„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 23. November 2011

Plessner und Merleau-Ponty im Vergleich

Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966
Erster Teil: Der Leib: VI. Der Leib als Ausdruck und die Sprache

1. Ähnlichkeiten
2. Unterschiede: Geste, Gebärde und Haltung
3. Unterschiede: Sprache und Sinn
4. Unterschiede: Verhältnisbestimmung von Natur und Kultur
5. Unterschiede: Einheit der Sinne versus leibliche Konfusion
6. Unterschiede: Wandlung versus Differenz
7. Unterschiede: Emergenz versus Gestalt

Es ist seltsam, wie zunächst der eine, Plessner, die Entzweiung des Menschen mit sich selbst hervorhebt, als Körperleib, und in eins damit den Beginn der Reflexion ansetzt, und der andere, Merleau-Ponty, die Verschmelzung von Subjekt und Objekt thematisiert, als Leib, und damit die Auflösung der Reflexion; wie dann aber wieder beide die Seiten tauschen, und der eine, Plessner, die Einheit der Sinne und des Organismus hervorhebt – mal als „System von Sinnesmodalitäten“ (Plessner 1980/1923, S.302), mal als „auf Erhaltung seines physiologischen Gleichgewichts notwendig bedachte Lebenseinheit“ (Plessner 1980/1923, S.294) –, während Merleau-Ponty, noch über Plessners Entzweiung des Körperleibs hinausgehend, von einem physiologischen Drama spricht, das durch den Leib „hindurch sich abspielt“, so daß von einer Einheit nur noch in einem impliziten und konfusen Sinne die Rede sein könne. (Vgl. Merleau-Ponty, S.234)

Bei Plessner erklärt sich die Entzweiung des Menschen mit sich selbst aus der Grenzbestimmung des Körperleibs. Diese Grenzbestimmung steht nicht im Widerspruch zu einer organischen und personalen Einheitsbestimmung des Menschen. Vielmehr wirkt sich die Grenzbestimmung auf die individuelle Ontogenese dynamisch aus, indem sich aus ihr neue Seinsebenen, Seele und Geist, erheben, die letztlich Momente seiner exzentrischen Positionalität bilden.

Merleau-Ponty hingegen nimmt die Physiologie von vornherein nicht in seine Leibbestimmung mit hinein, – jedenfalls nicht in dem Kapitel, mit dem ich mich hier hauptsächlich befasse und in dem es um eine Verhältnisbestimmung von leiblichem Ausdruck und Sprache geht. Die Physiologie wird von ihm nur „als Bündel von Vorgängen dritter Person“ beschrieben. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.234) Mit „Vorgängen dritter Person“ scheint Merleau-Ponty empirische Prozesse zu meinen, die ‚objektiv‘ beobachtet und analysiert werden können. Aus dieser Perspektive können die physiologischen Prozesse des Organismus – so Merleau-Ponty – keine organische Einheit bilden, sondern dem Betrachter (als dritter Person) nur den Eindruck eines verworrenen, unzusammenhängenden „Bündels“ bieten. (Vgl. ebenda)

Aber niemand ist gezwungen, die Physiologie aus dieser Perspektive zu sehen! Auch Plessner lehnt ein deskriptiv-analytisches Vorgehen ab, das nur zu Zergliederungen „der verschiedenen Sinneseindrücke“ führen könne und dabei den Blick für ihre Einheit aus den Augen zu verlieren droht. (Vgl. Plessner 1980/1923, S.294) Nur weil man also eine mechanistische Auffassung der organischen Physiologie ablehnt, muß man doch nicht gleich die ganze Physiologie als mechanistisches (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.223) und insgesamt verworrenes und konfuses Geschehen verwerfen!

Vor allem aber muß aufgrund der Ausklammerung der Physiologie als Vorgängen dritter Person unverständlich bleiben, wie denn die „Sprachgebärde“ funktionieren soll. Denn Merleau-Ponty zufolge stellt sie eine „Modulation“, einen „Gebrauch“ des Leibes dar. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.214) Worin aber soll die Modulation bestehen, wenn nicht in einer Modulation seiner Physiologie? Sowohl Artikulation als auch Klang, auf die Merleau hier verweist, haben ihre Grundlagen in den Organen und im Volumen des Körpers. Ohne die dazugehörige Physiologie wäre also eine Sprachgebärde im Merleau-Pontyschen Sinne überhaupt nicht denkbar!

Auch die empathischen Grundlagen der Intersubjektivität, die Merleau-Ponty nicht als eine „Leistung des Denkens“ beschreibt, sondern als eine „synchrone Modulation meiner eigenen Existenz, eine Verwandlung meines Seins“ (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.218), haben ihre Physiologie, – denn was sonst sollte unter „synchroner Modulation meiner eigenen Existenz“ zu verstehen sein? Wenn also tatsächlich Kommunikation dadurch ermöglicht wird, daß die Intentionen eines anderen Menschen „meinem Leibe inne (wohnen)“, wie Merleau-Ponty schreibt, und „die meinige(n) seinem Leibe“ (vgl. Merleau-Ponty 1966, S.219), dann kann dies doch nur in der Form einer Haltung bzw. eben einer „Gebärde“ gemeint sein, also in Form einer über die Körperhaltung umgesetzten Modifikation der Physiologie.

Ohne ein solches Verständnis und eine entsprechende Klärung physiologischer Prozesse bleibt jedenfalls Merleau-Pontys zentrale These, daß nämlich der Leib es ist, „der zeigt“ und „der spricht“, unbegründet. (Vgl. Merleau-Ponty 1966, S.233)

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