„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 2. Mai 2011

Viktor Mayer-Schönberger, Delete. Die Tugend des Vergessens in digitalen Zeiten, Berlin 2010 (2009)

  1. Gesellschaftliches Gedächtnis und individuelles Wachstum
  2. Entropie und das Prinzip der Negation
  3. Vergessen und Urteilsvermögen
  4. Analoge Gedächtnismedien und digitales Gedächtnis (fragmentierte Positionalität)
  5. Erinnern als Narrativität (Reembedding)
  6. Problembewußtsein wecken mit Verfallsdaten
In den letzten Monaten hat es in Deutschland eine Diskussion gegeben, in der es um eine Einführung von Verfallsdaten für Dateien im Internet ging. In dieser Diskussion hatten sich Experten sehr skeptisch dazu geäußert. Sie verwiesen darauf, daß Verfallsdaten kein technisch perfektes Instrument zum Schutz von Dateien seien, weil auch Dateien, auf die der Zugriff aufgrund des Überschreitens von Verfallsdaten verweigert werde, immer noch vom Monitor abphotographiert werden können.

Meine eigenen technischen Kenntnisse sind zu beschränkt, um diese Diskussion beurteilen zu können. Ich finde es schon erstaunlich genug, daß Dateien trotz Verfallsdatums, also obwohl sie nach Überschreiten des Verfallsdatums eigentlich gelöscht sein sollten, immer noch im Internet herumgeistern und dort aufgefunden werden können. Wir haben es dann gewissermaßen mit Gespensterdateien zu tun. Hübsch gruselig.

Entsprechend skeptisch habe ich während meiner Lektüre zunächst Mayer-Schönbergers Vorschlag zur Kenntnis genommen, Dateien mit Verfallsdaten auszustatten. (Vgl. M.-Sch. 2010, S.25, 203, 213, 217, 222, 227u.ö.) Aber letztlich haben mich seine Argumente doch überzeugt. Denn es geht Mayer-Schönberger überhaupt nicht um eine technisch perfekte Lösung. Worum es ihm geht, ist, beim Nutzer ein Problembewußtsein für den Umgang mit digitalen Daten zu wecken. Verfallsdaten sollen „uns dazu bewegen, wenigstens ganz kurz abzuwägen, wie lange die Information, die wir abspeichern wollen, für uns wertvoll und nützlich bleiben soll. ... Wenn dies Teil unserer täglichen Praxis wird, erkennen wir vielleicht wieder, was die Menschen zumindest implizit seit Jahrtausenden wussten: dass gute Informationen wertvoller sind als viele Informationen.“ (M.-Sch. 2010, S.203)

Abgesehen davon, was denn wohl „gute“ Informationen sein mögen (gute Informationen kann es eigentlich nicht geben, es sei denn wir haben es mit einem Sinnzusammenhang zu tun; dann aber wären es keine Informationen!), finde ich die Vorstellung äußerst interessant, mir bei meinem eigenen Umgang mit dem Internet zu überlegen, welche Daten ich wie lange ‚aus der Hand‘ gebe: Meinen Bankdaten würde ich vielleicht eine Haltbarkeit von einem Tag, höchstens einer Woche auf den Weg geben, meinen wissenschaftlichen Texten – getreu dem Ideal wissenschaftlicher Erkenntnis – würde ich die Zugänglichkeit so offen und so lange wie möglich gewährleisten. Und alles andere würde irgendwo dazwischen liegen.

Mir allein diese Gedanken zu machen, finde ich schon anregend. Und egal welche Technik wir verwenden, Tresore oder raffinierte Verstecke: Daten, die man einmal extern gespeichert hat, werden nie sicher sein. Da unterscheiden sich analoge und digitale Medien nicht. Wenn Mayer-Schönberger also nicht glaubt, daß sich das Problem mit der Technik lösen ließe, so hat er sicher Recht. „Es kommt auf uns selbst an, darauf, welchen Wert wir unseren Daten geben: Schließlich haben Verfallsdaten primär die Aufgabe, uns das Problem des digitalen Gedächtnisses immer wieder ins Bewusstsein zu rufen. Das lässt sich nicht an irgendeine Technik delegieren: Wir Menschen müssen uns Wert und Bedeutung des Vergessens vergegenwärtigen.“ (M.-Sch. 2010, S.217)

Es kommt darauf an, wem wir mehr vertrauen wollen, unserem menschlichen, mit uns mitwachsenden und mit uns sich mit verändernden Gedächtnis oder dem künstlichen, unserer Lebensgeschichte gegenüber gleichgültigen Gedächtnis des Internets. Diese Fragestellung überzeugt mich, und ich plädiere wie Mayer-Schönberger entschieden für das erstere, – für das menschliche Gedächtnis: „Am wichtigsten ist aber, dass Verfallsdaten uns nach und nach die Last eines übermächtigen digitalen Gedächtnisses von den Schultern nehmen und dafür sorgen, dass der Einzelne und die Gesellschaft ihre Fähigkeit zum ‚zeitgemäßen‘ Handeln wiedererlangen.“ (M.-Sch. 2010, S.227)

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1 Kommentar:

  1. Mayer-Schönbergers Sorge, daß das digitale Gedächtnis die Individuen daran hindert, zu wachsen, erinnert an Plessners Definition von Gesellschaft, die Plessner zufolge dem individuellen Handeln einen "Spielraum" zur Verfügung stellen soll (vgl. meinen Post vom 15.11.2010): „Die Gesellschaft lebt vom Geist des Spieles. Sie spielt die Spiele der Unerbittlichkeit und die der Freude, denn in Nichts kann der Mensch seine Freiheit reiner beweisen als in der Distanz zu sich selbst.“ (Grenzen, S.94) Das digitale Gedächtnis verbaut uns Mayer-Schönberger zufolge genau diesen Spielraum. Es läßt die Distanz zu sich selbst kollabieren.

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