„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 21. Juli 2011

Raoul Schrott/Arthur Jacobs, Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren, München 2011

2. Methode
    – Interdisziplinarität
    – Korrelation
    – Statistik
3. Zum Projekt einer Ästhesiologie des Geistes (Plessner)
4. Metaphern, Analogien und exzentrische Positionalität
5. Bewußtsein: Schaltkreise, Regelkreise und Netzwerke
6. Zum Konzept eines Kernselbsts (Damasio)
7. Haltungen
8. Gestaltwahrnehmung und Kategorien
9. Naivität und Kritik/Reflexion
10. Statistisches Verstehen von Sätzen und unmittelbares Verstehen von Metaphern
11. Reine Stimuli: die Sichtbarmachung von nur ungenau Geschautem
12. Regel und Regelbruch: Differenz von Sagen und Meinen
13. Poesie versus Narrativität
14. Genetisch vorprogrammiert? – Denkfiguren als Operationsmodi des Gehirns

Wenn von Bewußtsein die Rede sein soll, so kann man sich dabei nicht damit begnügen, sich nur mit Selbstbewußtsein, Kognition oder mit Intelligenz zu befassen. Bewußtsein ist ein vielschichtiges Phänomen und umfaßt paradoxerweise auch unbewußte Prozesse, die wir gewöhnlich mit dem Begriff der Intuition bezeichnen. Diese unbewußten Bewußtseinsprozesse reichen weit in die Biologie unseres Körpers hinein. Ich habe versucht, diese Zusammenhänge mit dem Bild einer Pyramide darzustellen. (Vgl. meinen Post vom 01.06.2011) Dabei spielt der Begriff der Haltung eine zentrale Rolle. ‚Haltung‘ ist eine Symbiose aus Bewußtsein und Körper. Unser Bewußtsein wird so sehr vom Körper getragen (gehalten), wie es unsere körperlichen Prozesse beeinflußt. Beides zusammen nenne ich Haltung.

Anhand des Buches von Schrott und Jacobs läßt sich nun sehr schön zeigen, daß es nicht einfach nur eine Haltung im Sinne einer Lebenshaltung der Person gibt, – eine Haltung, die wir auch als ‚Gesinnung‘ bezeichnen können, sondern daß es sehr viele verschiedene Haltungen gibt. Das ist eigentlich auch zu erwarten, wenn Haltung tatsächlich in erster Linie als Handlungspotential verstanden werden soll, als fertige, zur Verfügung stehende Verhaltensstrukturen, die wir in den dazugehörigen Situationen nur noch ‚abzurufen‘ brauchen. Nach diesem Verständnis gibt es so viele Haltungen, wie es bestimmte Gelegenheitsstrukturen gibt, also Rollenerwartungen, auf die wir uns innerlich vorbereiten können. Aber es gibt auch offene, nicht auf bestimmte Situationen festgelegte Haltungen, die es uns ermöglichen, in unvorhersehbaren Situationen, etwa in Notsituationen, einen kühlen Kopf zu bewahren.

In dem Buch von Schrott und Jacobs finde ich nun etwa sieben verschiedene Grundhaltungen. Dazu zählen z.B. Wahrnehmungs- und Verstehenshaltungen (vgl. Schrott 2011, S.64f.), etwa die Kinästhetik (Schrott und Jacobs sprechen von „Sensomotorik“, was aber dasselbe meint) und instinktive wie auch durch Erfahrung erworbene Fähigkeiten der Gefahreneinschätzung (welches Tier, das in meinem Blickfeld auftaucht, ist gefährlich, welches harmlos?). Über die bloße Wahrnehmung hinaus geht die Verstehenshaltung, das, was Schrott meint, wenn er immer wieder „Lernen“ mit „Konditionierung“ gleichsetzt. (Vgl. Schrott 2011, S.47 u.ö.) Auf diese problematische Gleichsetzung werde ich noch in einem späteren Post gesondert eingehen.

Die Verstehenshaltung macht tatsächlich den Eindruck einer Konditionierung, aber sie beinhaltet doch wesentlich mehr als das. Sie ist eine aus ursprünglichen Bewußtseinsprozessen ins Unbewußte herabgesunkene Bereitschaft, bestimmte Sprechakte, literarische Texte, persönliche Eigenheiten uns nahestehender Personen etc. bestimmten Kontexten und in Frage kommenden Intentionen zuzuordnen. Das geschieht weitgehend reflexhaft. Dennoch haben wir es bei der Verstehenshaltung mit einer Bewußtseinsleistung zu tun, mit Bildung, und nicht einfach nur mit Konditionierung.

Daß wir es bei Wahrnehmungs- und Verstehenshaltungen mit Handlungspotentialen zu tun haben, macht folgendes Zitat deutlich: „Was uns zunächst an einem realen Objekt bewusst wird, ist eigentlich aus separat verarbeiteten Komponenten (vom Wie zum Was) zusammengesetzt. Einen Löwen von einem Lamm unterschieden zu haben, heißt, dass jene Regionen im primären visuellen Kortex aktiv geworden sind, die spezifische Farben, Formen, Dimensionen und Bewegungen wahrgenommen haben. Gleichzeitig wurden damit jedoch schon einzelne Handlungsroutinen initialisiert – der erste Schritt dazu vorbereitet, ein Lamm zu streicheln oder vor einem Löwen zu flüchten, je nachdem, wie wir konditioniert wurden. Für ein Wort gilt Ähnliches: seine Klangfigur ruft zunächst jene neuronalen Strukturen wieder wach, die an der Herausbildung des mit ihm verbundenen Konzepts beteiligt waren – als die semantischen Informationen, die seinen Bedeutungshof ausmachen. Da diese Konzepte letztlich auf einem Wissen über die ‚reale Welt‘ basieren, wird auch jene Sensomotorik aktiviert, mit der wir auf sie reagieren können. Den Namen eines Werkzeuges nur zu hören – Experimente zeigen dies –, genügt, um bereits den primären motorischen Kortex zu aktivieren, der die damit verbundenen Handgriffe steuert.“ (Schrott 2011, S.64f.)

Als eine weitere Grundhaltung möchte ich hier die Denkhaltung nennen, denn im Denken haben wir es nie nur mit rein logischen, abstrakten Gedankengebilden zu tun. Vielmehr ist unser ganzer Körper über die Inhalte des Denkens, also über die Vorstellung, wie auch über deren innere Artikulation am Denken beteiligt: „Unsere auf Wörtern basierenden Gedanken (die aber nur einen Teil unseres Denkens darstellen) sind automatisch mit den motorischen Abläufen für ihre Artikulation verbunden.“ (Schrott 2011, S.65) – Über die Vorstellungen, die die Wörter in uns wachrufen, sind wir körperlich insofern am Denkprozeß beteiligt, als wir sie in einem inneren Wahrnehmungsraum lokalisieren (Kinästhetik), zum anderen dadurch, daß die Wörter selbst einen mal geringeren, mal höheren Grad an Aktivität suggerieren, auf den wir uns sensomotorisch einstellen: „Wie viel an Aktivität dabei durch einzelne Worte wachgerufen wird, hängt weniger von deren Komplexität ab, sondern davon, wie viel Bewegung ihre Bedeutung impliziert: eine Liste von aktiven Verben zu hören und zu lesen, produziert mehr potentielle Motorik als eine Liste von passiven Verben.“ (Schrott 2011, S.65)

Was für die Denkhaltung gilt, gilt natürlich auch für die Lesehaltung: „Was das Lesen trotz seiner Schnelligkeit zu solch einer vereinnahmenden Erfahrung macht, beruht also auch darauf, dass semantische Konzepte aktiviert werden, die Gefühle und unbewusste Bewegungsabläufe in Gang setzen ... Denn was uns beim Lesen primär ‚bewegt‘, sind eben jene körperlichen Erfahrungswerte, die wir mit Worten verbinden – jene konditionierten Assoziationen, die unsere Lebenserfahrung thematisch als Erinnerung abgespeichert hat. Wie tief das Psychische‘ dabei ins ‚Soma‘ des Körpers geht, zeigt sich daran, dass das periphere Nervensystem bis in die Milz, die Lymphknoten und ins Knochenmark reicht, in die für das Immunsystem wichtigen Organe. ... Dass das Lesen eines Textes zu einer dermaßen emotionalen Angelegenheit werden kann – im Gegensatz zur Analyse und Interpretation, die größerer geistiger Anstrengung und eines Bestands bedürfen –, hat mit dieser Art Psycho-Somatik zu tun. Es gelangen nämlich weit mehr Inputs vom limbischen System (wo Emotionen archiviert werden) hinauf in die Hirnrinde (wo sie evaluiert werden) als wieder herab.“ (Schrott 2011, S.66)

Der Hinweis auf das „‚Soma‘ des Körpers“ gibt mir gleich das nächste Stichwort, denn eine wesentliche Haltungskomponente bildet die Homoödynamik: „Unter diesem Gesichtspunkt sind Gefühle nichts anderes als in der Erinnerung gespeicherte körperliche Verhaltenswerte und Erfahrungszustände. Unser Gehirn verbindet hierbei erinnerte Emotionen und präsentische Gefühle (die gleichfalls letztlich homöostatischen Ursprungs sind) mit einem konzeptuellen Modell der Welt – zugleich aber auch mit fokussierten Sinneseindrücken sowie diffusen Wahrnehmungen am Rand. Es überblendet all dies simultan zum Eindruck eines geschlossenen, in sich einheitlichen Moments.“ (Schrott 2011, S.64) – Hier haben wir alle Elemente einer Haltung, die von bewußten „konzeptuellen Modellen der Welt“ hinabreichen bis in das Reich von Emotionen und Gefühlen als gespeicherten Verhaltens- und Erfahrungswerten. An dieser Stelle fehlt aber eine weitere Differenzierung zwischen Emotionen und Gefühlen, wie wir sie von Damasio kennen, die das von Schrott beschriebene Modell eines sich selbst beobachtenden Gehirns (vgl. Schrott 2011, S.370) um die Dimension eines auch seinen Körper beobachtenden Gehirns ergänzen könnte.

Desweiteren wäre hier die Sprechhaltung als eine weitere Grundhaltung zu nennen. Sie beinhaltet Elemente wie Prosodie und Intonation. (Vgl. Schrott 2011, S.287ff., 291, 295, 305ff., 315, 327f., 352 u.ö.) In der Prosodie und in der Intonation kommen beim Sprechen neben der expliziten Bedeutung implizite Bedeutungen zum Tragen, die mehr über die eigentlichen Intentionen des Sprechers ‚aussagen‘ als die Wörter selbst: „Eine gelungene Kommunikation bemisst sich deshalb auch daran, inwieweit unsere Körpersprache mit dem, was wir sagen übereinstimmt und eine rhythmische Einheit bildet.“ (Schrott 2011, S.315)

Und zum Schluß möchte ich hier noch die Erwartungshaltung nennen. Hierbei haben wir es mit einem Spannungsbogen zwischen dem zu tun, was wir auf routinierte Weise von Situationen und Texten erwarten können, und dem, was dieser Erwartungshaltung widerspricht und uns überrascht. Situationen und Texte sind für uns dann interessant und spannend, wenn sie uns im Rahmen dieser Erwartungshaltung weder über- noch unterfordern: „Der Wahrnehmungsprozess an sich hat etwas Stimulierendes – insofern als er sich auf Erwartungshaltungen bezieht. Werden diese auf vorhersehbare Weise eingelöst, langweilen wir uns schnell; werden sie jedoch auf bewältigbare Weise korrigiert, überrascht uns das angenehm.“ (Schrott 2011, S.133)

Ob diese verschiedenen Grundformen von Haltungen nun vollständig sind, will ich mich nicht festlegen. Auch hatte ich nicht die Absicht, mit den hier aufgezählten verschiedenen Grundhaltungen trennschafte Differenzierungen vorzunehmen. Vieles überschneidet und ‚überlappt‘ sich, wie es ja auch nicht verwunderlich ist, da uns diese Struktur des Überlappens und Überblendens in allen Bereichen der menschlichen Physiologie und des menschlichen Bewußtseins immer wieder begegnet. Aber was ich schon glaube zeigen zu können, ist, daß die Haltung ein komplexes Set von Wechselwirkungen zwischen Bewußtsein und Körper beinhaltet. Das Fundament dieser beständigen Wechselwirkungen bildet dabei die Gestaltwahrnehmung und das Sinnverstehen. Nur vermittelt über diese Bewußtseinsleistungen entsteht Haltung, – nicht durch Konditionierung.

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