innen nach außen entwickeln. (Vgl.S.221)

Da die Pflanzen auf Grund ihrer offenen Organisationsform zu ihrer Umgebung hin keine endgültige Grenze haben, sind sie viertens in ihrer Entwicklung nie ‚fertig‘. Die Pflanze wächst nach außen hin immer weiter. (Vgl.S.221)

Pflanzen ernähren sich fünftens vor allem von anorganischen Stoffen. (Vgl.S.222)

Pflanzen kennen sechstens keine Fortbewegung. Alle Bewegung findet an der Pflanze statt, durch Wachstum, keine Bewegungen gehen von ihr aus. (Vgl.S.222)

Siebtens spricht Plessner der Pflanze aufgrund des mit der Offenheit der Form einhergehenden Mangels an Zentralisation die „Gabe des Bewußtseins“ ab: „Empfindung und Handlung (d.h. durch Assoziationen modifizierbare, zentral vermittelte Bewegungen) widersprechen dem Wesen offener Form.“ (S.225)

Wie gesagt ergeben viele dieser Merkmale schon spiegelbildlich die Merkmale tierischen Lebens, dem Plessner mit der geschlossenen Organisationsform wiederum eine „Anhebung“ auf eine neue Seinsstufe, nach der anorganischen und der pflanzlichen, zuspricht.

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