„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 4. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)  
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Hatte ich Blumenberg in einem Post vom 08.08.2010 den fehlenden systematischen Bezug auf die Leiblichkeit des Menschen vorgeworfen, und hatte ich in einem Post vom 17.11.2010 Plessner dahingehend kritisiert, daß er die menschliche Lebenswelt nicht genügend berücksichtigt, so fällt bei Merleau-Ponty auf, daß es in seiner Nachfolge zu einer undifferenzierten Verschmelzung menschlicher Leiblichkeit und Lebensweltlichkeit kommt. Bei Waldenfels führt das zu einer ausgeprägten Allergie gegen den Subjektbegriff (vgl. meinen Post vom 08.01.2011), während Meyer-Drawe, mit derem Buch „Leiblichkeit und Sozialität“ ich mich in den letzten Wochen eingehender befaßt habe, immerhin darum bemüht ist, auch dem Subjekt und seiner Perspektive gerecht zu werden. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.11, 16 u.ö.) Da sie dies aber – eben mit Bezug auf Merleau-Ponty – auf dem Boden einer Ontologisierung der Lebenswelt als Inter-Subjektivität und Inter-Faktizität versucht, spielt auch bei ihr die subjektive Perspektive nur noch eine untergeordnete Rolle.

Das wichtigste Motiv für mich, einen Blog zur Erkenntnisethik zu betreiben, liegt in der Verteidigung der Eigenständigkeit der individuellen Urteilskraft. Meine Grundfrage bei allen Texten, die ich hier bespreche, lautet immer: wird hier der eigene Verstand gestärkt oder geschwächt? Wenn Merlau-Ponty fragt: „Wie aber kann menschliches Denken und Tun im Modus des Man erfaßbar sein, da es doch stets und grundsätzlich ein Tun in erster Person, unablöslich von einem Ich ist?“ (Meyer-Drawe 1984, S.152) – kann es zwei mögliche Antworten darauf geben. Indem zum einen „grundsätzlich“ davon ausgegangen wird, daß das menschliche Handeln von einem subjektiven Ich „unablöslich“ ist, kann das „Tun im Modus des Man“ dazu nur in einem Ableitungsverhältnis stehen. Erst müßte also geklärt werden, wie ein Handeln „in erster Person“ möglich ist – das wäre die Frage nach der individuellen Ontogenese –, um dann die Frage zu beantworten, wie eine Lebenswelt („Man“) diese „erste Person“, dieses „Ich“ als Handlungssubjekt enteignen kann – das wäre eine Frage nach der Soziogenese. Wir hätten es also zwar mit einem Wechselverhältnis zwischen einer Soziogenese der Lebenswelt und einer Ontogenese der individuellen Person zu tun, aber nicht mit einem gleichursprünglichen Wechselverhältnis, denn am Anfang stände die Frage nach dem individuellen Bewußtsein: keine Soziogenese ohne Ontogenese.

Die andere mögliche Antwort besteht darin, daß das menschliche Handeln zwar „unablöslich“ von einem subjektiven Ich ist, dies aber nur in einem physischen Sinne gemeint ist. Das Ich bezieht sich sozusagen nur auf den unaustauschbaren Leib, den wir so wenig mit anderen teilen können wie den Schmerz. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.154) Tatsächlich aber liegt dem Ich, so Meyer-Drawe, noch eine „primordiale() ‚anonyme() Kollektivität‘“ (Meyer-Drawe 1984, S.154) voraus, also eine prä-egologische Verbundenheit des Sozialen mit dem „Leib“ als „primordiale(m) Erfahrungsvollzug“ (vgl. ebenda). Anstatt daß es also kein Wir gibt ohne Ich, kein Soziales ohne Individuum, ist es genau umgekehrt: Es gibt kein Ich ohne Wir und kein Individuum ohne Soziales, und zwar im Sinne einer einseitigen Fundierung der individuellen Ontogenese durch die Soziogenese, denn: „Es gibt zwar präpersonales Sein, aber kein präsoziales.“ (Meyer-Drawe 1984, S.30)

Nun könnte man hier vielleicht einwenden, daß es sich um die altbekannte Problematik handelt, was denn früher war: die Henne oder das Ei? Aber im Hintergrund dieser oberflächlichen Problematik verbirgt sich noch eine ganz andere, nämlich die von mir eingangs angesprochene Frage nach der Eigenständigkeit einer individuellen Urteilskraft. Wenn nämlich Merleau-Ponty fragt, wie „menschliches Denken und Tun im Modus des Man erfaßbar sein“ könne, wo „doch stets und grundsätzlich ein Tun in erster Person, unablöslich von einem Ich ist?“  (s.o.), und so zu einer Vorordnung der Sozialität vor der Individualität kommt, frage ich genau umgekehrt, wie denn menschliches Denken und Tun in erster Person erfaßbar sein kann, also als eigenständige Urteilskraft, wo es doch stets und grundsätzlich, also gewissermaßen ‚unablöslich‘ in Strukturen der Lebenswelt eingebunden ist?

Ich komme dabei zu einer Vorordnung des individuellen Subjekts im Körperleib. Aufgrund der Doppelaspektivität des Körperleibs kann ‚ich‘ jederzeit aus der Lebenswelt, dem Heideggerischen ‚Man‘, herausfallen, z.B. aufgrund von körperlichen Reaktionen, wie sie Nishitani als „Niesen" und Plessner als „Lachen und Weinen“ beschrieben haben. ‚Ich‘ befinde mich – so Plessner – im „Streit“ mit meinem Körper (vgl. Helmuth Plessner Plessner, Anthropologie der Sinne, in: Gesammelte Schriften III: Anthropologie der Sinne. Frankfurt a.M. 1980/1970, S.317-393: 369), weil der Körperleib seine Differenz, seine Grenze in sich selber hat. Der Merleau-Pontysche Leib hat seine Grenze aber nicht in sich selbst, sondern gegenüber dem Anderen, also mit Meyer-Drawe: gegenüber dem Sozialen, und dieses Soziale wiederum bildet einen Aspekt der leiblichen Weltzugewandtheit. Das Soziale ist also schon am Körper selbst, es ist „inkarniert“, und aufgrund dieser Verschmelzung ist es dem individuellen Ich immer schon voraus und das individuelle Ich ist ihm immer nur hinterher. Es kann aus dem Sozialen, aus der Lebenswelt, nicht mehr herausfallen, – auch nicht im Grenzfall einer Krankheit. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.31)

Vor dem Hintergrund unserer alltäglichen Erfahrungen mit ‚Gruppendynamiken‘ (Gruppendenke) bedeutet eine solche Konzeption, daß diese Vorausgesetztheit des Sozialen individuelle Urteilskraft von vornherein verunmöglicht. Individueller Verstand ist nur dort möglich, wo der lebensweltliche Horizont des Sozialen in sich zusammenbrechen kann, so daß sich der individuelle Blick für eine offene, unheilige Weite öffnet. Das wiederum bedeutet, daß die individuelle Urteilskraft noch eine andere Basis haben muß als den sozialen Sinn. Diese Basis kann ich nur in einer Grenzbestimmung des Körperleibs erkennen. Es geht also letztlich eben doch um eine einseitige Fundierung der Wechselseitigkeit von Soziogenese und Ontogenese, und zwar im Körperleib und damit in der individuellen Person.

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