„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 15. März 2012

Lockes Gentlemanerziehung

(Manfred Geier, Aufklärung. Das europäische Projekt, Reinbek bei Hamburg 2012 (1693) / John Locke, Gedanken über Erziehung, Stuttgart 1980 / Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1963 (1762))
  1. „Wer nicht daran gewöhnt wird, seinen Willen der Vernunft anderer zu unterwerfen ...“ 
  2. Lockes schwarze Pädagogik
  3. Über den Sinn von Strafen
In seinem Buch zur „Aufklärung“ thematisiert Manfred Geier die nach wie vor bestehende Aktualität eines europäischen Projekts, das sich „gegen Aberglaube und Schwärmerei, Vorurteile und Fanatismus, Borniertheit und Phantasterei“ richtet. (Vgl. Geier 2012, S.9) Damit widmet sich Geier gedanklich einem Anliegen, um das es auch in diesem Blog zur Erkenntnisethik geht, nämlich den „selbständigen Verstandesgebrauch“ (Geier 2012, S.9) des Menschen zu fördern. Zu diesem Zweck schreibt Geier sieben Essays zu herausragenden Persönlichkeiten der Aufklärung, da es „schon immer Einzelne“ waren, „die sich in konkreten geschichtlichen Problemsituationen auf unterschiedliche Art und Weise als Aufklärer zu Wort meldeten.“ (Vgl Geier 2012, S.13)

Zu diesen historischen Persönlichkeiten gehören u.a. John Locke, der Earl von Shaftesbury, Voltaire, Diderot, Rousseau, Mendelssohn, Kant, Olympe de Gouges und Wilhelm von Humboldt. Insbesondere daß Geiger auch auf Humboldt eingeht, rechne ich ihm hoch an, denn über kaum jemand anderen werden – was die verschiedenen, ihm gewidmeten Bildungsreformen bis in die Gegenwart hinein betrifft – mehr Mythen verbreitet als über diese fast schon bemitleidenswerte Gestalt.

Aber nicht nur über Humboldt wurden und werden irreführende Mythen verbreitet: auch über John Locke; und leider beteiligt sich Geiger mit seinem Buch an dieser Mythenbildung. John Lock wird immer wieder als eine Lichtgestalt der Aufklärung dargestellt, die den menschlichen Verstand und seine Unabhängigkeit ins Zentrum ihres Denkens gestellt hat, und das ist auch nicht falsch. John Locke kann in gewisser Weise sogar als Stichwortgeber für Kants Antwort auf die Frage, was Aufklärung ist, verstanden werden: Habe den Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen! Die Mythenbildung beginnt aber dort, wo John Locke dieses philosophische und politische Programm in die Pädagogik umzusetzen versucht, also mit seinem zwischen 1684 und 1693 geschriebenen und veröffentlichten Buch „Gedanken über die Erziehung“. Denn was für die Erwachsenenwelt gelten soll, die Unabhängigkeit des Verstandesgebrauchs, gilt Locke zufolge ganz und gar nicht für die Kindererziehung.

Dennoch wird immer wieder die Legende verbreitet – und Geier beteiligt sich daran –, daß John Locke seine Philosophie konsequent in ein Erziehungsprogramm umgesetzt habe: „John Locke vertraute darauf, dass jeder Mensch selbst denken kann. Wer es noch nicht vermag, kann dazu angeleitet werden. Das war das Angebot des englischen Aufklärers, der auf den eigenständigen Verstandesgebrauch den größten Wert legte. Seine Gedanken über Erziehung entwickelten ein pädagogisches Programm, wie der junge Mensch so geleitet werden kann, dass er schließlich, seiner eigenen Führung anvertraut, als mündiger Bürger seine geistige und politische Freiheit sinnvoll zu gebrauchen weiß. Er kann ja nicht immer unter Obhut der Vormundschaft bleiben.“ (Geier 2012, S.61)

An diesem Zitat ist praktisch alles im höchsten Maße irreführend und doppelbödig, – ja sogar zynisch, wenn man bedenkt, wie groß der Widerspruch ist zwischen „Gedanken über Erziehung“ und Lockes bekanntestem Werk, seinem „Versuch über den menschlichen Verstand“ (1690). Man nehme nur zwei Zitate aus den beiden Büchern und halte sie nebeneinander. So heißt es in Lockes „Versuch über den menschlichen Verstand“: „Kaum jemand hat einen so unsteten und oberflächlichen Verstand, daß er nicht einige hochgeschätzte Sätze hätte, die für ihn Prinzipien sind, auf die er seine Überlegungen gründet, und wonach er über Wahrheit und Irrtum, über Recht und Unrecht urteilt; da es aber den einen an Fähigkeit und Muße, anderen an Lust fehlt, wieder anderen gelehrt wurde, daß sie nicht prüfen dürfen, so findet man nur wenige, die nicht aus Unwissenheit oder Trägheit oder infolge ihrer Erziehung oder Übereilung in der Gefahr sind, solche Sätze auf Treu und Glauben hinzunehmen.“ (Hamburg 4/1981, Bd.I, S.77)

In diesem Zitat wird u.a. der Erziehung die Schuld dafür gegeben, daß die Menschen sich daran gewöhnen, sich von anderen vorsagen zu lassen, was sie denken sollen, anstatt selber zu denken. Man sollte also annehmen, daß Locke nun ein Erziehungsprogramm konzipiert, das die Menschen stattdessen daran gewöhnt, selber zu denken, statt das Denken anderen zu überlassen. Da heißt es nun aber ganz im Gegenteil: „Wer nicht daran gewöhnt wird, seinen Willen der Vernunft anderer zu unterwerfen, solange er jung ist, wird sich kaum dazu verstehen, sich seiner eigenen Vernunft zu unterwerfen, wenn er in dem Alter ist, daß er sich ihrer bedienen kann.“ (Locke 1980, § 36 (Ich nehme die Paragrapheneinteilung zum Zitieren, weil diese unabhängig von der Ausgabe des Buches ist.))

Weit davon entfernt also, den jungen Menschen, wie es im „Versuch über den menschlichen Verstand“ nahegelegt wird, vor einer Erziehung zu bewahren, die ihn am Denken hindert und ihn so daran gewöhnt, nicht selber zu denken, soll dieser junge Mensch stattdessen in „Gedanken über Erziehung“ daran gewöhnt werden, sich dem Verstand anderer zu unterwerfen. Die Begründung, daß es sich dabei vor allem um die Anbahnung einer späteren Selbstdisziplin handele, die es einem ermögliche, sich später einmal dem eigenen Verstand zu unterwerfen, leuchtet nur auf den ersten Blick ein. Denn wenn man weiterliest, merkt man bald, daß es in erster Linie darum geht, den Willen des Kindes zu brechen: „Halsstarrigkeit jedoch und eigensinniger Umgang müssen mit Gewalt und mit Schlägen gebrochen werden; dagegen gibt es kein anderes Mittel. Was man im einzelnen auch zu tun oder zu lassen befiehlt, man muß sicher sein, daß man Gehorsam findet; hier gibt es kein Pardon, keinen Widerstand; denn wenn es einmal hart auf hart geht und zu einem Kampf zwischen euch kommt, wer der Herr ist, wie  es geschieht, wenn Du befiehlst und er sich weigert, so mußt du unter allen Umständen den Sieg davon tragen, koste es auch noch so viele Schläge, da ein Wink oder Worte nichts vermögen; es sei denn, du willst für den Rest deines Lebens deinem Sohn gehorchen.“ (Locke 1980, § 78) – Erst also, wenn der junge Mensch lange genug vom selber denken abgehalten worden ist, bis er gar nicht mehr anders kann, als so zu denken, wie es der „gute Ruf“, der „common sense“ bzw. der Mehrheitsverstand der Anderen (insbesondere der gehobenen Gesellschaftsschicht (vgl. u.a. Locke 1980, § 61)) von ihm verlangt, wenn der junge Mensch also gar nicht mehr anders kann, als so zu denken wie die anderen, darf er selber denken.

Die schönen Worte, mit denen Geiger davon spricht, daß jemand, der noch nicht selber zu denken vermag, dazu angeleitet werden soll, ‚selber‘ zu denken, und denen zufolge dieser junge Mensch später, nach dieser ‚Anleitung‘, „seiner eigenen Führung anvertraut“ werden soll, um „als mündiger Bürger seine geistige und politische Freiheit sinnvoll zu gebrauchen“, – diese schönen Worte eröffnen das Tor zu einer schwarzen Pädagogik, in der John Locke kein Mittel zu drastisch ist, um widerspenstige Kinder, die sich einfach nicht ‚anleiten‘ lassen wollen, zu bändigen. Auf diese schwarze Pädagogik möchte ich in den nächsten zwei Posts zu sprechen kommen.

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