„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 4. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1.    Rückblick auf de Waal
2.    Methode
3.    Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4.    Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5.    Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6.    Wertewandel und shifting baselines
7.    Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8.    „Drittes Reich“ und Differenz
9.    Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Bei der Beschreibung des „Dritten Reiches“ verwenden Neitzel und Welzer erstaunliche Vokabeln. So stellen sie das „Dritte Reich“ als „partizipative Diktatur“ dar. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.65) Oder sie sprechen von einer „modernen Diktatur“, die die Bevölkerung mittels „Aufrechterhalten von Differenz“ „integriert“, „so dass auch noch diejenigen, die gegen das Regime, kritisch gegenüber der Judenpolitik, im Herzen sozialdemokratisch oder was auch immer sind, ihren sozialen Ort haben, an dem sie sich austauschen können und Gleichdenkende finden.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.54)

Wenn man das so liest, entsteht der Eindruck, als wäre hier nicht von einer Diktatur die Rede, sondern von einer Demokratie mit Minderheitenschutz. Und Neitzel und Welzer scheinen das „Dritte Reich“ tatsächlich auf eine Ebene mit demokratischen Institutionen zu stellen, wenn sie schreiben: „Der soziale Integrationsmodus jeder Behörde, jedes Betriebs, jeder Universität besteht in Differenz, nicht in Homogenisierung – überall finden sich Subgruppen, die sich von den anderen abgrenzen. Das zerstört nicht den Zusammenhang des sozialen Aggregats, es begründet ihn.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.55)

Das Problem, das man als unbedarfter Leser mit diesen seltsamen Behauptungen zunächst hat, klärt sich dann allerdings schnell: wenn hier von „Differenz“ gesprochen wird, so ist damit nicht die tatsächliche Anerkennung der Freiheit des Andersdenkenden gemeint, sondern dessen Ausgrenzung! Anstatt also den Andersdenkenden (Liberale, Kommunisten etc.) oder gar den angeblich Andersartigen (Juden, Zigeuner, Geisteskranke etc.) als Teil einer pluralen ‚Gemeinschaft‘ zu verstehen, haben die Nationalsozialisten sie enteignet, des Landes verwiesen, in Lagern separiert, medizinisch verstümmelt und letztlich millionenfach getötet. Schließlich kommen Neitzel und Welzer auf den Punkt: nicht „Integration“ durch „Differenz“ war gemeint, sondern Integration der durch möglichst weitgehende Homogenisierung übriggebliebenen Bevölkerung durch „Spaltung“: „Die tiefe Spaltung, die die nationalsozialistische Gesellschaft in den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 in eine Mehrheit der Zugehörigen und eine Minderheit der Ausgeschlossen teilte, verfolgt nicht nur ein rassentheoretisch und machtpolitisch begründetes Ziel, sondern ist zugleich Mittel einer besonderen Form der gesellschaftlichen Integration.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.55f.)

Letztlich hätten wir damit nur einen weiteren Beleg für Neitzels und Welzers unpräzisen Umgang mit Begriffen vorliegen, auf den ich schon hingewiesen habe, so daß ich das hier nicht unbedingt noch einmal wiederholen müßte. Aber mit der Behauptung, die Nationalsozialisten hätten mit Hilfe von Differenz integriert, ist zugleich ein höchst ärgerlicher Angriff auf den Sinn und den Nutzen der Denkfreiheit verbunden. Indem Neitzel und Welzer den Eindruck erwecken, die Nationalsozialisten hätten durch Aufrechterhalten von „Differenz“ „integriert“, werten sie die individuelle Urteilskraft auf unerträgliche, eigentlich nur noch zynisch zu nennende Weise ab. Der Widerspruch, der sich „vor allem im privaten, höchstens im halböffentlichen Bereich (also auf den Kreis von Freunden und Kollegen, den Stammtisch, die unmittelbare Nachbarschaft) beschränkt“ und der sich „innerhalb von Pfarrgemeinden, in dörflichen Nachbarschaften, in Zirkeln der konservativen Elite, in bürgerlichen Verkehrskreisen, in nicht zerstörten Reststrukturen des sozialistischen Milieus“ artikulierte  (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.55), wird so nicht nur bedeutungslos, was an sich schon ein höchst bedauerliches Phänomen wäre, sondern er verkehrt sich bei Neitzel und Welzer auf seltsam verquere Weise in einen partizipativen Akt der Unterstützung der verbrecherischen Ziele des nationalsozialistischen Regimes.

Wie weit gehen diese das Regime unterstützenden Akte der ‚Differenz‘? Gehören vielleicht auch die Aktivitäten der Weißen Rose dazu?  Und kann man die anschließende Hinrichtung der ‚Verschwörer‘ vielleicht ebenfalls als „hochintegrativ“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.57) bezeichnen?

Ich kann als Gegengift zu einer Geschichtsbetrachtung, in der der Begriff der ‚Differenz‘ auf so unreflektierte Weise Phänomene der tödlichen Ausgrenzung wie des verzweifelten Widerstands umfaßt und als Moment einer „partizipativen Diktatur“ beschrieben wird, nur die Lektüre von der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss empfehlen.

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