„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 16. März 2012

Lockes Gentlemanerziehung

(Manfred Geier, Aufklärung. Das europäische Projekt, Reinbek bei Hamburg 2012 (1693) / John Locke, Gedanken über Erziehung, Stuttgart 1980 / Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1963 (1762))
  1. „Wer nicht daran gewöhnt wird, seinen Willen der Vernunft anderer zu unterwerfen...“
  2. Lockes schwarze Pädagogik
  3. Über den Sinn von Strafen
Nicht nur mit Mythen über John Locke muß ich mich an dieser Stelle befassen, sondern auch mit Mythen, die John Locke selbst in die Welt gesetzt hat. Die ganze Widersprüchlichkeit zwischen seinem „Versuch über den menschlichen Verstand“ und seinen „Gedanken über Erziehung“ hängt eng mit seiner Behauptung zusammen, daß alles, was er über die Erziehung geschrieben habe, darauf beruhe, daß wir es beim Kind mit einem „weiße(n) Papier oder Wachs“ zu tun hätten, „das man bilden und formen kann, wie man will“. (Vgl. Locke 1980, § 217) Dieser Aussage entspricht auch die Vorstellung vom menschlichen Geist als einer „tabula rasa“, wie er sie in seinem „Versuch über den menschlichen Verstand“ entwickelt. (Vgl. Geier 2012, S.24)



Aber schon gleich im ersten Absatz seiner „Gedanken über Erziehung“ widerspricht Locke der tabula-rasa-These, ohne diesen Widerspruch zu bemerken, geschweige denn ihn zu reflektieren. So heißt es dort: „Zugegeben, es gibt Menschen mit von Natur aus wohlausgestatteter kräftiger Körper- und Geistesverfassung, die keiner großen Hilfe durch andere Menschen bedürfen; die Stärke ihrer natürlichen Anlagen führt sie von der Wiege an zur Vollkommenheit, und der Vorzug ihrer glücklichen Körperbeschaffenheit läßt sie Wunder vollbringen. Beispiele dieser Art sind jedoch selten; und ich darf wohl sagen, daß von zehn Menschen, denen wir begegnen, neun das, was sie sind, gut oder böse, nützlich oder unnütz, durch ihre Erziehung sind.“ (Locke 1980, § 1)

Zunächst mal muß man also anscheinend festhalten, daß es einen recht glücklichen Prozentsatz von Menschen gibt, die schon ‚von Natur aus‘ – Locke spricht von „Anlagen“ – ihrer künftigen gesellschaftlichen Bestimmung entsprechen. Die brauchen nicht mehr erzogen zu werden. Dann gibt es aber noch die anderen 9/10, die erzogen werden müssen. Also auf die 1/10 mit ihrer gutartigen ‚Natur‘ trifft schon mal nicht zu, daß sie eine tabula rasa darstellen! Sie sind vielmehr schon so perfekt beschriftet, daß der Erzieher ihrer ‚Tafel‘ nichts mehr hinzuzufügen hat. Aber die anderen, die, die noch erzogen werden müssen: deren erbliche Ausstattung bildet wohl eine tabula rasa, da sie das, was sie sind, „gut oder böse, nützlich oder unnütz“, nur „durch ihre Erziehung sind“? – Auch hier haben wir den Widerspruch, daß sie offensichtlich irgendwie eben nicht erblich so ‚ausgestattet‘ sind, daß sie ohne weiteres in die Gesellschaft hineinpassen, in die sie hinein geboren wurden. Ihre ‚Anlagen‘ sind nur mehr oder weniger ‚glücklich‘, so daß die einen mehr, die anderen weniger erzogen werden müssen, bis sie am Ende das Erziehungsziel erreicht haben: „natürliche Gentlemen“ zu sein. (Vgl. Locke 1980, § 66)

Die Zöglinge, an die John Locke denkt, sind also zu 9/10 mehr oder weniger weit von diesem Erziehungsziel entfernt, und zwar aufgrund ihrer Anlagen bzw. ihrer Natur, was seiner tabula-rasa-These also widerspricht und diese zu einem Mythos macht, auf den er selbst als erster hereingefallen ist. Warum dieser ihn selbst täuschende Mythos? Eine mögliche Antwort finde ich bei Katharina Rutschky, in ihrer Einleitung zu „Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung“ (1977/1988). Dort spricht sie von einem der Pädagogik inhärenten „Zwang zur Vernunft“ (Rutschky 1977/1988, S.XXVI u.ö.), der verhindert, daß die Pädagogen die Individualität ihrer Zöglinge, also ihre individuelle ‚Natur‘, wirklich ernst nehmen. Wo diese individuelle Natur nicht ‚paßt‘, muß sie passend gemacht werden, und dieses Passend-Machen äußert sich wiederum im „Erziehungszwang“. (Vgl. Rutschky 1977/1988, S.XLVII) Lockes These von der „tabula rasa“ beinhaltet also nichts anderes als eine konsequente Leugnung der individuellen Natur der Zöglinge, auf die man als Erzieher dann aber doch mit verschiedenen Erziehungsmaßnahmen reagieren muß.

Erziehungsziel ist bei John Locke, wie gesagt, der natürliche Gentleman, der sich gegenüber dem affektierten Gentleman dadurch auszeichnet, daß bei ihm die gesellschaftliche Vernunft (Sitte) zur zweiten Natur geworden ist, – bei dem also individuelle Natur und gesellschaftliche Sitte zur völligen Deckung kommen, so daß zwischen beidem nicht mehr unterschieden werden kann. Wirklich gelingen kann das letztlich aber nur bei jenem 1/10, der schon die entsprechenden ‚glücklichen‘ Anlagen mit sich bringt. Die anderen 9/10 erreichen nur eine mehr oder weniger vollständige Deckung ihrer individuellen Natur mit der gesellschaftlichen Vernunft. Bei den affektierten Gentlemen aber, bei denen sich nur Bruchteile der eigenen Natur mit der gesellschaftlichen Vernunft decken, ist die Erziehung gescheitert.



Das wichtigste Erziehungsmittel sind Locke zufolge Übung und/oder Spiel. Dabei hat das Spiel gleich eine dreifache Funktion: es dient als Beobachtungsmethode, da das spielende Kind, ohne es zu merken, seine charakterlichen Eigenarten (also wieder: seine individuelle ‚Natur‘) an den Tag legt, denen der Erzieher dann seine Erziehungsmethoden anpassen kann. Zugleich ist das Spiel eine Lehr- und Erziehungsmethode, weil wir nirgendwo schneller und gründlicher lernen als im Spiel, – auch hier wieder: ohne es zu merken! Dieses nicht-merken-Dürfen ist sehr wichtig. Nur wer nicht merkt, was mit ihm geschieht, ist manipulierbar und kommt so auch gar nicht erst auf die Idee, den eigenen Verstand zu gebrauchen.

Locke schlägt deshalb auch vor, alles, was das Kind lernen soll, es spielerisch lernen zu lassen. Denn so lernt es gerne. Aber alles, was es nicht lernen soll, soll in ihm unangenehme Gefühle wecken, so daß es das schon von sich aus nicht lernen will. Trickreiche Erzieher – so Locke – bräuchten dem Kind seine Ungehörigkeiten, die es nicht lernen soll, nur zur Pflicht machen, und schon würde das Kind alles ablehnen, was mit diesen Pflichten verbunden ist. Locke hat hier schon sehr gut verstanden, was die Psychologen heute eine „paradoxe Intervention“ nennen.

Deshalb ist das Spiel auch eine wichtige Lern- und Unterrichtsmethode. Der Unterricht soll nie unter Zwang erfolgen, sondern immer nur als Spiel erscheinen. Weiter gedacht läuft das darauf hinaus, daß alles Unterricht ist, weil ja möglichst alles Spiel sein soll.

Ist das Kind aber von so unglücklicher ‚Natur‘, daß es sich den subtilen Manipulationen des Erziehers entzieht, muß als nächstes Erziehungsmittel das Gespräch heran. Hier behauptet Locke wieder etwas Seltsames: Angeblich kann man mit Kindern in jedem Lebensalter, sobald sie nur die Sprache verstehen, vernünftige Gespräche führen, so z.B. schon mit dreijährigen Kindern. (Vgl. Locke 1980, § 81) Wenn Kinder also nicht mit spielerischen Mitteln in die richtige Richtung manipuliert werden können, so muß man sie in einem vernünftigen Gespräch hinführen. Wie kommt John Locke darauf, daß man das schon mit Dreijährigen kann?

Was John Locke hier unter Vernunft versteht, hat nichts mit sachlichem Argumentieren zu tun, also mit rationalen Vernunftsgründen, sondern nur mit der Fähigkeit des Kindes, Stolz zu empfinden und sich zu schämen. Stolz und Scham sind die Mittel, mit denen der Erzieher sein Gespräch führt. Man muß dem Kind im Gespräch lediglich signalisieren, daß man mit ihm unzufrieden ist, so daß es sich schämt, um es dazu zu bringen, sich richtig zu verhalten. Wenn wir an den Dreijährigen denken, läuft das also auf Liebesentzug hinaus: wenn Du nicht tust, was ich Dir sage, hat Mami Dich nicht mehr lieb!

Solcher Tadel wirkt am besten, wenn er in aller Öffentlichkeit erfolgt. Öffentliche Demütigung ist deshalb die nächste Stufe des tadelnden Gesprächs. Schafft man es nicht, daß sich das Kind vor dem Erzieher schämt, so muß man es eben in der Gesellschaft mit anderen bloßstellen, – da schämt es sich dann bestimmt. Diese Erniedrigung des Kindes durch ‚vernünftige‘ Gespräche, wie es John Locke allen Ernstes vorschlägt, ist dann natürlich auch steigerbar, wie er am Beispiel einer Lady zeigt, die ihre kleine Tochter in der Öffentlichkeit ihres Salons schlägt: „Eine kluge und gütige Mutter aus meiner Bekanntschaft sah sich ... genötigt, ihre kleine Tochter, die gerade von der Amme nach Hause zurückgekehrt war,() am gleichen Morgen achtmal nacheinander zu schlagen, bevor sie ihre Halsstarrigkeit brechen und erreichen konnte, daß sie sich in einer an sich unbedeutenden und gleichgültigen Angelegenheit fügte. Hätte sie früher nachgelassen und beim siebten Male mit dem Schlagen aufgehört, hätte sie das Kind für immer verdorben und es durch ihre wirkungslosen Schläge in seiner Widerspenstigkeit, die später nur sehr schwer abzustellen gewesen wäre, noch bestärkt; indem sie jedoch weise ausharrte, bis sie seinen Sinn gebeugt und seinen Willen gefügig gemacht hatte, was das einzige Ziel der Zurechtweisung und Züchtigung ist, begründete sie bei der allerersten Gelegenheit ihre unantastbare Autorität und hatte in dem Kind von da an eine in allen Dingen immer bereitwillige, fügsame und gehorsame Tochter; denn wie dies das erste Mal, so war es, glaube ich, auch das letzte Mal, daß sie sie je schlug.“ (Locke 1980, § 78)

Die dritte Stufe der Erziehungsmaßnahmen, nachdem Spiel und Gespräch versagt haben, bilden also die Strafen, und wenn die versagen, bleibt nur noch das Beten (vgl. Locke 1980, § 87). Wie John Locke angesichts dieser drastischen ‚Notwendigkeiten‘ dennoch davon reden kann, daß der menschliche Geist eine tabula rasa sei, ein weißes Blatt Papier, das der Erzieher nur zu beschriften braucht, ist mir ein Rätsel. So einem weißen Blatt geht in 9/10 aller Fälle fleißiges Ausradieren voraus. Was im übrigen auch der wörtlichen Bedeutung von „tabula rasa“ entspricht: abgeschabte (leere) Tafel!

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