„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 10. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Ähnlich wie ich im letzten Post ‚Inanspruchnahme‘ und ‚Suspension‘ als Grenzbestimmungen der Lebenswelt mit ‚Naivität‘ und ‚Kritik‘ als Grenzbestimmungen des subjektiven Bewußtseins korreliert habe, möchte ich in diesem Post ‚Naivität‘ und ‚Kritik‘ als individuelle Verhältnisbestimmung eines eigenständigen Verstandesgebrauchs mit ‚Vollzug‘ und ‚Reflexion‘ korrelieren, bei denen es sich um eine aporetische Verhältnisbestimmung individueller Verantwortung handelt. Ging es im letzten Post um die Freiheit des Denkens, so geht es in diesem Post um die Freiheit des Handelns.

Mit „Vollzug“ meint Meyer-Drawe die jeweilige konkrete Erfahrung und ihren Situationsbezug. Vollzüge sind immer leiblich und situativ eingebettet, was bedeutet, daß es sich bei ihnen um Widerfahrnisse handelt, die sich nicht einfach in die subjektiven Momente von Aktion und Passion, von Tun und Erleiden ausdifferenzieren lassen. Sie haben, wie Meyer-Drawe schreibt, einen „medialen Charakter ..., etwa sich freuen, sich täuschen oder auch geboren werden, altern und aufwachen. Allen diesen Vollzügen ist gemeinsam, dass wir selbst daran beteiligt sind, ohne sie auszulösen.“ (Vgl.M.-D. 2008, S.151; Hervorhebung: DZ) – Auch Lernen ist so ein Vollzug. Alle Erfahrungen sind in diesem Sinne ‚medial‘ bedingt. Aber – wie Meyer-Drawe schreibt – wir sind an diesen Erfahrungsvollzügen, in denen etwas mit uns geschieht, „beteiligt“. Diese ‚Beteiligung‘ liegt noch jenseits der Subjekt/Objekt-Differenz (vgl.M.-D. 2008, S.151f.), aber wir gehen aus dieser Beteiligung doch als Subjekte hervor, indem wir uns nämlich darauf ‚zurückwenden‘, in Form einer Reflexion. (Vgl. M.-D 2008, S.138)

Die Reflexion hat den Sinn, sich des Vollzugs im Nachhinein zu vergewissern, ihn sich anzueignen und vor sich selbst und anderen zu rechtfertigen. Dazu dient die Sprache: „Die paradoxe Aufgabe des sprachlichen Ausdrucks besteht dagegen darin, das zur Erscheinung zu bringen, was, um zu existieren, seiner nicht bedarf, das aber, um verstanden zu werden, auf ihn angewiesen ist. Er steht nicht für eine Verdopplung der Welt, sondern für deren Hervorbringung im Spielraum zwischen Appell und Antwort.“ (M.-D. 2008, S.183)

Im Gespräch können wir dabei auf überraschende Einsichten kommen, die vorher nicht Teil unseres Wissensbestandes gewesen waren und die uns aus dem Gesprächskontext, der Situation, zufallen, ohne daß wir diese Einsichten bewußt herbeigeführt hätten: „Wir kennen die Situation, wenn wir uns selbst im Gespräch mit dem überraschen, was wir sagen. Es lag nicht als Formulierungsangebot vor, das ich nur zu wählen brauchte, sondern stellte sich angesichts des sprechenden Anderen ein, der mir Möglichkeiten zuspielt, von denen ich nicht wusste, dass ich sie habe. In meinen Antworten selbst entsteht Sinn, der mich überfallen kann.“ (M.-D. 2008, S.190)

Dennoch gelingt es uns nicht, den Ursprung dieser Einsichten auf den Begriff zu bringen und zu fixieren. Obwohl wir uns als Teil von ihm erleben, bleibt uns der Vollzug selbst fremd: „Das Eigentümliche an konkreten Erfahrungsvollzügen ist, dass sie uns als vertraute nah, aber als erkannte fern sind. Die Reflexion kommt niemals an den Ort ihres Entspringens zurück.“ (M.-D. 2008, S.211) – Und: „Niemals wird daher unsere Erfahrung in vollständiger Klarheit vorliegen. Sie wird die Schattenhaftigkeit und die Mehrdeutigkeit unserer Lebenswelt teilen.“ (Ebenda)

Und dennoch beinhaltet gerade diese aporetische Verhältnisbestimmung von Vollzug und Reflexion die Grundlage für unsere Freiheit und für unsere Verantwortung. Denn gerade weil „unsere Erfahrung nicht mit den Dingen und nicht mit unserer eigenen Vergangenheit verschmelzen kann“, gerade diese „grundsätzliche Versagung einer Vereinigung“ ermöglicht eine „Sinngebung“: „Die Welt muss ihre Verlässlichkeit einbüßen, um uns fraglich und damit für uns zum Gegenstand werden zu können. Bewusstsein von der Welt und Welt selbst bleiben einer vollendeten Synthese beraubt, weil es eines Bruchs mit der Vertrautheit der Welt bedarf, damit ein Bewusstsein von Welt überhaupt entstehen kann.“ (M.-D. 2008, S.97)

Dabei bleibt uns auf der Erkenntnisebene, dem Denken, der Gegenstand unseres Denkens, das Sein, uneinholbar vorausgesetzt. Es kommt zu keiner Verschmelzung (vgl.M.-D. 2008, S.117): „In der Thematisierung entzieht sich das Unthematische. Zweifellos ist damit seine Kandidatur für eine naturwissenschaftlich orientierte Untersuchung verspielt. Es fungiert nur zuverlässig, wenn man nicht auf es aufmerksam wird.“ (M.-D. 2008, S.190)

Wo aber die Theorie versagt, bleibt das Zeugnis des Alltags. Als Erkenntnissubjekte kommen wir zwar immer nur zu spät, weil wir unser Handeln und auch unser Denken – denn auch das Denken bleibt uns in seinem Vollzug, als Denk-Erfahrung, verborgen! – immer schon vollzogen haben, wenn wir uns reflektierend darauf zurückwenden; aber im Alltag gehen wir ganz selbstverständlich von der Willensfreiheit aus und beurteilen entsprechend uns und unsere Mitmenschen: „Wer kann daran zweifeln, dass sich uns in der Theorie entzieht, was in unserem Alltag fungiert: die Verständigung mit anderen, die Vertrautheit mit uns selbst sowie schließlich das Erkennen der Dinge. Wie fremd muss man sich geworden sein, um das Schnittbild eines menschlichen Gehirns für anschaulicher zu halten als die eigene Erfahrung des freien Willens?“ (M.-D. 2008, S.174f.)

Aufgrund dieses Bruchs zwischen Denken und Sein müssen wir uns nämlich nicht nur in der Welt verhalten, sondern wir müssen uns auch zur Welt verhalten. Und wir verhalten uns zur Welt, indem wir die Vollzüge deuten, in die wir vor aller Subjekt/Objekt-Differenz eingebunden sind. Und indem wir sie deuten, in der Reflexion, im Gespräch, ergreifen wir uns als Subjekte, nicht etwa, indem wir uns dem Ort des Entspringens dieser Subjekthaftigkeit theoretisch irgendwie annäherten, also als Erkenntnissubjekte, sondern indem wir, wie Meyer-Drawe mit Bezug auf Plessner schreibt, unser „Leben führen“, also als Handlungssubjekte: „Menschen leben nicht einfach. Sie müssen ihr Leben führen. Sie treten ins Verhältnis zu ihrer eigenen Verhältnishaftigkeit.“ (M.-D. 2008, S.32)

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