„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 29. Januar 2011

Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd.1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 7/1988 (1956)

(Über prometheische Scham, S.21-95; Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, S.97-211; Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück „En attendant Godot“, S.213-231; Über die Bombe und die Wurzeln unserer Apokalypse-Blindheit, S.233-308)

1. Bilder, Phantome und Informationen
2. Falsche Lebenswelten (coram publico)
3. Falsche Lebenswelten (Verbiederung)
4. Falsche Lebenswelten (Produktion)
5. Falsche Lebenswelten (Technik, A & B)
6. Falsche Lebenswelten (persönliche Verantwortung)
7. Mensch und Natur
8. homo ‚excentricus‘
9. Skizzen zu einer ästhetischen Bildung

Im letzten Post war von der Menschheit als von der Bombe geformtes Überlebenssubjekt die Rede gewesen. Die exzentrische Positionierung einzelner Generationen zu ihren Vorgänger- und Nachfolgergenerationen war im Prinzip als der exzentrischen Positionalität des einzelnen Menschen gleichartig dargestellt worden. Das war vielleicht etwas voreilig. Anders selbst war tatsächlich der Meinung gewesen, daß die Menschheit unter der Bombe keine andere Chance habe, als ‚zu sich‘ zu kommen, weil alles andere ihr sicheres Ende bedeuten würde. Dabei hat er sich aber nicht die Mühe gemacht, den Status dieser Menschheit im Unterschied zu der von „Religionen und Philosophien, ... Imperien und Revolutionen“ gemeinten näher zu differenzieren. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.308) Bei Plessner wird in diesem Zusammenhang vom Unterschied zwischen ‚Gemeinschaft‘ und ‚Gesellschaft‘ gesprochen und festgehalten, daß die Idee einer Menschheit nur im Rahmen einer gesellschaftlich orientierten Sachgemeinschaft thematisiert werden könne. Kurz: die ‚Menschheit‘ ist bei Plessner vor allem eine Angelegenheit des ‚Geistes‘ und nicht der ‚Seele‘.

Was bedeutet das für die Menschheit, von der bei Anders die Rede ist? Diese Menschheit scheint zunächst eine Sachgemeinschaft zu sein, weil es in ihr ja um die gemeinsame Sache des Überlebens geht. Wenn man näher hinschaut, so ist sie wohl doch eher eine Art Seelengemeinschaft, denn Anders entwirft so etwas wie ein ästhetisches Bildungsprogramm zur Erweiterung des emotionalen Fassungsvermögens der Seele. Nach dem Verweis auf „eine lange Reihe von geschichtlichen Erweiterungs-Beispielen ..., namentlich aus der Geschichte magischer und religiöser Praktiken und aus der Mystik“ kommt Anders auf die ‚uns‘ seiner Ansicht nach näherliegende Erweiterungstechnik der „Musik“ zu sprechen, die unsere Seele auf eine solche „Fassungsweite“ ‚auszudehnen‘ vermag, „die wir selbst ihr gar nicht verleihen könnten.“ (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.313) Mit der Musik, so erhofft es sich Anders jedenfalls, lassen sich „Gefühle“ und Stimmungen erzeugen, so daß das Prometheische Gefälle zwischen Tun und Fühlen durch eine entsprechende musikalische Gefühlsschulung womöglich verringert werden könnte. ((Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.313ff.)

Von der anderen Seite des Prometheischen Gefälles her müßte dann versucht werden, die Technik selbst wieder auf ein menschliches Maß zurückzuführen: „Wenn es unser Schicksal ist, in einer (von uns selbst hergestellten) Welt zu leben, die sich durch ihr Übermaß unserer Vorstellung und unserem Fühlen entzieht und uns dadurch tödlich gefährdet, dann haben wir zu versuchen, dieses Übermaß einzuholen.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.274) – Anders fügt hinzu: „und zwar eben ‚einzuholen‘ so wie man eine ausgeworfene Leine ‚einholt; das heißt: sie zurückzuholen.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.274) – Damit richtet sich Anders gegen den naheliegenden Gedanken eines Wettlaufs zwischen dem Menschen und der Technik und plädiert für die Rückführung der Wirtschaftsordnung auf ein menschliches Maß.

So ist es für Anders vorstellbar, daß Mensch und Technik von zwei Seiten, durch musikalische Erweiterung des gefühlsmäßigen Fassungsvermögens und durch Rückführung der Technik auf ein menschliches Maß, sich wieder einander annähern und zu einem neuen Entsprechungsverhältnis finden könnten. Die Maxime eines solchen ästhetischen Bildungsprogramms müßte dann lauten: „Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden können.“ (Antiquiertheit Bd.1, S.298) – Eine solche Maxime könnte das auf die technischen Notwendigkeiten hin erweiterte seelische Fassungsvermögen mit einer am menschlichen Maß orientierten Technologie verbinden.

Irgendwie erinnern mich die Andersschen Überlegungen – bei allem Respekt vor Anders’ philosophischem und politischem Engagement – doch sehr an Peter Sloterdijks „Menschenpark“. Anders geht sogar so weit – trotz seiner ganzen Kritik an der Technik – von „Selbstverwandlungstechniken“ zu sprechen. (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.275) Aktueller kann ein 1956 geprägter Begriff kaum sein, weil einem dazu unweigerlich Sloterdijks Buch „Du mußt dein Leben ändern“ (2009) einfällt, das mit einem scheinbar alle Verhältnisse umwälzenden Titel auftritt, unter dem es aber leider äußerst zahm zugeht. Denn in Wirklichkeit muß nichts geändert werden, weil Sloterdijk zufolge sich ja schon immer alles geändert hat und wir infolgedessen nur so weiterzumachen brauchen, um auch weiterhin alles so zu verändern wie bisher.

Natürlich ist Anders mit Sloterdijk nicht auf eine Stufe stellen, – aber auch seine Selbstverwandlungstechniken erscheinen doch angesichts der Radikalität seiner Analysen als eher niedlich. Das eigentliche Problem, wie wir vom Ich und Du einer Seelengemeinschaft zum globalen Wir einer Weltgemeinschaft, also zur Menschheit kommen sollen, die ganze Problematik des Verhältnisses von Gemeinschaft und Gesellschaft, kommt in Anders’ ästhetischem Programm nicht mehr vor. Es geht an dem eigentlichen Thema, das hier im Zentrum stehen sollte, die ‚Haltung‘ des Menschen, also wie er sich ‚hält‘, wie er sich ‚hat‘ und wie er sich ‚positioniert‘, vorbei. Bei Anders bleibt man letztlich doch ratlos zurück, und damit ergeht es mir mit ihm am Ende nicht anders als mit Sloterdijk, bei dem ich allerdings nicht weiß, inwiefern er sich überhaupt noch zu den Menschenfreunden zählen würde.

Im Sinne einer Menschenfreundschaft möchte ich jedenfalls Anders das letzte, die letzten zehn Posts abschließende Wort geben: „Und ist, was da auf dem trostlos dürren Grunde der Sinnlosigkeit sprießt: der bloße Ton der Menschlichkeit, auch nur ein winziger Trost; und weiß auch die Tröstung nicht, warum sie tröstet und auf welchen Godot sie vertröstet – sie beweist, daß Wärme wichtiger ist als Sinn; und daß es nicht der Metaphysiker ist, der das letzte Wort behalten darf, sondern nur der Menschenfreund.“ (Vgl. Antiquiertheit Bd.1, S.231)

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