„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 5. Dezember 2011

Zur Ontologisierung der Lebenswelt

Käte Meyer-Drawe, Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität, München 3/2001 (1984)
  1. Einseitig fundierte Wechselseitigkeit der Soziogenese und der Ontogenese?
  2. Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität
  3. Pädagogischer Sinn und Verantwortung
  4. Naturalisierung des Sinns
  5. Differenz von Sagen und Meinen in der Theorie und in der Kommunikation
  6. Differenz von Gemeinschaft und Gesellschaft
  7. Grenzen der Lebenswelt: Krankheit und Krise
  8. Ambiguität von Häresie und Affirmation
  9. Phänomenologie als Ontologie
Ich denke, ich gehe nicht falsch in der Annahme, daß bei Meyer-Drawe – und entsprechend auch bei Merleau-Ponty – der Begriff der Lebenswelt mit dem der Inter-Subjektivität weitgehend identisch ist. Zur Schreibweise dieses Wortes merkt Meyer-Drawe an, daß sie mit dem hervorgehobenen Bindestrich zwischen ‚Inter‘ und ‚Subjektivität‘ zum einen darauf aufmerksam machen will, „daß Inter-Subjektivität nicht mit Objektivität zusammenfällt, sondern Objektivität eine bestimmte Form von Inter-Subjektivität ist.“  (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.11)

An anderer Stelle führt Meyer-Drawe zur Objektivität aus, daß wir es hier mit einer Überschreitung von „private(r) Subjektivität“ in Richtung auf eine „Welt für ‚Jedermann‘“ zu tun haben: „In der natürlichen Einstellung zeigt sich, daß die Welt nicht nur für mich das ist, was sie ist, sondern für jedermann schlechthin. In der Konzeption als Jedermann ist das Selbst mitumfaßt. Wenn ich mich nun um objektive Erkenntnis bemühe, so schrumpfe ich für mich selbst gleichsam zu einem bloßen Jedermann. Unter dieser Hinsicht sind meine Erfassung der Welt und die des Anderen ‚völlig gleichgeartet‘ ().“ (Meyer-Drawe 1984, S.91) – Dieser Verweis auf die „natürliche Einstellung“ und auf das „Jedermann“ beinhaltet einige wesentliche Momente des Lebensweltbegriffs.

Ihrer o.g. Anmerkung zur Schreibweise von ‚Inter-Subjektivität‘ fügt Meyer-Drawe hinzu, daß es ihr darin nicht nur um das Inter, also das Objektivität gewährleistende Gemeinsame der Welterfahrung geht, sondern auch um die Subjektivität selbst, als zweitem Bestandteil des Bindestrichwortes: mit dem kollektiven ‚Inter‘ soll „keine kollektivistische Tilgung von Subjektivität“ beabsichtigt sein. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.11)

Insofern also der Begriff der „Inter-Subjektivität“ eine Gleichwertigkeit von Sozialität und Individualität beinhalten soll, ginge er tatsächlich über den Sinngehalt des Lebensweltbegriffs hinaus. Dabei muß man aber berücksichtigen, daß ‚Subjektivität‘ eben immer diese zwei Dimensionen haben kann: (a) die Dimension einer kollektiven Subjektivität, im Sinne eines ‚Man‘ bzw. im Sinne einer Lebenswelt und (b) die individuelle Subjektivität, im Sinne einer leibgebundenen, personalen Perspektive. Bei beiden haben wir es mit Perspektiven zu tun, d.h. mit Horizonten: die lebensweltliche Perspektive, die uns hinterrücks (unbewußt) und von Innen heraus in unserer Welterfahrung orientiert, und die individuelle Perspektive, die wir vor dem Hintergrund einer Bildungsgeschichte (Autobiographie) und aufgrund eines wie auch immer verwobenen Motivgeflechts in einer konkreten Situation (Außenhorizont) einnehmen.

Hält man sich an diese Begriffsbestimmung von „Inter-Subjektivität“, hätten wir es also tatsächlich mit einer vom Lebensweltbegriff unterscheidbaren Begriffsbildung zu tun. Denn gegenüber der Lebenswelt wäre die subjektive Perspektive nur durchzuhalten, wenn sich die Individuen derem Horizont entziehen und sich ihr als etwas Äußerlichem gegenüberstellen könnten. Damit ist die Frage verbunden, wie wir trotz unserer lebensweltlichen Vereinnahmung aus ihr herausfallen können. Meyer-Drawes Bemerkungen zur Schreibweise von Inter-Subjektivität beinhalten nun aber ein gleichursprüngliches „Zugleich“ von Subjektivität und Objektivität (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.148). Sie laufen darauf hinaus, daß „Individualität und Sozialisation ... ein Zugleich (bilden)“. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.222)

Diese Gleichursprünglichkeit von Sozialität und Individualität in der Inter-Subjektivität bringt aber mehr eine implizite Sorge Meyer-Drawes um den prekären Status des individuellen Subjekts angesichts des primordialen Status „kollektiver Anonymität“ (vgl. Meyer-Drawe 1984, S.154) zum Ausdruck, als daß sie tatsächlich in der Begriffsbestimmung der Inter-Subjektivität auch umgesetzt wird. Letztlich nämlich gibt es auch in der Inter-Subjektivität kein ‚Zugleich‘, keine Gleichursprünglichkeit von Sozialität und Individualität: „Sozialer Sinn entwickelt sich dabei nicht aus der Selbstbezüglichkeit des nur seiner selbst gewissen Subjekts, sondern er ist in ontologischer und genetischer Sicht fundierender Modus unserer Existenz.“ (Meyer-Drawe 1984, S.229) – Damit fällt aber die Inter-Subjektivität voll und ganz in den Begriffsumfang der Lebenswelt zurück, und es stellt sich ihr gegenüber dieselbe Frage: kann das individuelle Subjekt aus ihr herausfallen und eine eigene Perspektive einnehmen?

Zu dieser Lebensweltlichkeit von Inter-Subjektivität paßt der Begriff der Inter-Faktizität. Hier wird noch einmal die einseitige Vorausgesetztheit des ‚Inter‘ vor dem ‚Subjekt‘ auf den Punkt gebracht: „Seine (Merleau-Pontys – DZ) Thematisierung der Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität bewegt sich in einem Bereich, der der anthropologischen, soziologischen und psychologischen Interpretation menschlicher Existenz vorausliegt.“ (Meyer-Drawe 1984, S.230)

Inter-Faktizität beinhaltet nichts anderes als die faktische, also lebensweltliche Bestimmtheit bzw. Situiertheit des individuellen Subjekts, die ihm immer schon vorausgeht und es von hinten, vom Rücken her in seinem Handeln und Denken bestimmt: „In unserem faktischen Existieren ergibt sich nicht die Frage nach sozialem oder individualem Sein; denn wir sind nie ganz Ich und nie ganz Nicht-Ich. Zwar erfahren wir uns als Aktionszentren, doch gleichzeitig können wir nie vollständig über die Situation, in der wir handeln, verfügen. Unser ausdrückliches und absichtsvolles Denken und Tun sind fundiert in zum großen Teil anonymen interpersonalen Vollzügen, wie z.B. Sitten und Gebräuchen, Sprache der Zeit und des Landes, politischen und ökonomischen Strukturen, die unseren Handlungsspielraum konstituieren und eingrenzen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.14) – Als Handlungssubjekt tritt das Individuum hier gar nicht mehr in Erscheinung, nur noch als ‚Intersubjekt‘, und zwar definitiv ohne Bindestrich dazwischen. Das Intersubjekt ist das ‚Subjekt‘ einer Lebenswelt, aus der es jetzt definitiv nicht mehr herauszufallen vermag.

Die Inter-Faktizität wird so zur humanen Grundbestimmung menschlichen Handelns und Denkens aufgewertet, – so sehr, daß z.B. „Kontra-Faktizität“, also die eigentliche Freiheitsdimension in der Wendung gegen die Lebenswelt nun als „inhuman“ erscheint: „Die Kontra-Faktizität erweist sich so als inhumane Maßgabe zwischenmenschlichen Handelns, weil sie sich aus den Handlungskontexten herausbewegt, herausreflektiert, anstatt nach Aktionsmöglichkeiten innerhalb konkret fungierender, relevanter Handlungsfelder zu suchen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.139)   

Da nämlich jedes menschliche Weltverhältnis prinzipiell perspektivisch beschränkt ist – so sehr, daß jeder Versuch einer Überschreitung dieser Beschränkung in Richtung auf eine Universalität bzw. Totalität der Welterfahrung diese Welterfahrung unmöglich machen würde –, muß jede Kontra-Faktizität, die sich gegen die lebensweltliche Faktizität, also gegen die perspektivische Beschränkung des menschlichen Weltverhältnisses wendet, die Menschlichkeit des Menschen bedrohen. Schon der Versuch also, die lebensweltliche Faktizität zu überschreiten, wäre inhuman: „Die vorpersonalen, anonymen Strukturen unserer konkreten Existenz sind nicht in einem durch und durch expliziten Wissen aufzuheben. Sie bewahren ihre Opazität in ihrer lebendigen Dauer, in der notorischen Nachträglichkeit jeder reflektiven Zuwendung. In dieser faktischen Verwobenheit konstituiert sich sozialer Sinn, der nicht problematisiert zu werden braucht als ein Brückenschlagen von einem ego zu einem anderen.“ (Meyer-Drawe 1984, S.29f.)

In der Inter-Subjektivität als Inter-Faktizität haben wir also den vollen Gehalt des Lebensweltbegriffs vorliegen, ohne daß sich hier noch irgendeine Hintertür für individuelles Denken und Handeln öffnet; sogar die Notwendigkeit einer solchen Hintertür wird gar nicht mehr verstanden, denn das „Brückenschlagen von einem ego zu einem anderen“ braucht nicht mehr „problematisiert zu werden“. Dennoch geht Meyer-Drawe davon aus, im „Begriff der Perspektive den subjektiven Anteil der inter-subjektiven Sinnbildung“ bewahrt zu haben. (Vgl. Meyer-Drawe 1984, S.143)

Diesem subjektiven Anteil wird keinerlei Rationalität mehr zugesprochen, etwa im Sinne einer individuellen Urteilskraft oder eines autonomen Verstandesgebrauchs: „Rationalität ist vielmehr eine Struktur inter-subjektiver Praxis als deren konkret-historische Vernünftigkeit ... .“ (Meyer-Drawe 1984, S.234) – Vor dem Hintergrund der Inter-Faktizität und der damit verbundenen Abwertung von Kontra-Faktizität läuft aber „konkret-historische Vernünftigkeit“ nur noch auf eine Hegelsche Gleichsetzung von Wirklichkeit mit Vernünftigkeit hinaus. Wenn Meyer-Drawe hier also eine ‚Subjektivität‘ bewahrt hat, dann nicht jene, die ihr selbst als von einer „kollektivistischen Tilgung“ bedroht erschienen war, sondern nur die Subjektivität eines kollektiven Intersubjekts.

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