„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 19. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Wenn Jacobs sich an einer Stelle auf Wolfgang Köhlers „psychophysischen Isomorphismus“ (1938) bezieht und diesen als eine Hypothese beschreibt, „der zufolge strukturelle Eigenschaften zentralnervöser Prozesse identisch sind mit den strukturellen Eigenschaften der ihnen entsprechenden psychologischen Tatsachen“ (vgl. Jacobs 2011, S.153), dann haben wir es hier mit einer Thematik zu tun, die dem Projekt einer Ästhesiologie des Geistes entspricht, wie es Plessner konzipiert hat (vgl. meine Posts vom 14. und 15.07.2010).

Der Grundgedanke der Plessnerschen Ästhesiologie besteht darin, daß das menschliche Bewußtsein ein Sinnganzes bildet, das auch den menschlichen Organismus und seine Sinne umfaßt. Diese Einheit wird von Plessner als eine analoge Gliederung dreier verschiedener Ebenen beschrieben: der Physiologie der Sinnesorgane, der psychischen Befindlichkeit und der geistigen Artikulation. Zwischen diesen drei Ebenen gibt es eine durchgängige Korrespondenz bzw. „Akkordanz“. Mit Hilfe der Sprache als wiederum einer Einheit aus artifiziellen (Zeichenfunktion) wie natürlichen (Ausdrucksfunktion) Prozessen sind wir Plessner zufolge in der Lage, unsere körperlich-leiblichen Erregungszustände und unsere seelische Befindlichkeit als Einheit einer geistigen Person zu integrieren.

Weder bei Köhler noch bei Plessner wird gesagt, daß die sinnesphysiologischen bzw. zentralnervösen Prozesse mit psychologischen bzw. geistigen Prozessen identisch sind. Mit Bezug auf Köhler ist z.B. nur davon die Rede, daß deren strukturellen Eigenschaften identisch sind. Wir haben es also bei dieser Identitätsbehauptung lediglich mit einer Analogiebeziehung zu tun, bei der Physiologie und Psyche sich strukturell decken (überlappen). Mit diesem Konzept arbeitet auch Plessner in seiner Ästhesiologie des Geistes, wenn er Strukturen der Sinnesphysiologie, der Psyche und des Geistes auf analoge Weise gliedert und übereinanderblendet.

In diesem Verfahren der Überlappung bzw. Überblendung analoger Strukturen auf neurophysiologischer, sinnesphysiologischer, psychosomatischer und Bewußtseinsebene besteht nun die eigentliche Parallele zwischen Plessner und Schrott/Jacobs. Das zeigt sich beispielhaft an Schrotts und Jacobs Vergleichen zwischen optischen und figurativen Täuschungen. (Vgl. Schrott 2011, S.145-150 u.ö.) Mit den optischen Täuschungen befinden wir uns auf der Ebene der Sinneswahrnehmungen im engeren Sinne, in diesem Fall den Gesichtssinn betreffend, und mit den figurativen Täuschungen befinden wir uns auf der Ebene des Bewußtseins, insbesondere dem Sprachbewußtsein im engeren Sinne.

Beide Täuschungsformen eint das Gestaltprinzip, über das sie miteinander vergleichbar werden. Um Rubins Kippbild, eine weiße Figur auf schwarzem Hintergrund, mal als Vase und mal als zwei einander zugewandte Gesichter im Profil wahrnehmen zu können, müssen sie sich allererst in meinem Bewußtsein zu einer Gestalt formen können. Das Gleiche gilt für das Verstehen von Wörtern: um eine Bank mal als ‚Sitzgelegenheit‘, mal als ‚Geldinstitut‘ zu verstehen, müssen sie sich zuvor in meinem Bewußtsein als mögliche, in Frage kommende Bedeutungen konstituiert haben.

Die optische Gestalt eines Wahrnehmungsgegenstandes und die Sinngestalt eines Wortes ergeben sich also aus ähnlichen (analogen) Strukturen, denen wiederum die gleichen neurophysiologischen Prozesse zugrundeliegen, die wiederum eng mit Motorik und Sensomotorik vernetzt sind: „Dass sich diese optischen Täuschungen mit diversen rhetorischen Figuren abgleichen lassen, mag evolutionsbiologisch daher rühren, dass Sprache nicht nur von den neuroanatomischen Regionen gesteuert wird, die ursprünglich die Motorik von Arm- und Handbewegungen kontrollierten, um auf dieser Grundlage später Syntax herauszubilden. Auch die Gehirnmodule, die einmal nur für die perzeptionelle Klassifizierung von Objekten zuständig waren, um sie in kombinierbare Geone umzuwandeln, könnten für unsere Semantik rekrutiert worden sein. Das ist Spekulation – unbestreitbar jedoch ist das neuronale Zusammenwirken visueller, sensomotorischer und linguistischer Areale.“ (Schrott 2011, S.149f.)

Dieses im Evolutionsprozeß und in der individuellen Ontogenese ständig stattfindende Umfunktionieren körperlicher Organe und neurophysiologischer Prozesse sowie biologisch wie kulturell bedingter Verhaltensweisen (vom Spuren lesen zum Schriften lesen), das sich Überlagern wie Sedimentieren älterer wie neuerer Funktionen und Mechanismen auf körperlicher wie geistiger Ebene bis hin zum Überlappen bzw. Überblenden vorhandener Strukturen auf anatomischer, neurophysiologischer wie mentaler Ebene zu neuen Funktionszusammenhängen und Gestalten möchte ich gerne im Plessnerschen Sinne als exzentrische Positionalität interpretieren. Diese hat nach wie vor im Körperleib ihr Urprinzip, also in der Gegenüberstellung von Körper und Gehirn. Aber diese Gegenüberstellung findet sich schon in unserem zentralnervösen Organ selbst, nämlich als Gegenüberstellung von rechter und linker Hemisphäre, die ihre verschiedenen arbeitsteiligen Funktionen zu neuen Gestalten zusammenfügen, etwa beim Lesen eines Textes, dessen Wörter und Sätze wir analysieren (linke Hemisphäre) und dessen Bedeutung wir realisieren (rechte Hemisphäre), und beides in einem einzigen Akt des Sinnverstehens.

Dieses Prinzip des Überblendens verschiedener Strukturen zu einem neuen Ganzen setzt sich fort auf der neurophysiologischen Ebene von Schaltkreisen und Netzwerken, die sich global verteilt in den verschiedenen Arealen und Schichten des Gehirns zu neuen gemeinsamen Funktionen zusammenfügen und überlappen. Dieses zentralnervöse Verfahren des beständigen Zusammenschaltens, Überblendens und Aufeinanderbeziehens global voneinander getrennter Schaltkreise und Netzwerke führt Schrott zufolge zu Schleifen der Selbstreflexion, die das Gehirn zum „Beobachter seiner Selbst“ werden lassen (vgl. Schrott 2011, S.370)), – eine Formulierung, die an Damasios Als-ob-Körperschleifen erinnert, ohne allerdings die bei Damasio und Plessner thematisierte Gegenüberstellung von Gehirn und Körper explizit miteinzubeziehen.

Dennoch haben wir es hier ganz offensichtlich mit neurophysiologischen Mechanismen zu tun, die zur exzentrischen Positionalität des Menschen funktional sind. Ich halte es deshalb für durchaus möglich und auch für sinnvoll, das von Schrott und Jacobs mit „Gehirn und Gedicht“ angestoßene interdisziplinäre Projekt zu einer Ästhesiologie des Geistes zu erweitern und es – wie Plessner schreibt – „über das ganze Gebiet menschlicher Tätigkeit“ auszudehnen. (Vgl. Einheit der Sinne, S.295)

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