„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 13. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Daß die Lebenswelt Momente der Naivität beinhaltet, die jenseits einer bloßen Behinderung von Reflexion diese sogar allererst ermöglichen, hatte ich schon in meinem Post vom 09.01.2012 angesprochen. Dort hatte ich sie im Sinne einer zweiten Naivität verstanden, in der diese Naivität in Form von Intuitionen zu einem Mittel des Erkenntnisprozesses werden könnte. Denn erst auf der Basis von (naiven) Intuitionen erhält unser Verstand das Material, an dem er sich ‚abarbeiten‘ kann. Erst über die Intuition erhält das Bewußtsein seine Gegenstände. In diesem Sinne bin ich in besagtem Post sogar so weit gegangen, zu behaupten, daß dem Bewußtsein seine Gegenstände zum größten Teil aus der Lebenswelt zuwachsen.

Das gegenstandskonstitutive Moment der Lebenswelt, von dem hier die Rede ist, läßt sich auch als „Weltglaube“ beschreiben, oder als „Wahrnehmungsglaube“, wie Meyer-Drawe auch schreibt (vgl. M.-D. 2008, S.28, 138f., 206): „Die Vorstruktur des Verstehens wurzelt in einem in erster Linie leiblich konstituierten Weltglauben, welcher die Existenz der Welt nicht bezweifelt und stattdessen die Frage danach ermöglicht, was es für uns bedeutet, dass eine Welt existiert. Dieser Wahrnehmungsglaube ist nicht das Gegenteil der Reflexion, sondern ihre ständige Voraussetzung.“ (M.-D. 2008, S.28; vgl. auch S.206)

In diesem Zitat tut sich nun allerdings eine leibliche Differenz zum Begriff der Lebenswelt auf. Es ist eben nicht von einem lebensweltlichen Weltglauben, sondern von einem leiblichen Weltglauben die Rede. Dieser leibliche Weltglaube ‚fungiert‘ nun tatsächlich ähnlich wie die Lebenswelt, d.h. im Hintergrund und ohne unser bewußtes Dazutun. Was diesen leiblichen Weltglauben einem lebensweltlichen Weltglauben so zum Verwechseln ähnlich macht, ist sein Innenhorizont, zu dem es keinen Außenhorizont gibt. Oder mit Plessner: es gibt keine exzentrische Positionalität zu diesem Weltglauben. Unser Leib ist nicht negativ! Die Welt negieren und sich so ihr gegenüberstellen zu können, ist eine genuine Bewußtseinsleistung und keine Leistung unseres Leibes! Nur das menschliche Bewußtsein ist zu Negationen in der Lage, – nicht der animalische Leib, um es in Abwandlung eines Plessnerschen Satzes zum Ausdruck zu bringen. (Vgl. meinen Post vom  21.10.2010) – Zwar bezog sich Plessner an dieser Stelle tatsächlich auf die Wahrnehmung, aber eben nicht im Sinne eines Wahrnehmungsglaubens, sondern im Sinne einer den Menschen vom Tier unterscheidenden Figur-Grund-Differenzierung. Erst diese Differenzierung zwischen Figur und Grund ermöglicht als Negationsleistung die Beschreibung und Analyse abstrakter Sachverhalte, zu denen nach Plessner Tiere, die es immer nur mit Feldverhalten zu tun haben, eben nicht fähig sind.

Der Wahrnehmungsglaube selbst aber ist unserem Bewußtsein grundsätzlich entzogen. Auch wenn wir reflektierend die Außenwelt leugnen, können wir doch nicht umhin, uns in unserem Verhalten den Bedingungen der Wahrnehmungswelt zu beugen. Es ist also die prinzipielle Unmöglichkeit, dem Weltglauben der Wahrnehmung zu entrinnen, der prinzipiellen Befangenheit im Binnenhorizont der Wahrnehmungswelt, die den leiblichen Weltglauben der Lebenswelt so ähnlich macht, daß es jetzt eigentlich nicht mehr schwerfällt, zu verstehen, warum es bei Merleau-Ponty zu einer Verschmelzung von Inter-Subjektivität (als Inter-Faktizität) und Leiblichkeit kommt, – auch wenn er selbst diese Verschmelzung seltsamerweise immer bestritten hat. (Aber dazu in einem späteren Post mehr.)

Daß leiblicher Weltglaube und Lebenswelt auf verwechselbare Weise am Bewußtsein vorbei ‚fungieren‘, sollte aber nicht die grundlegende Differenz übersehen machen, daß der Wahrnehmungsglaube die Reflexion nicht etwa behindert, sondern allererst ermöglicht, während die Lebenswelt die Reflexion nur insofern zu unterstützen vermag, als sie erst in Form einer zweiten Naivität zu derem Werkzeug wird.

Dennoch kann nicht geleugnet werden, daß es nicht nur zwischen dem Wahrnehmungsglauben und der Lebenswelt eine gewisse Affinität gibt, sondern auch zwischen Wahrnehmungsglauben und Halluzinationen: „Wir kommen dem Verständnis von Halluzinationen nur dann näher, wenn wir auf das Gegenbild eines sich selbst vollständigen Bewusstseins verzichten, wenn wir also den Keim der Abweichung (von der Realität) in uns selbst entdecken. Von der Halluzination können wir lernen, dass wir uns niemals vollständig selbst besitzen, dass die Illusion nicht das Gegenteil der Wahrnehmung ist, sondern zu ihr gehört. ... Sie können herrschen, weil auch sie den Charakter eines Urglaubens haben.“ (M.-D. 2008, S.139)

So wie es also eine Parallele zwischen Wahrnehmungsglauben und Lebenswelt hinsichtlich ihres gemeinsamen Charakters als Binnenhorizont gibt, gibt es also auch eine Parallele zur Halluzination. Das ergibt sich aus der Binnenhaftigkeit, der Implizität des Bewußtseins selbst. An der Grenze zur Außenwelt bleibt es auf sich zurückverwiesen und muß damit umgehen lernen, daß seine unbezweifelbarsten Gewißheiten über den Status eines bloßen Glaubens nicht hinausreichen. Das ist ja auch der Grund für seine Expressivität, für sein Bedürfnis, sich nach außen zu wenden, um sich so seiner Gewißheiten zu vergewissern. Trotz aller früheren Versuche, die Inter-Faktizität als Inkarnation sozialen Sinns und als „Vollzug primordialer Inter-Subjektivität“ (vgl. meinen Post vom 09.12.2011) der subjektiven Kritik zu entziehen, kann Meyer-Drawe deshalb nicht umhin, von den „virtuellen Momenten unserer faktischen Lebenswelt“ zu sprechen. (M.-D. 2008, S.38)

Was aber unterscheidet dann den Weltglauben von den Halluzinationen, wenn nicht der Urglauben, daß das, was wir erleben, real ist? – Es macht eben doch einen Unterschied, in uns selbst nämlich, als „Keim der Abweichung“ von der Realität. ‚Halluzination‘ heißt abweichen, sich abwenden von der Welt; ‚Wahrnehmung‘ heißt, sich zuwenden zur Welt.

Allein der Weltglaube ermöglicht, so Meyer-Drawe, die Frage danach, „was es für uns bedeutet, dass eine Welt existiert.“ (M.-D. 2008, S.28, 206) – Die Frage danach, was es für uns bedeutet, daß eine Welt existiert, führt unweigerlich zu der Frage, was wir tun sollen. Das ist eine der drei berühmten Fragen, die Kant aufwirft: was können wir wissen, was dürfen wir hoffen, was sollen wir tun? Alle diese Fragen führen die Frage danach, was es für uns bedeutet, daß eine Welt existiert, weiter und differenzieren sie aus. Wer diese Fragen stellt, halluziniert nicht mehr. Würden wir dabei stehen bleiben, daß wir es immer und überall nur mit Halluzinationen zu tun haben, würden wir aufhören, zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘ zu unterscheiden. Wenn wir den Eindruck haben, daß es nicht gleichgültig ist, was wir tun und wie wir leben, dann liegt das vor allem an unserem Weltglauben. Auch das ist ein Merkmal, daß ihn von der Lebenswelt unterscheidet.

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