„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 7. März 2012

Globalisierung und Lebenswelt

Ulrich Beck/Elisabeth Beck-Gernsheim, Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Berlin 2011

1. Was beschreibt eine „diagnostische“ Theorie?
2. Der innerste körperliche Kern der Lebenswelt
3. Innen- und Außenhorizonte schieben sich ineinander
4. Kommunikation ohne ‚Grenzen‘
5. Neue (Alltags-)Medien

In der Diskurstheorie bzw. in der Kommunikationstheorie gelingen kommunikative Akte vor allem deshalb, weil es Regeln gibt, an denen sich die Gesprächsteilnehmer orientieren, und weil es eine dritte Personperspektive gibt, die das Einhalten dieser Regeln überwacht. Die entscheidende Instanz liegt also im kognitiven Bereich, d.h. Kommunikation ist prinzipiell kontrollierbar und steuerbar. Die Regeln, die unsere Kommunikation steuern, bilden eine Form von Meta-Kommunikation: sie sind rein formal und unabhängig von den Inhalten der Kommunikation. Bei Habermas bestehen diese Inhalte vor allem aus den Interessen, die die Gesprächsteilnehmer verfolgen. Im Gespräch geht es deshalb allererst darum, die verschiedenen Interessen der Gesprächsteilnehmer zu klären und auf dieser Grundlage so etwas wie ein gemeinsames Interesse, den Konsens, zu finden.

Dieses Interesse am Interesse des Anderen nennt Tomasello „gemeinsame Aufmerksamkeit“ und „Rekursivität“. (Vgl. meine Posts vom 25.04.2010 und vom 24.05.2011) Bei Tomasello haben wir es dabei aber weniger mit von Normen und Regeln, als vielmehr von Empathie und Identifikation bestimmten Grundlagen der Kommunikation zu tun; d.h. es sind nicht die Regeln, die Kommunikation gelingen lassen, sondern die Fähigkeit des Menschen, sich mit der Intentionalität seines Mitmenschen zu identifizieren. Kommunikation wird also weniger von der Notwendigkeit eines Ausgleichs gegeneinander gerichteter Interessen getragen, als vielmehr – Tomasello zufolge – von dem Wunsch, so zu sein wie der andere. Dieses individuelle Motiv aber, so sein zu wollen wie der andere, ist das eigentliche Fundament der Lebenswelt, ja, es ist die Lebenswelt.

Nun haben wir aber, wie am Ende des letzten Posts angesprochen, in multikulturellen Paarbeziehungen die Situation, daß ihnen keine gemeinsame Lebenswelt zur Verfügung steht. Auch B./B.-G. sprechen das Problem an, daß es „in den heterogenen und spannungsgeladenen Weltfamilien keine Metasprache (gibt), die Differenzen regelt.“  (Vgl. B./B.-G., S.245) – Multikulturelle Paare müssen sich also erst die Grundlage erfinden, auf der eine dauerhafte Kommunikation und damit eine möglicherweise lebenslange Bindung möglich wird. Bei der Problembeschreibung greifen B./B.-G. aber auf das Vokabular der erwähnten Diskurs- und Kommunikationstheorien zurück: „Also müssen die Prozeduren und Bedingungen der Aushandlung im Aushandeln mit ausgehandelt werden. Weltfamilien müssen Verfahren und Praktiken reflexiver Verhandlung selbsttätig erfinden. Das setzt wenigstens Ansätze eines Perspektivenwechsels voraus, ein Bemühen, den Blickwinkel des Partners zu verstehen ...“ (B./B.-G., S.229)

Entsprechend der Habermasschen Kommunikationstheorie verstehen B./B.-G. den Selbstverständigungsprozeß in multikulturellen Paarbeziehung als Aushandlungsprozeß, – also als einen vor allem durch normative Regeln der Fairneß bestimmten Interessensausgleich. Dabei gehen sie durchaus über das Habermassche Kommunikationsparadigma hinaus, da sie in diesen Interessenausgleich „sowohl Gespräch wie Stummheit“ einbeziehen wollen (vgl. B./B.-G., 229). ‚Stummheit‘, also außersprachliche Verständigung, ist in Habermasens Kommunikationstheorie nicht vorgesehen. Nur im Rahmen expliziter, innersprachlicher Verständigung erweist sich bei Habermas die Tauglichkeit und Legitimität jeden Interessenausgleichs.

Indem B./B.-G. über diese sprachliche Grenze hinausgehen, versuchen sie, so etwas wie eine „(g)renzenübergreifende Kommunikation“ anzudenken, die das Nicht-Sprechen-Können des jeweiligen exo-kulturellen Partners ernst nimmt, anstatt es von vornherein an den Grenzen einer Sprachgemeinschaft zu disqualifizieren. Dennoch stehen B./B.-G. mit „Reflexivität“ und „Reflexion“ nur zwei untaugliche Begriffe zur Verfügung, um die Sprachlosigkeit des Fremden von der sprachlichen Verständigkeit des Nicht-mehr-so-Fremden zu unterscheiden: „Kommunikation über Grenzen kann zum einen ‚Reflexivität‘ meinen, das heißt die sprachlose Konfrontation mit dem Fremden im eigenen Leben; zum anderen ‚Reflexion‘, das heißt das Nachdenken, Nachfragen, das Gespräch darüber.()“ (B./B.-G., S.228f.)

An der Differenz zwischen Reflexivität und Reflexion, die ja vom Wort her schon von einer tatsächlichen Gegenüberstellung, einer ‚Spiegelung‘ ausgehen, kann aber die Sprachlosigkeit nicht thematisch werden, mit der uns die unsichtbaren Grenzen einer Lebenswelt belasten. Gerade weil uns die Lebenswelt hinter unserem Rücken bestimmt – also jenseits von Reflexivität und Reflexion –, bleibt die „Konfrontation mit dem Fremden im eigenen Leben“ sprachlos. Subtile Differenzierungen zwischen „Reflexivität“ und „Reflexion“ greifen hier einfach zu kurz. Es fehlt das Moment des unverzichtbar und notwendig Naiven, ohne das jede Kommunikation im vorhinein scheitern muß. Denn keine noch so empfindsame Reflexion der Andersartigkeit des Anderen und der sich darin spiegelnden Andersartigkeit unseres eigenen Selbst führt an der Plessnerschen Einsicht vorbei, daß menschliche Expressivität prinzipiell scheitert: an der Welt bzw. an der Wirklichkeit. Ohne Naivität und ohne das Wissen um diese Naivität, die dennoch das kommunikative Wagnis der wechselseitigen Täuschungen auf sich nimmt – also: ohne Liebe –, ist jede Kommunikation schon im Ansatz verloren.

Es klingt deshalb etwas hilflos, wenn B./B.-G. auf der Suche nach metasprachlichen Normen auf den „Katalog der Menschenrechte“ verweisen, „die zum elementaren Selbstverständnis der Moderne gehören.“ (B./B.-G., S.248) – In dieser ‚Welt‘, in der wir ‚leben‘, in der Shopping- und Internet-Welt hört sich ‚Katalog‘ doch allzusehr nach einer wiederum verhandelbaren Liste an, aus der sich die Paare ihre individuellen Wertekanons zusammenstellen können. Es sind aber letztlich nicht die Menschenrechte, die Paarbeziehungen gelingen lassen, sondern eben der persönliche Sinn, die ‚Lebenswelt‘, zu dem bzw. zu der die Paare finden.

Dabei wird deutlich, daß Sinn nicht etwas ist, das einem qua Geburt zusteht, sondern das einem ungeachtet der eigenen Herkunft ‚zufällt‘ (im Sinne des Meyer-Draweschen Vollzugs) und den wir in diesem ‚Zufall‘ ergreifen und verwirklichen, – oder auch nicht. Dazu bedarf es allererst Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. So viel zur Frage nach dem „unverzichtbaren Kern der Humanität“ im Menschenrechtskatalog (vgl. B./B.-G., S.248).

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