„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 29. April 2011

Viktor Mayer-Schönberger, Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten, Berlin 2010 (2009)

  1. Gesellschaftliches Gedächtnis und individuelles Wachstum
  2. Entropie und das Prinzip der Negation
  3. Vergessen und Urteilsvermögen
  4. Analoge Gedächtnismedien und digitales Gedächtnis (fragmentierte Positionalität)
  5. Erinnern als Narrativität (Reembedding)
  6. Problembewußtsein wecken mit Verfallsdaten

Mayer-Schönbergers größte Sorge betrifft „unser Urteilsvermögen sowie unsere Fähigkeit zum zeitgerechten Handeln“, die er durch das „umfassende() digitale() Erinnern“ bedroht sieht. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.152) Dabei mißtraut er technischen Lösungen, die das Problem auf der Ebene zu lösen versuchen, auf der es entsteht: eben auf der Ebene der technischen Infrastruktur eines umfassenden digitalen Gedächtnisses. Das Problem, nicht mehr vergessen zu können, „lässt sich nicht an irgendeine Technik delegieren: Wir Menschen müssen uns Wert und Bedeutung des Vergessens vergegenwärtigen.“ (Vgl.M.-Sch. 2010, S.217)

Mit dieser Problembeschreibung befindet sich Mayer-Schönberger voll und ganz auf dem Problemniveau, auf dem wir uns in diesem Blog mit Fragen zur „Erkenntnisethik“ auseinandersetzen. Die Gefahr, die nach Mayer-Schönbergers Analyse unserem Urteilsvermögen durch ein umfassendes digitales Erinnern droht, besteht vor allem darin, daß sich der Mensch im Laufe der Evolution an einen Vorrang des Vergessens vor dem Erinnern angepaßt hat: Erinnern war die Ausnahme, Vergessen die Regel. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.11, 20, 63 u.ö.)

Das Vergessen hat dem Menschen den nötigen Freiraum zur Verfügung gestellt, zu lernen und sich zu entwickeln. Ein umfassendes Gedächtnis, das alles unterschiedslos erinnert, ob es der Erinnerung wert ist oder nicht, verhindert individuelles Wachstum, weil innere Neuorientierungen und Anpassung an äußere, lebensweltliche Veränderungen nur dort möglich sind, wo Vergangenes in den Hintergrund treten und in Vergessenheit geraten kann. Unser Urteilsvermögen ist genau auf diese Fähigkeit zu situationsangemessenen Neubewertungen bisherigen ‚Wissens‘ und vergangener Erfahrungen existentiell angewiesen. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.152) Das hat auch eine gesellschaftliche Seite, denn eine Gesellschaft, die nicht vergessen kann, tilgt auch keine Strafregister und erläßt keine Schulden (M.-Sch. 2010, S.23f.): „Ohne Unterschied eingesetzt, trübt das digitale Gedächtnis nicht nur das Urteilsvermögen derer, die sich erinnern, sondern es verweigert auch jenen, an die man sich erinnert, den zeitlichen Freiraum, sich zu entwickeln.“ (M.-Sch. 2010, S.150)

Die gesellschaftliche Dimension der individuellen Freiheit zeigt sich nicht nur an solchen den Gesetzen unterworfenen, institutionalisierten Mechanismen wie der fristgerechten Tilgung von Strafregistern, mit der die Gesellschaft ihren Mitgliedern offiziell und amtlich zugesteht, sich ändern zu können, in diesem Fall also die Fähigkeit, sich zu resozialisieren. Solche Gesetze können ja auch geändert oder sogar abgeschafft werden, – je nach den politischen Verhältnissen. Die gesellschaftliche Dimension zeigt sich vor allem auch an den lebensweltlichen Bedingungen des individuellen Verhaltens. Wer sich zu Zeiten analoger Kommunikationsmedien in einer bestimmten Region oder Wohngegend ‚unbeliebt‘ gemacht hatte, aus welchen Gründen auch immer, konnte immer noch zum äußersten Mittel eines Neuanfangs greifen und umziehen oder sogar auswandern. Mayer-Schönberger spricht in diesem Zusammenhang von „informationeller Privatinsolvenz“. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.120) Damit ist gemeint, daß ein Mensch, der in einer bestimmten sozialen Situation in eine ausweglose Lage geraten ist, also gewissermaßen sozial ‚bankrott‘, in einer neuen Umgebung wieder bei Null anfangen kann, weil dort seine Mitmenschen noch über keine Informationen zu seiner Person verfügen.

Das ist in Zeiten eines digitalen Gedächtnisses, das allen über das Internet jederzeit zur Verfügung steht, nicht mehr möglich. Nicht einmal mehr „symbolischer Suizid“ wäre möglich, – Slavoj Žižeks Metapher für einen absoluten Neuanfang. Die Metapher des symbolischen Suizids verweist übrigens auf ein Problem bei dem von Mayer-Schönberger gewählten Bild von der informationellen Privatinsolvienz: Mayer-Schönberger arbeitet vor allem mit dem Informationsbegriff, – wenn er auch dessen beschränkte Reichweite durchaus zur Kenntnis nimmt, insofern er auf die Notwendigkeit verweist, daß Informationen „interpretiert“, d.h. mit „Bedeutung“ versehen werden müssen, bevor man etwas mit ihnen anfangen kann. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.47) Das macht den Unterschied zwischen Maschine (Computer) und Bewußtsein aus. Denn Informationen gehen nie in der abstrakten Form in unser Bewußtsein ein, in der sie in den verschiedenen analogen oder digitalen Medien ‚zwischengespeichert‘ werden, sondern wir statten sie immer schon mit Bedeutung aus. Dazu aber in einem der folgenden Posts mehr.

Das gesellschaftliche Gedächtnis basierte in Zeiten vor dem Internet vor allem auf analogen Informationsmedien, insbesondere seit dem 19. Jhdt. die Zeitungen und dann im 20. Jhdt. auch die Rundfunkmedien. Nach Mayer-Schönberger formten diese Medien auf gesellschaftlicher Ebene „gemeinsame Erinnerungen“ (vgl.M.-Sch. 2010, S.56): „Die Massenmedien fördern die Konstruktion eines gemeinsamen Gedächtnisses weit über gemeinsam Erlebtes, über unmittelbare Augenzeugenberichte und über enge geografische Grenzen hinaus. So konnten selbst weit entfernte Ereignisse für die Zeitungsleser des 19. und 20. Jahrhunderts nicht nur den Raum transformieren, sondern auch die Zeit – und gemeinsame Erinnerung schaffen.“ (M.-Sch. 2010, S.57)

Das erinnert nicht von ungefähr an Assmanns „zerdehnte Situation“. (Vgl. meinen Post vom 29.01.2011) Aber dennoch sollte das gesellschaftliche Gedächtnis nicht mit dem kulturellen Gedächtnis verwechselt werden. Denn die gemeinsamen Erinnerungen, die die Massenmedien erzeugen, sind sehr kurzfristig und entsprechen eher einem Kurzzeitgedächtnis als dem Langzeitgedächtnis der Kultur. Hinzu kommt, daß diese Art gemeinsamer Erinnerungen in Zeiten, in denen es nur wenige öffentlich-rechtliche Rundfunkkanäle gegeben hatte, auch eine andere Qualität gehabt hatte als in Zeiten des Privatfernsehens, in denen man von vergleichbar gemeinsamen Erlebnissen vor dem Monitor auf gesellschaftlicher Ebene kaum noch sprechen kann. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.58) Soweit Mayer-Schönbergers Analyse, die an dieser Stelle ihre Grenze hat und lange nicht an die Qualität der Medienkritik von Günther Anders heranreicht. Anders unterscheidet dezidiert zwischen dem Informationswert von Nachrichten und dem Erlebnisgehalt realer Erfahrungen und Wahrnehmungen und baut darauf seine Kritik an der Phantomhaftigkeit des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Produktionsprozesses auf. Bei Mayer-Schönberger spielt diese Unterscheidung – wie schon erwähnt – nur am Rande eine Rolle.

Wir haben es also bei dem gesellschaftlichen Gedächtnis nicht mit dem kulturellen Gedächtnis zu tun, allenfalls mit einer Schrumpfform desselben, insofern es sich um einen Filtermechanismus handelt, der unsere gemeinsame Aufmerksamkeit auf bestimmte tagespolitische oder andere aktuelle Ereignisse lenkt und alles andere ausblendet. (Vgl.M.-Sch. 2010, S.56) In dieser Form entspricht es dem individuellen Gedächtnis, das genauso ‚filtert‘, indem es das ‚Wichtige‘ behält und erinnert und alles Unwichtige vergißt. Abgesehen von seinen sonstigen, von Anders beklagten negativen Auswirkungen auf das individuelle Bewußtsein (Phantomisierung, Entrealisierung der individuellen Persönlichkeit durch die Massenmedien) ist das gesellschaftliche Gedächtnis also durchaus ‚natürlich‘; es ist vergeßlich und läßt deshalb individuelles Wachstum zu, weshalb es Mayer-Schönberger zufolge noch nicht das individuelle Urteilsvermögen bedroht.

Diese Bedrohung entsteht erst mit dem digitalen Gedächtnis des Internets, und dem wollen wir uns in den folgenden Posts zuwenden.

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