„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 12. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Zwar spielen „Leichen“ und „Kadaver“ bei Kittler eine große Rolle, vor allem aber, um die Nähe der Medientechnologien zu den Kriegstechnologien des 19. und 20. Jhdts. aufzuzeigen, also zum amerikanischen Bürgerkrieg und zum Ersten und Zweiten Weltkrieg: „Speichertechnik, 1914 bis 1918, hieß festgefahrener Stellungskrieg in den Schützengräben von Flandern bis Gallipoli. Übertragungstechnik mit UKW-Panzerfunkt und Radarbildern, dieser militärischen Parallelentwicklung zum Fersehen,() hieß Totalmobilmachung, Motorisierung und Blitzkrieg vom Weichselbogen 1939 bis Corregidor 1945. Das größte Computerprogramm aller Zeiten schließlich, dieser Zusammenfall von Testlauf und Ernstfall, heißt bekanntlich Strategic Defense Iniitiative. Speichern/Übertragen/Berechnen oder Graben/Blitz/Sterne. Weltkriege von 1 bis n.“ (1986, S.352)

Der Beitrag des amerikanischen Bürgerkriegs ist der Trommelrevolver, der in ‚diskreten‘ Schritten Kugeln abzufeuern vermag wie eine Kamera (vgl. 1986, S.190) Einzelbilder in Serie oder eine Schreibmaschine Blockbuchstaben, die dann sinnigerweise auch von Waffenfabriken produziert wurde (vgl. 1986, S.282): „Die Schreibmaschine wurde zum Diskursmaschinengewehr. Was nicht umsonst Anschlag heißt, läuft in automatisierten und diskreten Schritten wie die Munitionszufuhr beim Revolver und MG oder der Zelluloidtransport beim Film.“ (1986, S.283)

So sehr also Leichenberge den Weg der Kriegs- und Mediengeschichte säumen, ist es doch nicht das nekrophile Interesse an diesen selbst, das Kittlers Medienanalysen trägt. Vielmehr berührt sich seine Faszination mit dem Ekel und der Scham eines Günther Anders, wenn er sich vor allem den Phänomenen der Serie (vgl. S.259f.), insbesondere den „seriellen Unmenschen“ (1986, S.190) zuwendet. Anders beschreibt sie als Phantome (vgl. meinen Post vom 23.01.2011), Kittler spricht von „Doppelgängerphantomen“ (1986, S.87), von „Gespenstern“ (1986, S.20f., 198) oder auch von „Golems“ (S.246f., 251, 354). Beiden, Kittler wie Anders, geht es darum, daß die Medien die ‚Körper‘ der Menschen verwandeln. (Vgl. insbesondere Kittler: 1986, S.195, 201, 206, 209-212, 225f., 238, 273ff., 277, 314) Anders beschreibt ein angehendes Photomodell, das ihrem Körper mit allen ihr zur Verfügung stehenden „Selbstverwandlungstechniken“ ein film- und fernsehgerechtes Erscheinungsbild gibt. (Vgl. Anders: 1956, S.275; vgl. hierzu auch meinen Post zu Sloterdijk vom 30.09.2011, an den Andersens Rede von den Selbstverwandlungstechniken erinnert.)

Bei den „neuen Körpern“ handelt es sich also um Cyborgs, obwohl der organische Bestandteil in diesen Hybridbildungen als verzichtbar erscheint: „Wenn noch die Stochastik des Realen Verzifferungen und d.h. Algorithmisierungen erlaubt, gilt Turings lapidare Feststellung, ‚daß es wenig sinnvoll wäre, eine ‚denkende Maschine‘ dadurch menschlicher gestalten zu wollen, daß man sie mit künstlichem Fleisch umgibt.‘() In medientechnischen Gründertagen dagegen lief alles auf Kopplungen zwischen Fleisch und Maschine hinaus.“ (1986, S.115) – Bei den ‚Leichenbergen‘ der Kriegs- und Filmindustrie handelt es sich also im mehrfachen Sinne um Metaphern. Nicht nur daß Film und Rundfunk die Menschen in serielle Untote, in Phantome verwandeln, – im Zuge der damit einhergehenden Mechanisierung der Körper werden diese selbst in dem Moment überflüssig, wo digitale Medien in der Lage sind, direkt auf das Reale in Form des Rauschens – ohne Umweg über den Körper – zuzugreifen.

Die neuen Körper sind also durchweg Gespenstererscheinungen. Als solche treten sie an die Stelle der traditionellen Seele. Schon die Psychoanalyse verwandelte die Seele in einen psychischen ‚Apparat‘. (1986, S.138, 198, 225, 238) Kittler hält von ihren Funktionen nur noch den Spiegelungsmechanismus fest, weil er in diesem das eigentliche Funktionsprinzip der von den Medien geformten neuen Körper sieht. Dieser Spiegelungsmechanismus beginnt als psychischer Apparat mit dem Spiegelstadium (vgl. 1986, S.226, 256, 267), an dem Psychologen wie am Interspeciesvergleich interessierte Verhaltensforscher den Beginn der menschlichen Bewußtseinsentwicklung festmachen. Kittler ist allerdings weniger an dieser Bewußtseinsentwicklung interessiert, als vielmehr an dem Imaginären, also an den in seinem Sinne unterbewußten Identifikationsmechanismen, die die in den Filmen agierenden Doppelgängerphantome – Computerspieler würden von Avataren sprechen – bei Zuschauern (Kino, Fernsehen) und Spielern (Computer) auslösen.

Entsprechende Reaktionen, wenn man erstmals seine Stimme vom Band hört oder sich selbst erstmals in einem Video sieht, kennen wir alle von uns selbst, und Kittler beschreibt sie beispielhaft an Rilke, der im 19. Jhdt. erstmals seine Stimme aus einem Phonographen, in den er hineingesprochen hatte, antworten hörte: „‚Sprach oder sang jemand in den Schalltrichter hinein, so betrug der in dem Pergamente steckende Stift die Tonwellen auf die empfängliche Oberfläche der langsam an ihm vorbei gedrehten Rolle, und ließ man gleich darauf den eifrigen Zeiger seinen eigenen (inzwischen durch einen Firnis bedeckten) Weg wieder verfolgen, so zitterte, schwankte aus der papierenen Tüte der eben noch unsrige Klang, unsicher zwar, unbeschreiblich leise und zaghaft und stellenweise versagend, auf uns zurück. Die Wirkung war jedesmal die vollkommenste. Unsere Klasse gehörte nicht eben zu den ruhigsten, und es möchten nicht viele Augenblicke gewesen sein, da sie, gemeinsam, einen ähnlichen Grad von Stille zu erreichen fähig war.‘“ (1986, S.63f.)

Im Alter zwischen einem halben und anderthalb Jahren mag es einem Kleinkind, das sich erstmals in einem Spiegel wiedererkennt, ähnlich ergehen wie Rilke mit dem Phonographen. Interessanterweise ist das eine durchaus ambivalente Situation. Ich selbst höre meine eigene Stimme überhaupt nicht gerne, und Videoaufzeichnungen von meiner Person sehe ich mir gar nicht gerne an: ich mag meinen Doppelgänger nicht hören und nicht sehen. Von vielen Schauspielern weiß man, daß es ihnen ähnlich ergeht. Andererseits gibt es aber viele Schauspieler und ‚Personen des öffentlichen Interesses‘, die gar nicht genug davon bekommen können. Man denke auch an das verbreitete Interesse an Reality-Shows und Superstarformaten für jedermann, insbesondere für Teenies. Dieses gleichzeitig Anziehende und Abschreckende der Doppelgängerphantome sagt viel über den Zustand unserer Seele aus, der eben nicht einfach nur ein psychotechnischer Apparat ist. Aber dazu mehr im nächsten Post.

Kittler ist sehr an diesem Spiegelstadium interessiert, nicht etwa – wie schon erwähnt – weil er an der menschlichen Bewußtseinsentwicklung interessiert ist, sondern weil er im Spiegelstadium den Bewußtseinszustand erkennt, auf dem sich der serielle Unmensch häuslich eingerichtet hat und über den er sich nicht mehr rekursiv erheben will. Psychologisch gesehen verharrt der medienförmige ‚Mensch‘ also auf der Entwicklungsstufe eines anderthalbjährigen Kleinkindes. Kittler vergleicht ihn auch gerne mit einem Golem: „Alle historischen Attribute eines Subjekts, das um 1800 seine Unhintergehbarkeit unterm Titel Dichtung feierte, werden seit 1900 ersetzbar oder hintergehbar durch Golems, diese geschalteten Subjekte.“ (1986, S.246f.)

Der „Golem“ wird für Kittler zur Metapher für eine Maschine, in der das „physiologisch zerlegte“ „Zentralnervensystem“ „physikalisch“ nachgebaut wurde. (Vgl. 1986, S.251) Die Brauchbarkeit dieser Metapher leuchtet einerseits ein, hat aber andererseits ihre von Kittler unbemerkt bleibenden Tücken. Auch die Golems aus der Literatur sind zwar maschinenähnliche Konstruktionen, die in ihrer äußerlichen Form den Menschen widerspiegeln und die wie unsere Computer programmiert werden können. Ähnlich wie man in den vierziger und fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts Computer mit Lochstreifen ‚gefüttert‘ hatte, werden in die Köpfe der Tongestalten beschriebene Papierfetzen gelegt, die sie steuern. Diese Papierfetzen bilden also eine Art digitales Programm.

Nur daß es sich aber eben nicht um digitale Programme handelt, sondern um geschriebene Worte, also um Satzstrukturen, die, wie Anders festhält, aus ‚S‘ und ‚p‘ bestehen, aus Subjekt und Prädikat. In „Hohle Köpfe“ von Terry Pratchett können solche Sätze aus allen möglichen Zusammenhängen ‚geklaut‘ werden, z.B. aus heiligen Schriften; oder sie können einfach nur aus Quittungen bestehen, in denen nach einem Kauf der Eigentümer eines Golems wechselt. Diese altmodischen, ‚analogen‘ Sätze hauchen den Golems ‚Sinn‘ ein. Sie beginnen, die Aufträge, die ihnen die Papierfetzen in ihren Köpfen geben, auszuführen. Und ein Golem, der mit der Quittung, beginnt zu denken. Denn die Quittung, die in seinem Kopf liegt, macht ihn zum Eigentümer seiner selbst.

Kittler übersieht bei seinen Golemvergleichen nämlich, daß es sich bei diesen Sätzen nicht um die rekursiven Funktionen digitaler Algorithmen handelt, sondern eben um ‚S‘/‚p‘-Strukturen. Damit sind die Golems eben keine Spiegelphantome mehr, sondern sie haben Perspektive. Aus einer körperlosen, zweidimensionalen Welt treten sie ein in eine Welt, die exzentrische Positionalität ermöglicht.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen