„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 30. Januar 2012

Zur dreifachen Gliederung der Person

Wenn ich gegen eine Verschmelzung von Denken und Sein, von Ausdruck und Sinn und von Leib und Lebenswelt argumentiere, so stütze ich mich dabei auf eine Dreigliederung der menschlichen Person, wie sie Plessner in „Die Einheit der Sinne“ beschreibt und wie sie auch in der Pyramide (vgl. meinen Post vom 01.06.2011) zum Ausdruck kommt. Zwischen Körper und Geist verortet Plessner eine psychische Zwischenschicht, die er auch als „Leib“ bezeichnet. (Vgl. meinen Post vom 14.07.2010) Der Leib, den Plessner in „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1975 (1928)) als internes Modell des Gehirns vom Körper beschreibt (vgl. ebenda, S.230f.), bildet hier in Form eines arbeitsteiligen Systems von Sinnesorganen eine Art Verbindungsglied zwischen Körper und Geist.

Plessner zufolge bilden die Sinnesorgane „Modalitäten“ bzw. „Qualitäten“ der Entsprechung zwischen Körper und Geist. (Vgl. meinen Post vom 14.07.2010) Dabei stellen sie weder „absolute Seinszustände“ dar, noch sind sie als bloß subjektive Zustände zu verstehen. (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.310) Bei Plessner kommt es also zu keiner Verschmelzung zwischen Denken (Geist) und Sein (Körper). Stattdessen spricht er von einer „Akkordanz“ zwischen den Modalitäten der Sinnesorgane und den verschiedenen Arten des präsentativen und repräsentativen Bewußtseins. Wir haben es also bei den Sinnesorganen mit einer zwar notwendigen Einheit der Sinne zu tun, die aber keine Verschmelzung von Denken und Sein bedeutet, sondern allererst ihre Ausdifferenzierung und damit eine exzentrische Positionierung des Menschen ermöglicht. Der Untersuchung dieser Akkordanz dient Plessners Programm einer „Ästhesiologie des Geistes“.

Die Sinnesorgane ‚organisieren‘ ‚Modalitäten‘ in zwei Richtungen: in Richtung auf das Bewußtsein und seine zwei Ebenen der Präsenz und der Repräsentanz und in Richtung auf die Materie in ihren gegenständlichen, dem Bewußtsein widerstehenden Aspekten. In dieser zwischen Bewußtsein und Stoff/Materie vermittelnden Funktion unterscheiden sich die Sinnesorgane selbst noch einmal in ihrer „gegenstandsbildenden Qualität“ (vgl. Plessner 1980 (1923), S.289f.). Den im engeren Sinne gegenstandsbildenden Sinnesorganen des Gesichts und des Tastsinns stehen die Zustandssinne gegenüber (Geschmack und Geruch, Getast und Schmerz, Temperatursinn, Gleichgewichtssinn und Wollust (vgl. Plessner 1980 (1923), S.267f.)), die eine Art psychisches Zwischenreich bilden, das einerseits als ein physiologischer Mechanismus beschrieben werden kann, aber andererseits zugleich einer syntagmatischen Gliederung durch die Sprache zugänglich ist. (Vgl. meinen Post vom 15.07.2011)

Das psychische Zwischenreich gehört also gleichermaßen zum präsentativen wie zum repräsentativen Bewußtsein, was in etwa der Differenz zwischen Vollzug und Reflexion bei Meyer-Drawe entspricht. (Vgl. meinen Post vom 10.01.2012) Indem wir unsere Gefühle artikulieren (syntagmatisch gliedern), versetzen wir sie also aus dem Bereich der Präsenz in den Bereich der Repräsentanz, wodurch wir sie in ihrer Qualität verändern. Indem sie offen werden für einen Eingriff des Geistes, eröffnet sich für diesen wiederum die Möglichkeit, über den Klang der Worte, also der die Artikulation tragenden Stimme, auf den Körper einzuwirken. Zeichen und Klang werden in der mündlichen Sprache miteinander zu etwas Neuem verbunden, so daß es „etwas grundsätzlich anderes (ist), ob ich einer Erregung, Stimmung, Zuständlichkeit des Geistes und der Seele in der Haltung des Leibes spezifisch gestalteten Ausdruck gebe und sie gewissermaßen sich selbst ausdehnen und entladen lasse oder ob ich ihr Ausdruck gebe, indem ich sie meine und in Worte fasse.“ (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.214f.)

Dieser Zusammenhang von Stimme und Artikulation bildet ebenfalls eine Art ‚Haltung‛, wie sie Merleau-Ponty als „Sprachgebärde“ bezeichnet. Aber diese Sprech- und „Verstehenshaltung“ (vgl. meinen Post vom 21.07.2011) zielt bei Plessner nicht auf eine Verschmelzung von Denken und Sein. Sie beinhaltet vielmehr als spezifisch menschliche Haltung eine grundsätzliche Differenz zwischen Meinen und Sagen und zwischen Wollen und Handeln. Dabei ermöglicht das psychische Zwischenreich in seiner syntagmatischen Empfänglichkeit für die geistige Artikulation, daß wir mit Hilfe des Sprechens unsere Gefühle regulieren können. Wir müssen unser Wollen nicht mehr unmittelbar in Handeln umsetzen. Das Sprechen bringt mit Hilfe der syntagmatischen Gliederung unserer psychischen Zustände „Erregung, Spannung und Entspannungstendenz“ hervor und hilft uns so dabei, unsere Weltwahrnehmung zu organisieren, ohne zu handeln. (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.246)

Die Sprache reicht also in beide Bereiche des Bewußtseins, in den präsentativen und den repräsentativen, hinein und bezieht diese aufeinander, ohne ihre Differenz aufzuheben. Sie ermöglicht eine Art ‚Kooperation‛ zwischen präsentativem und repräsentativem Bewußtsein und damit ermöglicht sie einen personalen, subjektiven Bezug auf die Welt: „Der Geist arbeitet von zwei Seiten sprachbildend, vom Sinn her syntagmatisch, von der Anschauung her anteilnehmend und muß von diesen beiden Seiten her kooperierend vorgehen, um die Welt zu bedeuten.“ (Plessner 1980 (1923), S.246)

Bedeutung und Sinn als Formen eines subjektiven Bezugs auf die Welt entstehen also aus der syntagmatischen Kooperation von leib-psychischen und psychisch-geistigen Momenten der Person, denen jeweils die Zustandssinne und die Gegenstandssinne entsprechen. Dabei ist das „besondere Kennzeichen der Zustandssinnesorgane“ ihre „Sinnfreiheit“ (vgl. Plessner 1980 (1923), S.270). Damit ist gemeint, „daß in ihrem Material keine eigene Sinngebung stattfindet, während wir eben bei Gesicht und Gehör solche spezifischen Vergeistigungsmöglichkeiten antreffen.“ (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.269)

Genau diese ‚Sinnfreiheit‘ des psychischen Zwischenreiches macht es gerade so geeignet, die materiale Seite der Welt einerseits ins Bewußtsein zu heben und dieses ‚Material‛ zugleich zu artikulieren, d.h. ihm Bedeutung zu verleihen. Der psychische Zustand befindet sich zu Beginn der menschlichen Ontogenese sozusagen im Wartestand; er wartet auf seine ‚Prägung‛ auf und durch Gegenstände: „Gestaltete Einheiten ohne jeden Hinweis auf Sinnesdaten, Tendenzen und Verbindungen ohne Empfindungsstofflichkeit beherrschen das bewußte Seelenleben. Getragen und getrieben wird es von der unbewußten seelischen Realität.“ (Vgl. Plessner 1980 (1923), S.271)

Hier ist noch alles möglich, – auch jede Perversion, in der Schädliches als lustvoll und Nützliches als unangenehm und angsteinflößend erlebt wird. Unsere soziale Welt, die Lebenswelt, liefert uns in unseren ersten Lebensjahren viele Deutungsmöglichkeiten für das, was uns widerfährt, und die psychische Zwischenwelt richtet sich darauf ein, weil sie für jede Artikulationsmöglichkeit so empfänglich ist.

Hier in der Zwischenwelt haben wir auch jenen Aspekt des Bewußtseinslebens, der einer Verschmelzung von Denken und Sein am nächsten kommt. Denn ungeachtet der in der Brechung des Intentionsstrahls (vgl. meinen Post vom 29.10.2010) zum Ausdruck kommenden grundlegenden Differenz zwischen Ausdruck und Sinn und zwischen Leib und Lebenswelt ist die Plastizität, die Prägbarkeit des Seelenlebens auf eine bestimmte Wahrnehmungsstruktur enorm. Wir haben es mit einer fließenden Seinsform zu tun, die sich den verschiedensten Sinngebungen anzupassen vermag: „Sie erschöpft sich nie im Gewordenen, sondern passiert dieses Stadium der Bestimmtheit und Erschöpftheit nur, um wieder ins Werden, in die lebendige Aktualität überzugehen. Aus einem unauslotbaren Quellgrund, dem Innern, steigen ihre schwer faßbaren Qualitäten ins Licht des Bewußtseins, an dem sie wieder wie alle echten Geschöpfe der Nacht zergehen. Die Seele ist allemal zweideutig, ihre Geheimnisse weichen vor jedem Versuch der Enträtselung in andere Tiefen zurück. Jedes Seelische hat also eine Bestimmtheit, die Laune, der Schmerz, die Liebe, das echte Gefühl, die falsche Freude lassen sich fassen, aber erfaßt zerrinnen sie unter dem Griff der Wahrnehmung, wie wir erwachen, wenn wir träumen, daß wir träumen. Aus dem Urgrundcharakter, noch besser sagte man Ungrundcharakter der Psyche, aus ihrer Quellnatur folgt also, daß sie mehr ist als bloßer Strom oder Gerinnen der Strömung zu fester Gestaltung. Sie ist Werden und Sein in einem, weil sie zugleich die Genesis von beiden ist.“ (Plessner, Grenzen der Gemeinschaft, 2001 (1924), S.62)

Als psychisches Zwischenreich haftet die Seele an keinem bestimmten Sein, und wenn sie es doch tut und sich zu verfestigen beginnt, drohen die erwähnten Perversionen. – „Weil eben die Seele nur in extremen Fällen quasi dinghafte Momente und Seiten (‚Komplexe‘) gewinnt, unter deren objektiver Macht die Person dann leidet, im Normalfall aber in einer eigenartigen aktuellen und zugleich gestalteten Vollzugsform eines ewigen Überganges von Strebung zu Strebung lebt ...“ (vgl. Plessner, 2001 (1924), S.63), deshalb ist eine ihrer wichtigsten Eigenschaften die Berührungsempfindlichkeit, die ein solches Verschmelzen mit einem bestimmten Sein, das ‚Gerinnen‛ zu einer unbeweglich gewordenen Lebenszwangswelt verhindert. Plessner spricht vom „Noli me tangere“ der Seele: „Seele ist ein ‚Noli me tangere‘ für das Bewußtsein, das in die Tiefe des Unbewußten strebt, um die ganze Kraft des Menschen zu mobilisieren, in einheitliche Richtung zu bringen und in den Dienst seiner Ziele zu stellen.“ (Plessner 2001 (1924), S.65)

Der syntagmatischen Zugänglichkeit der psychischen Zwischenschicht für alle Formen der Artikulation entspricht deshalb eine seelische Scheu, sich im gefundenen Ausdruck ‚ding‛-fest machen zu lassen. Dies ist eine weitere Version der Brechung des Intentionsstrahls im je gefundenen Ausdruck: daß sich die Seele, kaum in ihrer Befindlichkeit ausgesprochen, wieder in sich zurückzieht und den gefundenen Ausdruck nur als eine leere Hülle zurückläßt. Die Seele fürchtet die Sichtbarkeit als eine Form der Nacktheit und Schutzlosigkeit: „Alles Psychische, das sich nackt hervorwagt, es mag so echt gefühlt, gewollt, gedacht sein, wie es will, es mag die Inbrunst, die ganze Not unmittelbaren Getriebenseins hinter ihm stehen, trägt, indem es sich hervorwagt und erscheint, das Risiko der Lächerlichkeit. Der pure Affekt, das Sich-loslassen der Seele in den Ausdruck hinein, die Unmittelbarkeit der Äußerung, die wahrhafte Rückhaltlosigkeit in der Manifestation der Urteile ebenso wie der Handlungen oder des Mienenspiels wirkt – vielleicht nicht notwendig, aber immer möglicherweise – lächerlich.“ (Plessner 2001 (1924), S.70)

Plessners Gliederung der Person in Körper, Seele und Geist beinhaltet also eine Anthropologie, die jenseits einer bloß traditionellen Begrifflichkeit auf eine Grundbefindlichkeit des menschlichen In-der-Welt-Seins hinzielt. In diesen Begriffen kommen jahrtausendealte kulturelle Intuitionen zur Sprache, die man nicht leichtfertig aufgeben sollte. Mir ist dabei vor allem wichtig, daß sich hier ‚Spielräume‛ eröffnen, denen das individuelle Bewußtsein seine Beweglichkeit verdankt, – und zwar nicht die Beweglichkeit einer Marionette. Nur im wechselseitigen Bezug von präsentativem und repräsentativem Bewußtsein, von Seele und Geist, von Naivität und Kritik entsteht der Freiraum für einen eigenständigen Verstandesgebrauch.

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