„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 11. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

10.    Nachtrag: Referenzrahmen und Wertekanon

Neitzel und Welzer setzen in ihren Analysen der Abhörprotokolle Referenzrahmen und Wertekanon weitgehend gleich. Das bringt mich auf einige Gedanken, was die in der Politik allgemein beliebte Phrase von der transatlantischen „Wertegemeinschaft“ betrifft. Das deutsche Wort „Gemeinschaft“ beinhaltet ja dabei schon für sich eine eigene Wertsphäre, die auf so etwas wie ein besonders enges Zusammenrücken verweist; ein Zusammenrücken, das wiederum eine gegen andere kulturelle Traditionen gerichtete Tendenz beinhaltet.

Nun zeigt aber schon de Waal (vgl. de Waal 2011, S.253f.), daß es innerhalb dieser transatlantischen Wertegemeinschaft erhebliche Differenzen bezüglich der Gewichtung dieser gemeinsamen Werte gibt. Wenn wir einmal von den drei Prinzipien der Französischen Revolution ausgehen, so handelt es sich hier vor allem um die im engeren Sinne bürgerliche Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, wobei wir bei ‚Freiheit‘ vor allem an die Habeas-Corpus-Akte (1679) denken, an Denkfreiheit, Meinungsfreiheit, Glaubensfreiheit und an das in der amerikanischen Verfassung garantierte „Streben nach Glück“, das wir in der Marktwirtschaft wiederum vor allem mit wachsendem Wohlstand gleichsetzen.

Bei ‚Gleichheit‘ denken wir vor allem an das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit, die an die Stelle geburtsständischer Privilegien tritt, und bei ‚Brüderlichkeit‘ denken wir vor allem an soziale Gerechtigkeit, die verhindern soll, daß sich Einzelne über die Maßen auf Kosten der Anderen bereichern. De Waal beschreibt nun in seinem Buch, wie die US-Amerikaner vor allem an die Leistungsgerechtigkeit glauben und wie sie tendenziell jeden Versuch, mit staatlichen Mitteln dem Profitstreben (gleichgesetzt mit dem Streben nach Glück) im Sinne sozialer Gerechtigkeit Grenzen zu setzen, mit Kommunismus gleichsetzen. Umgekehrt glauben die Europäer vor allem an die soziale Gerechtigkeit und neiden jedem, der mehr wirtschaftlichen Erfolg hat als andere, seinen Reichtum.

Es gibt hier also innerhalb des geteilten Wertekanons erhebliche Unterschiede, die zu völlig verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Konzepten führen, so daß die Rede von der gemeinsamen Wertegemeinschaft bestenfalls eine leere Floskel ist, wenn nicht sogar irreführend.

Ähnlich ist es innerhalb einer Gesellschaft. Neitzel und Welzer zeigen, wie sich die Werte zwischen politischen Parteien und gesellschaftlichen Subgruppen – und damit die Referenzrahmen – unterscheiden. Das reicht bis in den Referenzrahmen erster Ordnung, den Neitzel und Welzer als „christlichen Kulturkreis“ kennzeichnen. So gibt es nicht nur die schon beschriebenen Pfadabhängigkeiten in Form schiefer Ebenen, die bestimmte situationsgebundene Handlungsnotwendigkeiten anbahnen, so daß z.B. demokratische und christliche Politiker mit humanen Notwendigkeiten begründete militärische Einsätze beschließen, in denen dann nicht mehr demokratische und christliche, sondern militärische Wertorientierungen wie Ehre, Gehorsam und Opferbereitschaft (das eigene Leben wie das Leben anderer betreffend) gelten. Es gibt auch innerhalb längerer ‚Friedensperioden‘ ständige Wechsel zwischen verschiedenen Wertekanons, und zwar aufgrund der wechselnden Rollenerwartungen, mit denen einzelne Individuen konfrontiert sind.

Ein Individuum kann z.B. in verschiedenen Situationen mal als Zivilist und dann wieder als Soldat agieren, was entsprechende Veränderungen in der Werteorientierung mit sich bringt. Die Differenz zwischen Zivilgesellschaft und Militär war in der Weimarer Republik sicher gravierender als in der Bundesrepublik, die die Armee als eine demokratische Einrichtung verstand. Aber Demokratie hat beim Militär nun einmal Grenzen. Immerhin durfte die Armee in der Bundesrepublik nicht zur Aufhebung oder Neubewertung bürgerlicher Grundwerte führen. Der Soldat hatte in erster Linie als Bürger zu gelten.

Weitere Unterschiede in der angeblichen Wertegemeinschaft bestehen zwischen der demokratisch verfaßten Zivilgesellschaft und der katholischen Kirche, die sogar in ihren Einrichtungen bürgerliche Grundrechte außer Kraft setzen darf. Hinzu kommen die unterschiedlichen Werteorientierungen der verschiedenen Immigrantengruppen, über deren Integrationsprozesse es keine gesellschaftliche Kontrolle gibt.

Von einer ‚Wertegemeinschaft‘ kann also weder im okzidentalen, transatlantischen noch im einzelstaatlichen Sinne die Rede sein. Die Referenzrahmen sind bis in den Referenzrahmen erster Ordnung hinein plural. An diesen Referenzrahmen orientieren sich die Menschen als Gruppen (Gemeinschaften) und als Individuen. Als Individuen können sie sich an den Referenzrahmen wiederum über die Autorität der Gruppe orientieren, der sie sich primär zugehörig fühlen, oder über die Autorität des eigenen Verstandes. Der Spielraum, der sie immer wieder vor die Entscheidung stellt, welcher Autorität sie größeres Gewicht beimessen wollen, besteht in den unterschiedlichen Rollenerwartungen, denen sie genügen müssen, wenn sie sich in einer derart pluralen Gesellschaft behaupten wollen, wie sie das gegenwärtige Europa darstellt.

Ganz unabhängig von der exzentrischen Positionalität, wie sie der Körperleib jedes Menschen auf anthropologischer Ebene beinhaltet, verhindert also schon der Zwang einer spezifisch europäischen Globalisierung, daß sich einzelne Menschen auf Dauer in totale Gruppen zurückziehen können, um sich den Freiheitszumutungen eines eigenen Verstandes auf Dauer zu entziehen.

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