„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 4. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1.    Rückblick auf de Waal
2.    Methode
3.    Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4.    Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5.    Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6.    Wertewandel und shifting baselines
7.    Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8.    „Drittes Reich“ und Differenz
9.    Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

In meinem zweiten Post vom 02.06.2011 hatte ich von der schiefen Ebene gesprochen, auf der sich die verschiedenen Referenzrahmen nach und nach wechselseitig ergänzen und schließlich Situationen anbahnen, in denen vor allem die mit ihnen verbundenen Rollenerwartungen das Handeln bestimmen. An dieser Stelle macht es Sinn, eine Grobgliederung von Situationen vorzunehmen: Es gibt Situationen, die (a) wir selbst – oder andere für uns – herbeiführen. Dafür gibt es meistens eine institutionelle Infrastruktur (Politik, Militärdienst, Berufstätigkeit, Freizeitaktivitäten (Animation etc.), Pädagogik (Schule) usw.). Außerdem gibt es Situationen, in die wir (b) hineingeraten, wie z.B. ein Unfall, wo wir dann unvorbereitet eine Entscheidung darüber treffen müssen, ob wir ‚zuständig‘ sind und was jetzt zu tun ist.

Den psycho-kausalen Prozeß beim Anbahnen von Situationen (a) wie auch das psycho-kausale Geflecht von Entscheidungen, wenn wir uns in den Situationen befinden ((a) und (b)) – auf welche Weise wir auch immer in sie hineingerieten –, bezeichnen Neitzel und Welzer als „Pfadabhängigkeit“. (Neitzel/Welzer 5/2011, S.44f., 49f., 400) Besonders betroffen macht einen die Schilderung eines US-amerikanischen Hubschrauberangriffs auf Zivilisten im Irak. Neitzel und Welzer beschreiben den Entscheidungsprozeß des Schützen, der zu Beginn, als er auf die Zivilisten aufmerksam wird, nicht so recht weiß, mit wem er es zu tun hat. Zunächst ist er unsicher, ob sie Schußwaffen dabei haben oder nicht. Die Kommunikation (per Funk) mit einem Offizier im Stützpunkt führt von der Unsicherheit des Schützen, ob es sich überhaupt um Waffen handelt, so nach und nach zu einer präzisen Identifizierung der angeblichen Waffen und der Zivilisten als einer Terrorgruppe kurz vor einem Anschlag. Am Ende gibt es elf Tote, und der Offizier bestätigt dem Schützen, daß er gute Arbeit geleistet hat. Als sich dann herausstellt, daß sich unter den Toten ein schwerverletztes kleines Mädchen befindet, empören sich die Soldaten über die angeblichen Terroristen, die nicht einmal davor zurückschrecken, ihre eigenen Kinder mit in den Kampf zu nehmen.

Wir haben es hier mit einer „totalen Situation“ zu tun. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.32) Totale Situationen befinden sich am Ende von schiefen Ebenen bzw. ‚Pfaden‘, die zunächst von den verschiedenen Referenzrahmen und ihren Begründungszusammenhängen angebahnt werden können, dann aber durch die Rollenerwartungen in der Situation selbst nicht mehr ergänzt, sondern schlicht ersetzt werden. In der „totalen Situation“ zählt dann nur noch die „totale Gruppe“, die bei militärischen Aktionen immer die „Kameradschaftsgruppe“ ist. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.31, 34, 40ff.) Die Pfadabhängigkeiten, die zur Entscheidung darüber führen, in was für einer Situation man sich befindet, werden nun nur noch durch das „Gruppendenken“ bestimmt. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.398f., 400, 405) Der Referenzrahmen ist, wie Neitzel und Welzer sich ausdrücken, ‚entdifferenziert‘ (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.38): „Man kann das ‚Gewaltdynamik‘, ‚Gruppendenken‘ oder auch ‚Pfadabhängigkeit‘ nennen: tatsächlich kommen alle diese Elemente hier in einer fatalen Folgerichtigkeit zusammen und führen zum Tod von insgesamt elf Menschen innerhalb weniger Minuten.“ (S.400)

In diesem Komplex von Pfadabhängigkeiten, von der politischen Erzeugung eines allgemeinen erregten Erwartungsklimas über die Mobilisierung und das ‚Ausrufen‘ eines Krieges (oder dem schlichten Einmarsch in fremdes Staatsgebiet) bis hin zum konkreten ‚Kampfgeschehen‘ – das, wie wir gesehen haben, oft diffus ist und erst durch die entsprechenden Entscheidungen der Soldaten in ein Kampfgeschehen umgedeutet wird – spielt individuelles Urteilen und Handeln keine Rolle mehr. Die Kameradschaftsgruppe, die für den einzelnen Soldaten in jeder Hinsicht zur „Überlebenseinheit“ wird (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.41, 420), tritt an die Stelle eigener individueller oder allgemeinerer moralischer Begründungsnotwendigkeiten, die sie praktisch vollständig ersetzt.

Das ist natürlich mehr oder weniger das Kennzeichen jeder Gemeinschaft, wie sie schon Plessner beschrieben hat. Ganz ähnlich wie Plessner (nicht umsonst hat Plessner ja seine Kritik an den Grenzen der Gemeinschaft zu einer Zeit geschrieben, als sich Nationalsozialisten und leider auch Reformpädagogen mit dem Gemeinschaftsideal gegen die ihrer Ansicht nach moralisch verdorbene Gesellschaft wandten) beschreiben Neitzel und Welzer die psychischen Mechanismen, die den Einzelnen an die Gruppe binden: „Aber der Kamerad wird nicht nur, ob mit seinem oder gegen seinen Willen, vergemeinschaftet und gibt Autonomie ab, er bekommt auch etwas dafür, nämlich das Aufgehobensein in einer Gemeinschaft, Verlässlichkeit, Halt, Anerkennung. Zudem bietet die Kameradschaftsgruppe eine Entlastung von den gewöhnlichen Verpflichtungen des Zivillebens. Genau darin sieht der spätere Emigrant und dezidierte Regimegegner Sebastian Haffner etwas psychologisch höchst Bestechendes: ‚Die Kameradschaft (...) beseitigt völlig das Gefühl der Selbstverantwortung. Der Mensch, der in der Kameradschaft lebt, ist jeder Sorge für die Existenz, jeder Härte des Lebenskampfes überhoben. (...) Er braucht sich nicht die kleinste Sorge zu machen. Er steht nicht mehr unter dem harten Gesetz: ‚Jeder für sich‘, sondern unter dem generös-weichen: Alle für ‚einen‘. (...) Das Pathos des Todes allein erlaubt und erträgt diese ungeheuerliche Dispensierung von der Lebensverantwortung.‘() Diesen Zusammenhang von Be- und Entlastung durch die soziale Vergemeinschaftungsform ‚Kameradschaft‘ hat Thomas Kühne in seiner umfassenden Studie herausgearbeitet.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.41)

Das führt dann so weit, daß Frontsoldaten schließlich nicht mehr in die Gesellschaft, die sie einmal mit ihrem Kampfeinsatz ‚verteidigten‘, zurückfinden. Und Soldaten, die auf ‚Heimat‘-Urlaub sind, fühlen sich plötzlich in der Fremde. Das entspricht wie gesagt genau den Analysen von Plessner, wobei der wichtigste Unterschied ist, daß Plessner noch nicht zwischen „pluralen“ und „totalen“ Gruppen unterschied (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.41), da er nur den prinzipiellen Unterschied zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft kannte. Von lebensweltlichen Übergängen zwischen diesen beiden Strukturen des sozialen Lebens wußte Plessner noch nichts. Diese lebensweltlichen Übergänge, also Referenzrahmen und Rollenerwartungen, sind es, die jene Pfadabhängigkeiten bestimmen, an denen entlang individuelles Urteilen und Handeln nach und nach ausgehebelt und seiner moralischen Bedeutung vollständig entkleidet wird.

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