„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 23. Januar 2012

Käte Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens, München 2008

  1. Prolog zum Stand der Literatur
  2. Lebenswelt: Inanspruchnahme und Suspension
  3. Vollzug und Reflexion, Naivität und Kritik
  4. Anfangen, Loslassen und die Kunst des Bogenschießens
  5. Welt, Wahrnehmung und Halluzinationen
  6. Lernbegriffsirrwege
  7. Hirnforschung: Wo die stumme Natur wieder zu sprechen beginnt.
  8. Informationen, Netzwerke und geschlossene Systeme
  9. Bewußtsein und Sinn 
  10. Plessner versus Merleau-Ponty: „Es gibt keine Verschmelzung von Denken und Sein“!
  11. Zur Funktion der Geometrie in Platons Sklavenszene
Wenn man bedenkt, wie sehr im Gefolge der Husserlschen Phänomenologie das Bewußtsein von der Irrationalität des Leiblichen und der Lebenswelt her in Frage gestellt wurde und wie sehr es z.B. Phänomenologen wie Merleau-Ponty und Waldenfels darauf anlegten, das Bewußtsein zu überwinden, ist es schon seltsam, daß einer der Hauptvorwürfe der kritischen Theorie (u.a. Adorno und Habermas) gegen Husserls Phänomenologie immer gewesen ist, daß es sich hier um eine Bewußtseinsphilosophie handelt. Daß die Kennzeichnung als „Bewußtseinsphilosophie“ überhaupt als Makel und Vorwurf verstanden wurde und wird, ist mir völlig unverständlich. Das hat sicher etwas damit zu tun, daß sich die Kritische Theorie vor allem an Kategorien der Gesellschaftstheorie und der Psychoanalyse orientiert. Aber da es der Kritischen Theorie dabei immer um Fragen der Identität und der Nicht-Identität ging und das sich den Begriffen entziehende Nicht-Identische das Grundmotiv in Adornos Negativer Dialektik bildet, liegen Phänomenologie und Kritische Theorie gar nicht so weit auseinander: ironischer Weise gerade dort, wo sich bei beiden philosophischen Positionen letztlich eben diese Bewußtseinskritk durchsetzt.

Dabei bietet gerade Husserl ein erstes, anerkennenswertes Beispiel für das antithetische Festhalten am Bewußtsein: „Seine (Husserls – DZ) Phänomenologie bleibt den Leistungen des Bewusstseins treu, aber nicht ohne Irritationen durch das, was dem Bewusstsein fremd ist.... Wie ein Motto fungiert die von Husserl an eine deskriptive Bewusstseinslehre gerichtete Aufgabe: ‚die reine und sozusagen noch stumme Erfahrung‘ zur Aussprache ihres eigenen Sinns zu bringen.“ (M.-D. 2008, S.137f.)

Dabei geht es allerdings nicht nur darum, am Bewußtseinsbegriff trotz der undurchschaubaren Fülle bewußtseinsfremder Phänomene festzuhalten: „Trotz der Achtung für die leibliche Verwicklung in eine organisierte Wahrnehmungswelt hält Gurwitsch am Primat des Bewusstseins und damit an der Freiheit des Ichs fest ... Merleau-Ponty, der seiner Befassung mit Gurwitsch vieles verdankt, war skeptisch im Hinblick auf die Freiheit in der leiblichen Erfahrung.“ (M.-D. 2008,  S.116) – Es ist aber keine Frage des Abwägens von Für und Wider, ob Freiheit in oder gegenüber der leiblichen Erfahrung möglich ist oder nicht. Wenn Gurwitsch am Bewußtsein festhält – trotz der leiblichen Verwicklung in eine organisierte Wahrnehmungswelt –, dann hat das einen guten Grund, dem bloßer Skeptizismus nichts anhaben kann: „Das Eigentümliche an konkreten Erfahrungsvollzügen ist, dass sie uns als vertraute nah, aber als erkannte fern sind. Die Reflexion kommt niemals an den Ort ihres Entspringens zurück. ... Manche Phänomenologen wie etwa Aron Gurwitsch, aber auch Jean-Paul Sartre haben daraus den Schluss gezogen, dass schließlich doch am Ende wieder das Bewusstsein steht, selbst wenn es für die leibliche Existenz Position ergreift.“ (M.-D. 2008,  S.211)

Es geht letztlich darum, zu verstehen, daß das Bewußtsein sowohl in dem Fremden seiner Herkunft, zu der es nicht zurückzukehren vermag, wie auch in dem Fremden seiner Gegenstände, mit denen es nicht verschmelzen kann, seinen Grund und seine Notwendigkeit hat. Diese Unmöglichkeiten einer Rückkehr zum Ursprung und einer Verschmelzung mit der Welt eröffnen den Raum einer Freiheit, in dem wir unserem Leben seinen Sinn erst geben müssen. Denn wir müssen unser Leben führen, wie Meyer-Drawe mit Bezug auf Plessner schreibt. (Vgl.M.-D. 2008, S.32)

Es ist also schlicht sinnwidrig, im Namen einer bewußtseinsunabhängigen „Sinnbildung“ den Anteil des Bewußtseins an der Sinnbildung zu leugnen. Denn es ist das Bewußtsein selbst, das sich am Widerstand des Bewußtseinsfremden seiner selbst bewußt wird: „Auch Phänomenologen glauben nicht, an die Dinge selbst heranzugelangen. Sie begegnen jemandem oder etwas stets in der Differenz des etwas als etwas. ... Im Unterschied zum Konstruktivismus zeigen phänomenologische Überlegungen allerdings, ‚wie sich die Wirklichkeit im Bewusstsein selbst als bewusstseinsunabhängig herausstellt.‘ ... Es gibt eine Sinnbildung, die nicht von der Sinngebung des Bewusstseins ausgeht. Etwas ist anregend. Etwas stört.“ (M.-D. 2008,  S.163)

Indem also das Fremde stört, stößt es das Bewußtsein aus seiner Lebenswelt heraus. Und obwohl die Lebenswelt selbst ein Bewußtseinsphänomen ist, kommt dieses Bewußtsein erst durch dieses Herausfallen zu sich selbst. Es löst sich aus der Bindung des immer-schon-Wissens und des immer-schon-Könnens und stellt sich einem ihm fremden Anspruch: „Das Bewusstsein kommt nicht allein für den Sinn auf. Es antwortet auf einen ihm fremden Anspruch, durch den es wie durch eine Ohrfeige getroffen werden kann. Bewusstsein ist nicht alles. Erfahrung meint damit die Öffnung zu einer Welt, die sich mitunter aufdrängt und fungierenden Erwartungen in die Quere kommen kann.“ (M.-D. 2008,  S.189)

Genau dieses Herausfallen, dieses Herausgestoßenwerden aus dem Paradies – dieser biblische ‚Sündenfall‘ – weckt das Bewußtsein und steht nicht im Widerspruch zu ihm. Das Bewußtsein ‚macht‘ zwar nicht das Herausfallen, aber es geht aus diesem Herausfallen hervor! Bewußtsein sollte deshalb nicht als Gegensatz von Erfahrung beschrieben werden. Ist die Erfahrung eine „Öffnung zu einer Welt“, so ist sie dies nicht nur als Widerfahrnis, sondern auch als Bewußtsein, insofern dieses aus der Widerfahrnis hervorgeht.

Bewußtsein ist der Raum zwischen der Erfahrung und den Dingen, mit denen die Erfahrung nicht verschmelzen kann, weil sie zur Außenwelt gehören, also fremd sind; und es ist der Raum zwischen der Erfahrung und unserer Vergangenheit, mit der sie ebenfalls nicht verschmelzen kann, weil sie uns fremd geworden ist. Bewußtsein ist die Nicht-Koinzidenz von Innenwelt und Außenwelt: „Dass unsere Erfahrung nicht mit den Dingen und nicht mit unserer eigenen Vergangenheit verschmelzen kann, bedeutet keine ‚schlechte oder verfehlte Wahrheit, sondern eine privative Nicht-Koinzidenz‘ ..., die grundsätzliche Versagung einer Vereinigung, welche Sinngebung erst möglich macht. Die Welt muss ihre Verlässlichkeit einbüßen, um uns fraglich und damit für uns zum Gegenstand werden zu können. Bewusstsein von der Welt und Welt selbst bleiben einer vollendeten Synthese beraubt, weil es eines Bruchs mit der Vertrautheit der Welt bedarf, damit ein Bewusstsein von Welt überhaupt entstehen kann.“ (M.-D. 2008,  S.97)

Der Bruch, der Hiatus, die Nicht-Koinzidenz, das Nicht-Identische, – das sind alles Beschreibungsformen für die Notwendigkeit eines Bewußtseins, das nicht einfach Sinn stiftet – etwa in Form einer lebensweltlichen Omnipräsenz –, sondern das Sinn stiften muß, weil es eben nicht omnipräsent ist. Der Mensch muß sein Leben führen, weil er sich zu seiner „Verhältnishaftigkeit“ ins Verhältnis setzen muß. (M.-D. 2008,  S.32)

Letztlich ist es der Bewußtseinsbegriff, der den beobachtbaren Hirnaktivitäten überhaupt erst eine Bedeutung verleiht. Hier macht Meyer-Drawe einen interessanten Unterschied zwischen „Syntax“ und „Semantik“: „Unsere Umgangssprache legt nahe, dass wir uns, falls wir uns informieren, immer auch über etwas informieren. Der kybernetische Begriff der Information bezieht sich aber nur auf ein formales Symbol. Neurobiologisch kommen Signale ins Spiel, die in bestimmten Veränderungen der Nervenzell-Ensembles räumlich abgelegt werden. Die spezifischen Bedeutungen von Erinnerungen z.B. sind formal nicht darstellbar. Diese Differenz von Syntax und Semantik ist zentral und fordert die präzise und konsequente Unterscheidung von Gehirn und Bewusstsein.“ (M.-D. 2008,  S.192)

Daß Nervenimpulse nur Signale darstellen, ist ein dezenter Hinweis auf ihre ‚Bedeutungslosigkeit‘. Signale habe ich schon in einem Post vom 23.08.2011 als Elemente von Reflexbögen beschrieben, – als Reize, die Reaktionen auslösen. Meyer-Drawe fügt dem noch den Begriff der Syntax hinzu. Damit scheint sie vor allem den internen Differenzierungsprozeß von formalen Zeichen zu meinen, während sie den Begriff der Bedeutung (Semantik) für den Bezug auf Gegenstände verwendet: wir reden über etwas, und deshalb reden wir miteinander. Nervenzellen kommunizieren aber nicht über etwas, sondern geben nur Signale weiter. Die ‚Infra-Struktur‘ dieses Austausches von Signalen, also die interne, funktionelle Anatomie des zentralen Nervensystems, bezeichnet Meyer-Drawe als Syntax.

Dieser Gebrauch des Syntax-Begriffs unterscheidet sich von dem bei Tomasello, der die extravagante Syntax als eine den Bedeutungsumfang erweiternde semantische Funktion beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 27.04.2010) Bei Meyer-Drawe gibt es keine derartige Kontinuität zwischen Semantik und Syntax: „Allerdings führt keine Brücke von syntaktischen Strukturen zu semantischen Feldern. Dem Verstehen sind Grenzen gezogen. Neuropsychologische Untersuchungen zum Zusammenhang von Fühlen und Denken, die sich spezifischer Bilder bedienen, arbeiten mit einer Imagination hohen Ausmaßes, indem sie nicht konsequent unterscheiden zwischen neuronalen Prozessen im Sinne kausaler Beziehungen notwendiger Art und intentionalen sowie responsiven Strukturen hinreichender Art, welche nicht Ursachen, sondern Bedeutungen meinen.“ (M.-D. 2008, S.209)

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