„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 2. Mai 2011

Viktor Mayer-Schönberger, Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten, Berlin 2010 (2009)

  1. Gesellschaftliches Gedächtnis und individuelles Wachstum
  2. Entropie und das Prinzip der Negation
  3. Vergessen und Urteilsvermögen
  4. Analoge Gedächtnismedien und digitales Gedächtnis (fragmentierte Positionalität)
  5. Erinnern als Narrativität (Reembedding)
  6. Problembewußtsein wecken mit Verfallsdaten
In diesem Post soll es um das spezifische Zeiterleben in einer analogen Welt gehen. Dabei geht es um die Begrenztheit des digitalen Gedächtnisses als Informationsspeicher, und zwar nicht als Speicher von Information – hierin ist es nach Mayer-Schönbergers Darstellung potentiell unbegrenzt –, sondern begrenzt hinsichtlich der Digitalisierung analoger ‚Information‘: „Selbst im digitalen Zeitalter wird nicht alles, was wir einander mitteilen, in digitaler Form aufbewahrt – und schon gar nicht die Gedanken, die uns durch den Kopf gehen, und das geistige Abwägen, das unseren Entscheidungen vorangeht. Diese Unvollständigkeit wird zum Problem, wenn wir uns viel später an eine Entscheidung erinnern.“ (Vgl.M.-Sch. 2010, S.184)

Ein schönes Beispiel für ein digitales Gedächtnis, das angeblich in der Lage ist, alle nicht nur relevanten, sondern tatsächlich alle ein konkretes Individuum ausmachenden Informationen zu speichern, ist der Speicherpuffer im Transporter von Star Trek. Dort werden Menschen ohne Umweg durch den Raum von Ort zu Ort transportiert, indem sie in ihre atomaren Einzelteile zerlegt und gebeamt werden. Mißlingt so ein Transport können die Informationen im Speicherpuffer eine Zeitlang zwischengespeichert werden.

Mayer-Schönberger spricht also diesem Speicherpuffer bzw. dem digitalen Gedächtnis die Fähigkeit ab, sämtliche Zustände eines Individuums oder sämtliche Details eines Kontextes zu digitalisieren. Warum?

Der Grund liegt in der „Zeitdimension des digitalen Erinnerns.“ (M.-Sch. 2010, S.213) Oder präziser: der Grund liegt darin, daß das digitale Gedächtnis überhaupt keine Zeitdimension beinhaltet, denn es verändert sich nicht. Es handelt sich beim digitalen Gedächtnis um eine künstliche und synthetische Version des Gedächtnisses (Vgl.M.-Sch. 2010, S.147), die Veränderungen gegenüber gleichgültig ist. Aber im Grunde ist das digitale Gedächtnis Veränderungen gegenüber nicht einfach nur gleichgültig, sondern es ist vielmehr prinzipiell unfähig, Veränderungen abzubilden, weil sie wesentlich zur analogen Welt gehören und sie beim Versuch, sie zu digitalisieren, sofort zu Informationen erstarren, die sich eben nicht mehr ändern.

Was macht nun die analoge Welt ‚lebendig‘, bzw.: in welcher Form erlebt der Mensch Veränderungen an und in sich selbst und in seiner Umwelt? Es gibt eine Stelle in Mayer-Schönbergers Buch, die hierüber Auskunft gibt. Es ist die Stelle, wo er beschreibt, wie sich die Welt des Menschen mit der Entwicklung der Sprache verändert hat: „Mit dem Reden kam das Erzählen; Geschichten wurden von einer Generation an die nächste weitergegeben. Ob sie nun Wissen transportieren oder einfach nur unterhalten sollten, aus diesen frühen Berichten stammen die großen Erzählungen der Menschheit, die dem Leben und der menschlichen Existenz Sinn gaben und uns ein Gefühl für Zeit und Geschichte vermitteln. Alle großen Epen wurden zunächst mündlich tradiert ... Erst durch das Aussprechen erwachten diese Geschichten zum Leben, und durch Sprache begriffen (und begreifen) Menschen die Zeit. ... Ein episodisches Gedächtnis entsteht, ohne dass der Empfänger einen bestimmten Vorgang unbedingt selbst erleben muss.“ (M.-Sch. 2010, S.35f.

Hier erreicht Mayer-Schönberger eine große analytische Tiefe. Im Grunde ist hier nämlich von nichts anderem als von dem spezifisch menschlichen Zeiterleben die Rede, wie wir es schon als kulturelles und als kommunikatives Gedächtnis bei Assmann und bei Welzer kennengelernt haben. Zeit ist an Narrativität gebunden! Ohne Narrativität kein Zeiterleben. Denn nicht nur Geschichten erwachen durch Erzählen zum Leben, wie Mayer-Schönberger schreibt, sondern es ist das menschliche Bewußtsein selbst, das hier zum Leben erwacht. Narrativität bringt die Welt zum Fließen. Das unterscheidet Narrativität und mit ihr das individuelle und das kulturelle Gedächtnis vom digitalen Gedächtnis, das statisch und zeitlos ist.

Das Problem mit dem digitalen Gedächtnis ist ja nicht einfach seine Unbeweglichkeit als solche. Die Texte in den Büchern, die wir lesen, sind genauso ‚unbeweglich‘. Das Problem ist die Unerbittlichkeit des digitalen Gedächtnisses, daß es keine ‚Fehler‘ zuläßt, also Lücken, wie wir sie eben vom Geschichtenerzählen kennen. Diese ermöglichen es dem Zuhörer, die erzählte Geschichte mit eigenem Sinn zu füllen. Welzer spricht in diesem Zusammenhang von „Montagen“. (Vgl. meinen Post vom 22.03.2011) Die Zuhörer montieren bzw. basteln sich zu einer Geschichte einen eigenen Sinn, so daß keine Geschichte auch nur von zwei Zuhörern auf die gleiche Weise verstanden und erlebt wird.

Diese Flexibilität des Verstehens läßt ein Informationsspeicher wie das digitale Gedächtnis nicht zu. Es tritt vielmehr in Konkurrenz mit dem individuellen Sinnverstehen und bedroht es auf diese Weise: „Wir können das Vertrauen in unser eigenes Gedächtnis und damit in unsere eigene Vergangenheit einbüßen. Diese wird nicht etwa durch eine objektive, sondern durch eine künstliche Vergangenheit ersetzt, die weder uns noch irgendeinem gehört. Vielmehr handelt es sich um eine synthetische Version, aufgebaut aus den beschränkten Informationen über ein Ereignis, die das digitale Gedächtnis enthält – ein stark verzerrter Flickenteppich ohne zeitliche Dimension ... Ich fürchte, indem wir uns der eigenen Vergangenheit berauben, schaden wir unserem Urteilsvermögen – und zwar stärker,
als wir meinen.“ (M.-Sch. 2010, S.147)

Also nicht, daß das digitale Gedächtnis nicht selbst lückenhaft, also ein „Flickenteppich“ wäre, ist das Problem, sondern daß es unser Zeiterleben bedroht. Und das menschliche Zeiterleben ist narrativ!

Das wirft auch nochmal ein Licht auf Mayer-Schönbergers Feststellung, daß die digitalen Informationen dekontextualisiert sind. (Vgl. M-Sch. 2010, S.95, 109 u.ö.) Damit wir etwas mit den digitalen Informationen anfangen können, müssen wir sie wieder ‚verflüssigen‘, d.h. unserem Zeiterleben einfügen, und das heißt wiederum: sie „rekontextualisieren“. (Vgl. M-Sch. 2010, S.109) Denn um Informationen zu rekontextualisieren, müssen wir sie mit dem Hintergrund einer Geschichte versehen (Tomasello spricht in diesem Zusammenhang von einer extravaganten Syntax). Und das heißt wiederum: wir verleihen den abstrakten Informationen einen Sinn, eine Bedeutung. Bedeutung aber ist, anders als Information, nicht mathematisierbar. Es gibt „keinen über die Jahre konstanten, objektiven Maßstab ..., nach dem wir Menschen die Bedeutung und den Stellenwert der Wörter, die wir lesen, oder der externen Erinnerungen, die wir uns ins Gedächtnis rufen, erfassen können.“ (M.-Sch. 2010, S.48)

So bleibt also der Speicherpuffer, wie wir ihn von Star Trek kennen, nur ein schöner Traum (glücklicherweise!), denn so lange es Menschen gibt, wird es immer eine analoge Welt neben der digitalen Welt geben: „... selbst wenn jede Kommunikation und alle externen Informationen aufgezeichnet würden, würde das digitale Gedächtnis immer noch eine wichtige Informationsquelle ausblenden, die (zumindest bislang) nicht digitalisierbar ist: unser Denken. Solange nur externe Informationen, aber nicht unsere inneren Gedanken festgehalten und wiedergegeben werden können, wird das digitale Gedächtnis grundlegend unvollständig bleiben ...“ (M.-Sch. 2010, S.195f.)

Interessant ist nun allerdings, daß selbst das Medium des digitalen Gedächtnisses eine eigene narrative Form hervorgebracht hat: die „Bricolage“, die nicht von ungefähr an Welzers Prinzip der Montage erinnert. Bei der Bricolage werden verschiedene ‚Texte‘ im Internet zusammengemischt, so daß auf diese Weise ein neuer Text kreiert wird.  Mit dem Apple-Chef Steve Jobs faßt Mayer-Schönberger das entsprechende Verfahren als „Rip. Mix. Burn.“ zusammen (von der CD in den Computer herunterziehen; anders zusammenmischen; auf eine neue CD brennen): „Vielleicht fügt man sogar eigenen Content hinzu; der Schwerpunkt liegt jedoch auf dem Mixen und Rekombinieren, auf der Erzeugung einer Bricolage ...“ (M.-Sch. 2010, S.77) – Doktorarbeiten sind von so einem Verfahren natürlich ausgenommen.

Letztlich kommt es also auch beim digitalen Gedächtnis wiedermal nur darauf an, wie wir es verwenden. Es kommt also vor allem darauf an, daß wir, die Menschen, wie Mayer-Schönberger schreibt, „uns Wert und Bedeutung des Vergessens vergegenwärtigen.“ (Vgl.M.-Sch. 2010, S.217) Wir müssen das Vertrauen in die Unvollkommenheit des menschlichen Gedächtnisses zurückgewinnen. Und dazu schlägt Mayer-Schönberger die Einführung von Verfallsdaten vor. Dazu mehr im folgenden, meine Erörterungen zu Mayer-Schönbergers Buch abschließenden Post.

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