„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. Januar 2011

Zwischenleiblichkeit und Selbsthabe

Plessners pauschal gegen den „modernen Anticartesianismus“ gerichteter Vorwurf, sich der „Leib-Seeleproblematik“ nicht zu stellen, indem ‚sie‘, also die Anticartesianisten, auf eine angeblich noch „problemlose, ursprüngliche Schicht des Daseins und der Existenz“ zurückgehen, könnte nicht nur, wie ich vermute, gegen die Lebenswelttheoretiker gerichtet sein, – er könnte auch, unabhängig von Plessners ursprünglicher Intention, gegen die „Zwischenleiblichkeit“ von Bernhard Waldenfels erhoben werden. (Vgl. ders, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a.M. 2000, S.284ff., S.292ff. S.302f.) Auch diese Zwischenleiblichkeit scheint mir der mit dem Begriff der exzentrischen Positionalität umschriebenen Leib/Körper-Problematik entzogen zu sein und sie gewissermaßen durch ‚Intersubjektivierung‘ zu verdecken: also nicht mehr „habeas corpus“, sondern „habeamus intercorporalitas“. Subjektive Individualität ist für Waldenfels kein Problem mehr, – nur noch eins des Cartesianismus, gegen den er sich wendet. (Z.B. in seiner Kritik zu Hermann Schmitz: Waldenfels 2000, S.278-284)

Zwischenleiblichkeit wird von Waldenfels als Sphäre zwischen „Eigenleib“ und „Fremdleib“ beschrieben. (Vgl. Waldenfels 2000, S.287) Damit lenkt Waldenfels die Aufmerksamkeit vom Subjekt und vom Individuum weg auf soziale Prozesse, denen gegenüber das Subjekt nur noch als Beteiligter sichtbar wird, was bei Waldenfels einhergeht mit einer Entwertung seines (also des Subjekts) Standpunkts. Das zeigt sich u.a. in Waldenfels’ – entfernt an die Differenz von Körper/Seele/Geist erinnernde – Einteilung des „streng Privaten“ als subjektiv, des sachlich Objektiven als „transsubjektiv“ und der Intersubjektivität als der „Sphäre des Zwischen“, also als Zwischenleiblichkeit. (Vgl. Waldenfels 2000, S.292f.) Subjektivität, das subjektive Bewußtsein, das subjektive Individuum, die ‚Person‘, wie immer auch man Subjektivität zuordnen will, hat bei Waldenfels keine eigene Verantwortung für sich und von sich aus, sondern nur vom Anderen her: „Eine Entscheidung ist nicht das Resultat von Einzelnen ...“. Entscheidungsprozesse spielen sich nur „in der Gruppe“ ab und sind „durch sie geprägt“. (Vgl. Waldenfels 2000, S.303)

Waldenfels gesteht selbst ein, daß das „nach einer Vermischung, einer Konfusion aussieht, so daß man nicht deutlich sagen kann, was der eine tut und was der andere, und die Verantwortlichkeiten sich zu verwischen drohen.“ (Waldenfels 2000, S.304) Aber er wendet dagegen ein, daß die „Frage nach dem Wer ... keine trennscharfe Beantwortung zuläßt.“ (Waldenfels 2000, S.304) – Gegen diesen laxen Umgang mit subjektiver Verantwortung habe ich einiges einzuwenden.

Mein Haupteinwand besteht in der oben schon als „Leib/Seele-Problematik“ angesprochenen exzentrischen Positionalität der menschlichen Natur. Diese bestimmt als leib-körperliche Grenze den Weltbezug des menschlichen Handelns. Wir wissen als Individuen um unsere Befindlichkeit und Verletzlichkeit. Wir tragen als Individuen das ganze Risiko der Existenz. Wir sind nie nur an sozialen Entscheidungsprozessen mittelbar Beteiligte, sondern immer auch davon unmittelbar Betroffene. Denn wir haben einen Körper und können uns in ihm den Folgen unserer Entscheidungen oder der Entscheidungen anderer nicht entziehen. Wir sind hier und jetzt präsent, von innen nach außen unseren Bedürfnissen folgend, wie von außen nach innen den auf uns gerichteten Bedürfnissen Anderer ausgesetzt.

So weit Plessner, den Waldenfels in „Das leibliche Selbst“ zwar punktuell, auf ihn verweisend, zitiert, mit dem er sich aber nicht wirklich auseinandersetzt. Das ist besonders deshalb ärgerlich, weil Waldenfels die Differenz von Innen und Außen, also die Doppelaspektivität von Körper-Haben und Körper-Sein, das zentrale Moment der von Plessner beschriebenen exzentrischen Positionalität einfach als unbrauchbare „Dichotomie“ abtut („Wir haben ... von vornherein nichts von dieser Dichotomie ...“ (vgl. Waldenfels 2000, S.221f.)), aber gleichzeitig kein Problem damit hat, sich auf Plessners „Doppelheit als ‚exzentrische Position‘ des Menschen“ zu beziehen (vgl. Waldenfels 2000, S.254), ohne diesen Begriff, zu dem genau diese Doppelaspektivität von Innen und Außen gehört, auch nur im mindesten zu differenzieren.

Waldenfels‘ Ansatz ist von vornherein eine sprachbezogene Phänomenologie, die alle vorsprachlichen Zustände nur als sprachliche Beschreibungen zur Kenntnis nimmt, weshalb es selbstverständlich keine „reine Innenschau“ geben kann, eben „weil sie als Beschreibung immer schon in einer Sprache erfolgt, die nicht nur meine eigene ist.“ (Vgl. Waldenfels 2000, S.221) Da kann ein „Noli me tangere“, wie es Plessner als Kennzeichnung seelischer Zustände formuliert, gar nicht erst in den Blick kommen.

Um mein Konzept der Selbsthabe von Waldenfels’ sprachorientierter Phänomenologie zu unterscheiden, könnte ich es vielleicht versuchsweise als ‚hart‘ bezeichnen und Waldenfels’ Konzept von Zwischenleiblichkeit als ‚weich‘. ‚Weich‘ ist sein Konzept, weil er dem Subjekt aufgrund seiner perspektivischen Beschränkung (vgl. Waldenfels 2000, S.292f.) keinen eigenen Standpunkt zugesteht. Perspektivische Beschränkung beinhaltet durchaus auch der Standort meines Subjektkonzepts, – mal abgesehen davon, daß prinzipiell jeder Standort perspektivisch beschränkt ist. Aber er beinhaltet zugleich ein der Beschränkung Gegenübergestelltsein: eine exzentrische Position. Waldenfels hat kein Verständnis für diese exzentrische Positionalität des Menschen, dieses Zugleich von In-Sein und Gegenüber-Sein, und kann deshalb mit einem Standpunkt, der sich „von nirgendwoher“ begründet, nichts anfangen. (Vgl. Waldenfels 2000, S.283) Sein Vorschlag, in bezug auf die Differenz von „Geist und Natur“ von „Selbstdifferenzierung“ zu sprechen (vgl. ebenda), setzt aber an die Stelle des von ihm abgelehnten „von nirgendwoher“ nur eine weitere nichtssagende Umschreibung desselben Sachverhalts, den Plessner mit der exzentrischen Positionaliät längst in zureichender Weise auf den Begriff gebracht hat.

‚Weich‘ wäre Waldenfels’ Subjektkonzept schließlich auch, weil ihm zufolge die Gegenstände, denen sich das Subjekt zuwendet, von vornherein nur vom Anderen her zu denken sind: das Subjekt kann sie nicht ‚haben‘, in einer ursprünglichen, sein ‚Selbst‘ begründenden, fundierenden Weise. Wahrnehmung wird von vornherein von Waldenfels als etwas gefaßt, das dem Bewußtsein seine Gegenstände nicht etwa ‚gibt‘, sondern es durch die Gegenstände, die wir nur vom Anderen her haben können, „enteignet“(vgl. Waldenfels 2000, S.294), – so als könnte es ein eigenes Bewußtsein unabhängig von Gegenständen geben!

Das Bewußtsein entsteht aber in eins mit seinen Gegenständen, nach meinem ‚harten‘ Konzept, das deshalb ‚hart‘ ist, weil es (das Subjekt) seinen eigenen Standpunkt hat, – wiederum in seinen Gegenständen. Worin sonst? So wie das subjektive Bewußtsein seinen Leib ‚hat‘, ‚hat‘ es auch seine Gegenstände, und es will beides vollständig haben und nicht nur einen Arm oder einen Fuß. Mein Konzept der Subjektivität ist ein Konzept der Selbsthabe, und das beinhaltet, daß ich ein persönliches, subjektives Interesse am Besitz von Gegenständen habe. Ich werde versuchen, meinen Gegenstand mit anderen zu teilen – ich bedarf der Perspektiven der Anderen auf meinen Gegenstand, ohne die er nicht vollständig wäre –, aber ich werde ihn auch gegen eine Mißdeutung, gegen eine Umwandlung in etwas anderes, als ich in ihm sehen kann, verteidigen. Ich werde mich also gegen jeden Versuch wenden, ihn mir wegzunehmen. Dazu brauche ich den Mut, meinen eigenen Verstand zu gebrauchen, ohne Anleitung durch einen Anderen.

Dieses Konzept der Selbsthabe widerspricht nicht dem Gedanken, daß die Gegenstände dem Bewußtsein fremd sind, denn sie leisten ihm Widerstand. Auch dies entspricht der Exzentrizität des Menschen. Er kann sich nicht 1 : 1 die Welt einverleiben, so wenig wie er seine Wünsche 1 : 1 in der Welt umsetzen kann. Aber genau das macht ja die Qualität des Handelns in der Welt aus: daß uns die Erfolge als die befriedigendsten erscheinen, die wir gegen einen Widerstand umsetzen mußten, eine Befriedigung, die uns reine Phantasie oder Fiktion nicht vermitteln können.

PS (18.11.2011): Als wirklich ‚gespenstisch‘ erscheint Waldenfels’ Ablehnung der Innen/Außen-Differenz, wenn man sich vor Augen hält, daß ‚Zwischenleiblichkeit‘ bei Plessner als eine ganz bestimmte gesellschaftliche Funktion, nämlich als ‚Maske‘ beschrieben wird. Diese Maske ist ja das Grundprinzip gesellschaftlicher Schutzmechanismen, die es dem Individuum ermöglichen, sich gegen – im gesellschaftlichen Zusammenhang – unvermeidliche Verletzungen, gegen seelische Entblößungen zu wappnen. Die von Waldenfels als bloß ‚private‘ Subjektivität abgetane Perspektive auf diesen intimen, seelischen Bereich, auf die er möglichst nicht mehr zu sprechen kommen möchte (vgl. Waldenfels 2000, S.228), wird von Plessner als mitten in der Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft stehende, exzentrische Positionalität beschrieben. Waldenfels’ Zwischenleiblichkeit wäre also nicht mal eine Maske, – eher ein leeres Phantom (was an Günther Anders’ „Die Antiquiertheit des Menschen“ erinnert). Verschiedener können zwei Anthropologien nicht sein.

PPS (21.04.2021): Der Begriff der „Selbsthabe“ stammt aus Husserls Phänomenologie und bezeichnet die „ursprüngliche Evidenz“ einer subjektiven Wahrnehmung, deren wir uns durch uns selbst bewußt sind, ohne dazu einer Vermittlung durch andere Menschen und Autoritäten zu bedürfen. Daß ich ein Huhn sehe, seine Federn in meinen Händen spüre, wenn ich es einfange, es rieche und gackern höre, braucht mir niemand zu sagen: es ist meine eigene ursprüngliche Evidenz, daß dem so ist.
Die Selbsthabe entspricht der Kantischen transzendentalen Apperzeption, also dem „Ich denke“, das ich meinen Wahrnehmungen hinzufüge, um sie mir anzueignen. So bekommt die Selbst-Habe auch eine reflexive Note: denn indem ich das Huhn habe, habe ich mich selbst.
Zur reflexiven Bedeutung kommt eine weitere bildungsphilosophische Bedeutung hinzu: Mit dem Huhn habe ich eine Welt, die das unentbehrliche Korrelat jedes menschlichen Selbstbewußtseins ist.
Wilhelm von Humboldt hat diese Selbsthabe in seiner Bildungstheorie als ein subjektives Bedürfnis unseres „Gemüths“ beschrieben, seinen Gegenstand immer ganz haben zu wollen; nicht nur einen Teil des Gegenstands. Dieses Bedürfnis nach Vollständigkeit bildet nicht nur das Fundament des Mensch/Welt-Verhältnisses, sondern es begründet auch die Wissenschaft. Humboldt zufolge ist die Universität eine transdisziplinäre Institution, in der die verschiedenen Disziplinen von dem gemeinsamen Bedürfnis motiviert werden, die Welt als Ganzes zu erkennen.
Denn so wie wir uns selbst nicht als eine aus Einzelteilen zusammengesetzte Maschine verstehen, sondern als ein lebendiges Ganzes, als ein denkendes und fühlendes Ich, verstehen wir auch die Welt uns gegenüber als ein Ganzes. Wir übertragen also unser Bedürfnis, uns selbst zu haben, auf die Welt. Mit weniger geben wir uns nicht zufrieden.
Diese auf Selbsthabe beruhende Bestimmung des Mensch/Welt-Verhältnisses steht scheinbar in einem Widerspruch zur exzentrischen Positionalität (Plessner). Wir haben es mit einem Spannungsverhältnis zwischen einer Bildungsphilosophie, zu der wesentlich eine humane Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Welt gehört, und einer philosophischen Anthropologie zu tun, zu der eine nihilistische Bestimmung des Menschen gehört, der sich und seine Welt nicht hat. Tatsächlich bildet die Selbsthabe aber im Sinne W.v. Humboldts ein Bedürfnis, ist also Teil unserer gebrochenen Intentionalität. Zu unserem Umgang mit der Welt gehört es deshalb, dem Bedürfnis nach Selbsthabe in unserer BedürfnisorganisationAusdruck zu geben. Plessner beschreibt diese zweifache, Welt habende und nicht-habende Bestimmung des Mensch/Welt-Verhältnisses als Doppelaspektivität.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen