„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 8. Dezember 2010

Zum Zerfall der Autoritäten: der eigene Verstand

Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit
bürgerlichen Geistes, Frankfurt a.M. 6/1998 (1935/59)
1. Die letzte Autorität
2. Der wissenschaftliche ‚Fortschritt‘
3. Lebenswelt und Nihilismus
4. Postscriptum: Resonanz

Bei den vier Büchern von Plessner, mit denen ich mich bislang befaßt habe, ist mir aufgefallen, daß einige wesentliche Begrifflichkeiten, die im Zusammenhang des Körperleibes von zentraler anthropologischer Bedeutung sind, in seinen historischen Büchern mit ganz anderen, zum Teil gegensätzlichen Inhalten auftauchen. So bildet die Geschichte, als Kulturgeschichte, in den „Stufen“ ein wesentliches Moment der menschlichen Expressivität: in ihr bringt sich der Mensch zum Ausdruck und verfehlt sich gleichzeitig in diesem Ausdruck. In den „Grenzen der Menschlichkeit“ kommt die Geschichte dann nur noch als Militärgeschichte vor und dient vor allem der Diplomatie zur Rechtfertigung politischer Entscheidungen. (Vgl. meinen Post vom 14.11.) In „Die verspätete Nation“ bildet die von den Idealen der Aufklärung losgelöste Technik einen seelenlosen Automatismus (vgl. Nation, S.34), während sie in den „Stufen des Organischen“ ein Moment der exzentrischen Positionalität des Menschen bildet, – und deshalb auch nicht einfach zu einem seelenlosen Automatismus verkümmern kann (vgl. Stufen, S.322f.). Ist der Mensch anthropologisch als exzentrische Positionalität gekennzeichnet, so ist alles, was er tut, expressiv und kann nicht durch geschichtliche Ereignisse auf einen bloßen Mechanismus herabsinken. (Nebenbei bemerkt: so argumentiert auch Reemtsma in seinem Buch „Vertrauen und Gewalt“. Nichts was der Mensch tut, tut er ohne innere Zustimmung!)

Diese expressive Grundstruktur der menschlichen Exzentrizität wird von Plessner in „Die verspätete Nation“ sogar auch grundsätzlich dadurch in Frage gestellt, daß er sie selbst als ein geschichtliches Ereignis beschreibt: „Aus einer wirklichen Einsamkeit, die nur da möglich ist, wo Traditionen nicht stark und fraglos genug sind, um den einzelnen von Anfang an zu einem Gesellschaftswesen zu prägen, kann der Mensch sich nicht mit den einfachen Worten der Rede mitteilen.“ (Nation, S.103) Die „Rede“, also die menschliche Expressivität, mißlingt demnach nicht etwa, weil die exzentrische Positionalität den Menschen ‚neben‘ sich stellt, so daß er sich sogar subjektiv selbst dort verfehlt, wo er sein Innerstes auszudrücken glaubt, also nicht nur objektiv aufgrund der widerständigen Medien und Objekte seines Handelns, – so jedenfalls Plessner in den „Stufen“. Die Rede mißlingt vielmehr aufgrund geschichtlicher Ereignisse, weil Traditionen nicht mehr „stark und fraglos genug sind, um den einzelnen von Anfang an zu einem Gesellschaftswesen zu prägen“. Plessners historische Vorgehensweise in den „Grenzen der Gemeinschaft“ und in „Die verspätete Nation“ stimmt offensichtlich nicht mit seiner systematischen Anthropologie überein.

Um so interessanter ist es, daß es dennoch einen methodischen Aspekt gibt, der alle vier Bücher gleichermaßen durchzieht und der hervorragend sowohl mit der historischen als auch mit der anthropologischen Betrachtungsweise zusammenpaßt: ich meine das Resonanzphänomen. Eingeführt wird der Begriff der Resonanz in den „Stufen des Organischen“ als ein spezifisch historisch-philologischer Zugang zu geistig-seelischen Erscheinungskonstellationen: „Die geistige Welt (in welchem Namen die objektiven Korrelate der Texte und Denkmäler einmal zusammengefaßt sein mögen) unterscheidet sich von der physischen Welt hinsichtlich der Erfahrbarkeit schon durch die zu erfüllenden Vorbedingungen auf Seiten des Erkennenden. Dinge der Natur brauchen Sinnesorgane, um zu erscheinen. Geistiges Leben braucht dazu Resonanz und wird nur in Resonanzphänomenen faßbar.“ (Vgl. Stufen, S.15f.)

Der Begriff der Resonanz verweist auf die Bedeutung des Gehörs für geistig-seelische Sinnphänomene, wie es in der „Einheit der Sinne“ erarbeitet wird (vgl. meinen Post vom 15.07): das Gehör ist bei Plessner mit dem Begriff der Haltung verbunden. Über das Gehör wird der körperliche Zustand (Seele, Haltung) beeinflußt, während das Gesicht der Mathematisierbarkeit und Schematisierbarkeit der physischen Welt zugrundeliegt. Der Gesichtssinn ermöglicht also die naturwissenschaftliche Zurichtung der Welt, während das Gehör vor allem dem geisteswissenschaftlichen Verstehen, der Hermeneutik, dient. Das Resonanzphänomen steht also als Vernunftsorgan dem Kausalitätsprinzip des Verstandes gegenüber. Auch die Resonanz stellt ein Kausalitätsprinzip dar, aber eines, das in alle Richtungen weist, wie der Schall, und es hallt wider: diese Kausalität führt nicht vom Verursacher fort, sondern zu ihm zurück! Und man kann deshalb sogar sagen, daß Resonanz nicht nur ein Kausalitätsprinzip, sondern auch ein Reflexionsprinzip darstellt.

Resonanzphänomene finden wir also nicht nur in den leibanthropologischen Büchern von Plessner, sondern auch in seinen historischen Büchern. (Vgl. Grenzen, S.113; Nation, S.12, 14, 24, 30, 40) Und vor allem in „Die verspätete Nation“ wird die Vieldimensionalität der kausalen Natur des Resonanzphänomens deutlich. Plessner beschreibt den Unterschied zwischen Naturzusammenhängen und Kulturzusammenhängen am Beispiel eines Stausees: „Ein Reservoir ist nichts ohne seine Staumauer und ohne seine Zuflüsse. Die elektrische Energie bildet sich nicht ohne das Gefälle und die Umsetzungsmöglichkeit von Energie in Energie. Was in solcher Konstellation aus Regen und Bächen in Elektrizität umgesetzt werden kann, bleibt in aller Formveränderung sich gleich: Natur. Historische Konstellationen sind grundsätzlich anderer Art. Hier geht es um Einflüsse, Traditionen und Überlieferungen, echte und falsche, Träume und Erwartungen. Die Vorstellungen von dem, was man sein will, und der Appell an die Phantasie, die ihrerseits schon an dem Bild der eigenen Geschichte sich vorgebildet hat, wirken zugleich nach vorwärts und rückwärts. Sie rufen die Quellen, sie rufen den Regen, sie schaffen den Stau.“ (Nation, S.12)

Der Stausee bildet einen Körper, ähnlich einem Klangkörper, und er sammelt ähnlich, wie der Zuhörer bei einer Orchesteraufführung in seinem Leib Töne und Klänge zusammenführt, das Wasser der ihn umgebenden Landschaft, das er dann in Form von Energie weitergibt; nur daß es im Bereich „historischer Konstellationen“ nicht bei dieser einfachen Umwandlung und Weitergabe von Energie bleibt; wir haben es vielmehr mit einem Wechselverhältnis der Richtungen nach vorwärts und rückwärts zu tun, also mit einem raum-zeitlichen, leibhaften Resonanzphänomen.

Im Resonanzbegriff vereinigen sich historische und natürliche, anthropologische Beschreibungszusammenhänge. Hierin ist die Geschichtsschreibung nicht einfach eine zufällige Begebenheit, wie z.B. hinsichtlich der „einfachen Worte() der Rede“, die dem Menschen aufgrund geschichtlicher Ereignisse nicht mehr genügen. (Vgl., Nation, S.103) Vielmehr ermöglicht der Resonanzbegriff, die Geschichte selbst als eine Resonanz auf die exzentrische Verfaßtheit des Menschen zu begreifen, der sich in seinen einfachen wie komplexen, auf individueller wie kultureller Ebene unterscheidenden Redeweisen immer schon verfehlt hat, ob er nun darum wußte oder nicht. Und der sich in paradoxer Weise, weil genau darin das Prinzip seiner Expressivität besteht, genau so zum Ausdruck bringt.

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