„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 18. Mai 2011

Frans de Waal, Das Prinzip Empathie. Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können, München 2011 (2009)

1.    Forschungsmethoden
2.    Die Natur des Menschen
    a)    Merkmale, Ursprungsmythen und Prinzipien
    b)    Egoismus und Selbst
    c)    Die russische Puppe (Schichtenmodell)
3.    Haltung und Empathie
    a)    Verkörperte Kognition

    b)    Der zweiteilige Prozeß
    c)    Der Abschaltknopf
4.    Unbeteiligte Perspektivenübernahme
5.    Ko-Emergenz-Hypothese

Im Bezug auf die Empathie spricht de Waal auch von der „verkörperten Kognition“ (vgl.de Waal 2011, S.84), also von einer Kognition, die weitgehend unbewußt und mit hohem Tempo vor sich geht (vgl.de Waal 2011, S.109): „Das Forschungsfeld der ‚verkörperten‘ Kognition steckt noch weitgehend in den Kinderschuhen, ist aber von weitreichender Bedeutung für unser Verständnis menschlicher Beziehungen. Unwillkürlich versetzen wir uns in die Körper der Menschen in unserer Umgebung, so dass ihre Bewegungen und Gefühle ein Echo in uns hervorrufen, als wären es unsere eigenen.“ (de Waal 2011, S.84)

Das erinnert an Damasios „rasche Kognition“ und an das, was ich Haltung nenne. (Vgl.u.a. meinen Post vom 31.12.2010) Bei de Waal kommt allerdings noch eine Komponente hinzu, die ich im Begriff der Haltung bislang vernachlässigt habe, obwohl die mit der Haltung verbundene Expressivität sie eigentlich impliziert: gemeint ist die wechselseitige Verständlichkeit von Haltungen, die de Waal auch in Analogie zum Mind-Mapping als „Body-Mapping“ beschreibt (vgl.de Waal 2011, S.75f., 91): „Wir beginnen zu ahnen, in welch starkem Maße menschliche wie tierische Kognition sich über den Körper vollzieht. Unser Gehirn ist nicht wie ein kleiner Computer, der den Körper herumkommandiert, vielmehr ist die Körper-Gehirn-Beziehung eine Zweibahnstraße. ... Körper bringen sich in alles ein, was wir wahrnehmen und denken.“ (de Waal 2011, S.83f.)

‚Haltung‘ habe ich bislang eher als ein Sich-Halten verstanden, also als eine Form der Selbstverankerung gegenüber der beständigen Neigung zur Stimmungsübertragung. Damit ging es mir vor allem darum, die Basis der individuellen Urteilskraft sicherzustellen. Gerade weil mir wie de Waal die ungeheure Bedeutung von synchronisierenden Mechanismen der Verhaltenskoordination und der Gefühlsansteckung, die wir mit einem psychologischen Begriff einfach als Gruppendynamik beschreiben können, bewußt ist, habe ich im Begriff der Haltung immer dieses Moment des Sich-Festhaltens gegenüber dem Moment des Sich-Loslassens besonders hervorgehoben. Dennoch macht es wohl keinen Sinn, Haltung nur als eine Form der Selbst-Expression zu verstehen. Body-Mapping verweist darauf, daß es auch ein kommunikatives Moment in der Haltung gibt, in der wir nicht nur uns selbst halten, sondern uns auch mit dem Anderen halten, – daß wir uns zueinander verhalten!

Genauso wie Damasio hebt de Waal also hervor, daß die „Körper-Gehirn-Beziehung“ keine Einbahnstraße darstellt, sondern eine Wechselbeziehung, in der, zumindest was die Empathie betrifft, der Körper das Primat hat. Als neuronale Grundlage dieser „Körpersprache“ (de Waal 2011, S.21, 104, 112ff., 202u.ö.) nennt de Waal die Spiegelneuronen (vgl.de Waal 2011, 108f., 156u.ö.). Allerdings verweist er hier auf ein Problem, das seiner Ansicht nach allein mit dem Verweis auf Spiegelneuronen nicht geklärt werden kann: „Ich muß sagen, dass ich die Nachahmung bei Neugeborenen höchst verwirrend finde. Wie kann ein Baby – ob Mensch oder nicht – einen Erwachsenen nachahmen? Die Forscher mögen neuronale Resonanz oder Spiegelneuronen ins Spiel bringen, doch damit lässt sich kaum das Rätsel lösen, wie das Gehirn (besonders ein so unreifes wie das des Neugeborenen) die Körperteile eines anderen Individuums zutreffend auf den eigenen Körper projiziert. () Das bezeichnet man als Korrespondenzproblem. Woher weiß das Baby, dass die eigene Zunge, die es nicht einmal sehen kann, dem rosigen fleischigen Muskelorgan entspricht, das es zwischen den Lippen eines Erwachsenen hervorgleiten sind? Wobei das Wort wissen irreführend ist, da das alles offenkundig unbewusst geschieht. Artgrenzen überschreitendes Body-Mapping ist noch verwirrender.“ (de Waal 2011, S.75f.)

De Waal nennt als weiteres unerklärliches Phänomen die Nachahmung zwischen verschiedenen Spezies, wenn z.B. ein Mensch mit den Armen wedelt und ein Delphin, ihn nachahmend,  mit den Brustflossen wackelt. (Vgl.ebd.) Ich selbst finde die Leistungen von Blindenhunden bemerkenswert, die ein erstaunliches Einfühlungsvermögen in die körperlichen Beschränkungen menschlicher Mobilität an den Tag legen, wenn sie ihr blindes Frauchen oder Herrchen an Schranken vorbeiführen, unter die sie selbst bequem drunter durch schlüpfen könnten.

Diese ganze Problematik gehört im Grunde zu jener Fragestellung, die Phänomenologen schon immer beunruhigt hat: woher wissen wir, daß unser Gegenüber lebendig ist und genauso fühlt und empfindet wie wir? Husserl hat hier vom Problem der Intersubjektivität gesprochen und sie mit einem umständlichen Analogieverfahren, also mit einem kognitiven Prozeß zu erklären versucht: Wir schließen von unseren eigenen Gefühlen auf die Gefühle unseres Gegenübers! Wenn de Waal von verkörperter Kognition und von Body-Mapping spricht, geht er von einer gegenteiligen These aus. Es wird hier nichts umwegig geurteilt und geschlossen, sondern wir verstehen die Gefühle von Tieren und Mitmenschen unmittelbar. Anstatt also erst umständlich darüber nachdenken zu müssen, was der andere empfindet, ist es vielmehr umgekehrt so, daß wir dieses unmittelbare ‚Wissen‘ um die Gefühle des Anderen erst mühselig verdrängen und verlernen müssen, um uns als Menschen von Tieren abzugrenzen: „Mit Bedacht verdrängen die Menschen, was sie seit Kindesbeinen wissen: dass Tiere Gefühle haben und für andere sorgen. Wieso und warum die halbe Menschheit diese Überzeugung aufgibt, sobald Bart und Brüste wachsen, wird mir stets ein Rätsel sein, doch übrig bleibt der landläufige Trugschluss, dass wir in dieser Hinsicht einzigartig seien.“ (de Waal 2011, S.173)

Letztlich hat Plessner das von de Waal angesprochene Rätsel, woher das Baby weiß, wo sich die Zunge befindet, wenn es das Rausstrecken der Zunge nachahmt, damit beantwortet, daß das Gehirn schon immer ein Körpermodell hat, den Leib nämlich, der zugleich als Modell für alle anderen Körper fungiert, mit denen wir es in der Welt nach unserer Geburt zu tun haben werden. Unseren Körper lernen wir als erstes, noch vor unserer Geburt, kennen, und alle Dinge, tote wie lebende, strukturieren wir später nach diesem Modell, so daß wir sie tatsächlich immer schon als lebendig wahrnehmen und es erst lernen müssen, daß es viele eben nicht sind. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Das kann nun sicherlich erklären, woher das Baby weiß, wo sich seine Zunge befindet, aber die Analogien zwischen den Spezies, zwischen Flossen (Delphine) und Armen (Menschen) bleiben damit unbeantwortet.

De Waal hebt immer den Automatismus hervor, wenn er von Empathie, Körpersprache und Body-Mapping spricht, wenn wir also von den Gefühlen anderer angesteckt werden. (Vgl.de Waal 2011, 63, 109ff., 122, 156, 163f., 239, 264, 269) Er verweist zwar auch auf Mechanismen, die es uns ermöglichen, diese Automatismen abzustellen und zu kontrollieren – de Waal spricht hier von „selektive(r) Aufmerksamkeit und Identifikation“ (de Waal 2011, S.109f.; vgl. auch ebd.S.173, 275f.) –, aber insgesamt fehlt bei de Waal jenes Moment der Übung und der Bildung, das ich mit dem Begriff der Haltung verbinde. Es fehlt das Moment, daß wir durch bewußtes Verhalten unbewußte Handlungsmechanismen anbahnen können (Priming), in Form von Einstellungen und Haltungen, die uns im Ernstfall einer Situation eine umständliche Analyse ersparen und es uns ermöglichen, sofort, also ‚unmittelbar‘ das Richtige zu tun.

Solche Haltungen können natürlich auch in Form von Vorurteilen und schlechten Gewohnheiten äußerst hinderlich und sogar schädlich sein. Insgesamt bewegen wir uns hier im Bereich der Lebenswelt, deren Anforderungen wir nur durch eine Kombination aus Naivität und Kritik, eben durch Bildung gerecht werden können. ‚Bildung‘ bedeutet hier, die Autonomie des eigenen Verstandesgebrauchs weitgehend zu bewahren.

Auf einen bezeichnenden Schwachpunkt in de Waals Analyse muß ich hier noch zu sprechen kommen. De Waal stellt zwei seiner Darstellung nach sich widersprechende Theorien zur verkörperten Kognition vor, – die „Körper-zuerst-Theorie“ und die „Emotion-zuerst-Theorie“: „Eine Überlegung – ich möchte sie die ‚Körper-zuerst-Theorie‘ nennen – besagt, dass der Körper vorangeht und die Emotionen folgen. Die Körpersprache eines anderen wirkt auf unseren Körper ein und erzeugt dann ein emotionales Echo, das ein entsprechendes Gefühl in uns hervorruft. ... nach dieser Theorie entstehen Gefühle in unserem Körper.“ (de Waal 2011, S.112) –  De Waal fügt hinzu, daß das „Primat des Körpers“ in dem Satz zum Ausdruck kommt: „Ich muss Angst haben, denn ich laufe davon ...“ (de Waal 2011, S.113)

Die Emotion-zuerst-Theorie geht nun de Waal zufolge davon aus, daß nicht der Körper die Emotionen hervorruft, sondern daß es die Emotionen sind, die den Körper bewegen: „Schließlich bedeutet ‚Emotion‘ doch ‚Aufwühlen‘ oder ‚Bewegung‘. Das ist in der Tat die zweite Überlegung, die ich folgerichtig die ‚Emotion-zuerst-Theorie‘ nennen möchte. Wenn wir die Körpersprache eines Menschen sehen oder seinen Tonfall hören, schließen wir auf seine Gemütsverfassung, die dann die unsere beeinflusst.“ (de Waal 2011, S.113)

De Waal spricht hier von einem Schlußverfahren, in dem wir von einem äußeren Zeichen – etwa dem Tonfall – auf die innere Gemütsverfassung schließen. Demnach wäre also die emotionale Reaktion auf dieses ‚Zeichen‘ ein kognitiver Prozeß! Als Beispiel für die Emotion-zuerst-Theorie bringt de Waal ein Experiment, in dem Versuchspersonen „Bilder von furchsamen Körperhaltungen“ betrachten, bei denen die Gesichter geschwärzt sind: „Obwohl dadurch Gesichtsmimikry ausgeschlossen wurde, zeigten die Gesichter der Versuchpersonen Furcht. Gefühlsansteckung beruht also auf einem unmittelbaren Kanal zwischen den Emotionen des anderen und den unseren.“ (de Waal 2011, S.113)

In diesem Beispiel geht de Waal nun also nicht mehr von einem Schlußverfahren von äußerlichen Zeichen auf innere Erlebnisse aus; stattdessen spricht er von einem „unmittelbaren Kanal“! Was soll dieser unmittelbare Kanal sein, wenn nicht die Körperhaltung, zumal ja aufgrund des geschwärzten Gesichts der Gesichtsausdruck hier nicht in Frage kommt?

Auch sein anderes Beispiel, wo es darum geht, daß sich ein Mitarbeiter der zornigen Stimmung seines Chefs intuitiv in Form unterwürfiger, beschwichtigender Gesten anpaßt, spricht eher für eine unmittelbare als für eine wohl durchdachte, also primär kognitive Reaktion. Denn wie de Waal ganz zurecht feststellt, kommt es eben auf eine möglichst ‚rasche‘ Bestimmung der „Gemütsverfassung“ des Chefs an, gleichgültig, ob er nun „recht oder unrecht“ hat. (Vgl.ebd.)

Wenn de Waal deshalb meint, daß alles das für die „Emotion-zuerst-Theorie“ spricht und nicht für die „Körper-zuerst-Theorie“ und man die Differenz zwischen beidem im Umweg über ein kognitionsähnliches Schlußverfahren der „Emotion-zuerst-Theorie“ sehen soll, so verstehe ich die Beispiele nicht, die ja vor allem die Unmittelbarkeit der Gefühlsansteckung hervorheben.

Zu dieser Verwirrung paßt, daß de Waal seltsamer Weise auch zwischen Körperhaltungen und Gesichtsausdrücken unterscheidet: „Trotz der Bedeutung von Körperhaltungen und Bewegungen bleibt das Gesicht der Königsweg zur Emotion: Es bietet den raschesten Zugang zum anderen.()“ (de Waal 2011, S.113) – Diese recht seltsame Differenzierung, die den Eindruck macht, als sollten Emotionen vor allem über Gesichtsausdrücke und weniger über Körperhaltungen ausgelöst werden, paßt weder zu dem beschriebenen Versuch mit den Körperhaltungen und den geschwärzten Gesichtern noch zu den zwei Seiten vorher beschriebenen Befunden der Neurowissenschaft: „Wie die belgische Neurowissenschaftlerin Beatrice de Gelder gezeigt hat, reagieren wir ebenso rasch auf Körperhaltungen wie auf Gesichtsausdrücke. Mühelos können wir Körper deuten – furchtsame Haltungen etwa (Bereitschaft davonzulaufen; Hände, die Gefahr abwehren) oder zornige (Brust heraus und einen Schritt vor).“ (de Waal 2011, S.111)

Halten wir deshalb fest: Es gibt weder einen Grund, zwischen Körperhaltungen und Gesichtsausdrücken in dem Sinne zu differenzieren, daß die einen mehr bzw. weniger mit Emotionen zu tun haben als die anderen, noch gibt es einen Grund, zwischen Körper und Emotion zu unterscheiden. Mit Damasio macht es hingegen viel mehr Sinn zwischen Emotionen und Gefühlen zu unterscheiden, insofern die Emotionen unmittelbar mit Veränderungen des Organismus einhergehen und weitgehend unbewußt bleiben. Der Teil der Emotionen, der uns bewußt wird, sind die Gefühle. (Vgl. Ich fühle, also bin ich (8/2009), S.49-103) Emotionen sind also immer unmittelbar und meistens unbewußt, denn jede Veränderung unseres Organismus geht mit Emotionen einher.

Insofern ist es auch keine sinnvolle Frage, was zuerst kommt, Körper oder Emotion, wenn wir die Körpersprache eines anderen in Form einer Gefühlsansteckung ‚verstehen‘. Denn mit dem Verstehen der Körpersprache eines anderen gehen unmittelbar Modifikationen unserer eigenen Körperhaltung einher, die wiederum unmittelbar die Form von Emotionen annehmen, mit deren Hilfe, so Damasio, das Gehirn die beständigen Veränderungen in ‚seinem‘ Organismus ununterbrochen beobachtet. (Vgl. Descartes’ Irrtum (5/2007), S.16)

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