„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 21. März 2012

Anmerkungen zu meiner Lektüre in diesem Blog

Ich bin von Lesern meiner Posts zu Metzinger (vom 23.04.2010 bis zum 16.05.2010) mehrfach darauf hingewiesen worden, daß meine Kritik an Metzinger diesem nicht gerecht werde. Weil ich mich nur auf seinen Ego-Tunnel beziehe, sei meine Kritik nicht dem hohen Niveau, das Metzinger in seinen anderen Schriften an den Tag legt, angemessen. Meiner Kritik an John Locke könnte nun ebenfalls entgegengehalten werden, daß ich dem Niveau von Locke in seinem „Versuch über den menschlichen Verstand“ nicht gerecht würde. Außerdem könnte man mir vorwerfen, daß ich Rousseau viel zu positiv darstelle und sowohl die dunklen Stellen in seiner Biographie – Rousseau hatte seine eigenen Kinder ins Findelhaus abgeschoben – unter den Tisch fallen lasse, wie ich auch überhaupt nicht auf das fünfte Buch im „Emile“ eingehe, das nicht dem Emile, sondern der Sophie gewidmet ist: Emiles idealer Weggefährtin.

Als ich den Emile das erstemal las, war ich noch Schüler der gerade reformierten gymnasialen Oberstufe in Nordrhein-Westfalen. Mit Begeisterung las ich die ersten drei Bücher, stutzte aber schon bei der Lektüre des vierten Buches, da Rousseau hier plötzlich begann, Unterschiede zwischen einer Jungenerziehung und einer Mädchenerziehung zu machen. Als ich dann zum fünften Buch „Sophie oder die Frau“ kam, legte ich das Buch aus der Hand, ohne es zu Ende zu lesen. Ich war empört über die Art, wie Rousseau plötzlich alle Prinzipien, die für die Erziehung des Emile gelten sollten, für die Mädchenerziehung außer Kraft setzte. Sophie sollte nicht etwa zum Menschen erzogen werden, wie Emile, sondern sie sollte lediglich dessen passende Lebensgefährtin werden.

Erst als ich gegen Ende meines Lehramtsstudiums in Münster nach einer Vorlesung, in der es um Rousseaus „Emile“ gegangen war, den Professor, der den Erziehungsroman sehr positiv besprochen hatte, auf das fünfte Buch des „Emile“ ansprach, begann ich, Rousseau wieder als pädagogischen Denker ernstzunehmen. Der Professor (Dietrich Benner) hatte auf meine Frage geantwortet: „Hier ist Rousseau hinter sich selbst zurückgefallen!“ – Diese Antwort hatte mir erstmals eine Vorstellung davon vermittelt, daß es möglich ist, einen Autor gegen seine eigenen Irrtümer in Schutz zu nehmen und an denjenigen seiner Gedanken festzuhalten, in denen er seiner Zeit voraus ist.

Das geht natürlich auch umgekehrt: Man kann durchaus auch einen Autor in den Teilen seines Werkes kritisieren, in denen er hinter seiner Zeit zurückbleibt, – auch wenn er andere Sachen geschrieben haben sollte, die weit besser sind, als die kritisierten Texte. Was Metzinger betrifft, gilt das Argument nicht, daß mir ein Leser (2011) entgegenhielt, daß der Ego-Tunnel schon 2009 veröffentlicht worden sei und deshalb veraltet sei. Der Autor sei längst darüber hinaus. Abgesehen davon, daß nicht einmal in der Neurophysiologie Bücher schon innerhalb von zwei Jahren als veraltet eingestuft werden können, habe ich letztes Jahr stapelweise Paperback-Ausgaben in der Philosophieabteilung der Münsterschen Universitätsbuchhandlung liegen sehen. Ein so schlecht geschriebenes Buch zu einem so wichtigen Thema wie das menschliche Selbstbewußtsein, das dermaßen erfolgreich unter das Lesevolk gebracht wird, ist nicht einfach ‚veraltet‘: es ist gefährlich! Und egal, wie brillant Metzingers anderen Texte auch geschrieben sein mögen: keines dieser Texte schützt dieses eine Buch vor dem Verriß.

Auch John Lockes „Versuch über den menschlichen Verstand“ ist ein brillantes Buch und verdient alle unsere Aufmerksamkeit. Aber sein Buch „Gedanken über Erziehung“ hat leider eine Rezeptionsgeschichte, die – im Schatten des Essays – voller Mißverständnisse steckt; und diese Mißverständnisse machen es gefährlich. Geblendet von der Brillanz des Essays über den Verstand, vergißt der Leser seinen eigenen kritischen Verstand und nimmt dem ‚weisen Locke‘ jeden Unsinn ab, den er über die Erziehung schreibt. Einer der ersten, die diesen Unsinn bemerkt haben, war Rousseau. Das ist sein Verdienst, der vor allem mit den ersten drei Büchern seines „Emile“ verknüpft ist. Dieser Verdienst bleibt ihm ungeschmälert, – trotz seines unsäglichen fünften Buches zu Sophie.

Was ist aber nun das Kriterium, nach dem ich die Fortschrittlichkeit oder die Rückschrittlichkeit der Bücher beurteile, die ich in diesem Blog bespreche? Es ist das der Aufklärung: der individuelle Verstand und seine Legitimität. Die Frage, die sich immer wieder aufs Neue stellt, ist: Was kann und was darf der menschliche Verstand? Bücher, die den menschlichen Verstand schwächen, fallen hinter die Aufklärung zurück. Bücher, die das Wissen um die Grenzen des menschlichen Verstandes erneuern und ihn dadurch stärken, treiben die Aufklärung voran. Zu diesen Büchern nehme ich Stellung, – ungeachtet dessen, was deren Autoren sonst noch geschrieben haben.

Abgesehen davon: man kann einfach nicht alles gelesen haben.

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