„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 13. April 2012

Friedrich Kittler, Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986

1. Günther Anders und Friedrich Kittler
2. Zur Differenz von Rauschen und Resonanz
3. Digitalisierung und Negativität
4. Rückkopplung, Reflexbogen und Rekursivität
5. Spurensicherung im Realen
6. Spiegel, Phantome und Leichen
7. ‚Diskretion‘ und Seele
8. Das Unbewußte

Kittler reduziert das Imaginäre auf das Spiegelstadium und koppelt es so vom Bewußtsein ab. Zugleich setzt er die mit dem Spiegelstadium einhergehenden Selbsttäuschungen mit der Seele als „psychischem Apparat“ gleich: „Aber Medien sind gnadenlos, wo Kunst beschönigte. ... Verfilmungen zerstückeln das imaginäre Körperbild, das Menschen (im Unterschied zu Tieren) mit einem geborgten Ich ausstaffiert hat und deshalb ihre große Liebe bleibt. Gerade weil die Kamera als perfekter Spiegel arbeitet, liquidiert sie, was im psychischen Apparat einer La Marr an Selbstbildnissen gespeichert war.“ (1986, S.225)

Alles, was Damasio zufolge als „erweitertes Bewußtsein“ über diese imaginären Mechanismen hinausreicht (Damasio: 8/2009 (1999), S.267f., 278), bildet nur Projektionen dieser Mechanismen: „Traumgesichte vom Menschen, ob sie nun durch meteorologischen Schnee oder das gleichnamige Pulver entstehen, sind Inszenierungen des Spiegelstadiums und damit von vornherein Kino.()“ (1986, S.256) – Subjektivität und „Autorschaft“ sind nur lyrische Emanationen eines „altmodische(n) Spiegelstadium(s)“: „Man ‚stellt sich vor den Spiegel und deklamiert den Vers und bewundert sich‘.“ (1986, S.267)

An die Stelle von Romanen und Gedichten tritt die „Psychotechnik“ als „Versuchsanordnung“ (vgl. 1986, S.238). ‚Diskretion‘ wird durch ‚diskrete‘ Maschinen ersetzt, die die Liebe, über die die Texte vorgeblich noch handeln, „zerhacken“ und aus ihnen „herausfiltern“ (vgl. 1986, S.268): „Der kontinuierlich-kohärente Tintenfluß, dieses materielle Substrat aller bürgerlichen In-dividuen oder Unteilbarkeiten, machte sie (Kontoristen, Bürodiener, Dichtergehilfen des 19.Jhdts. – DZ) blind vor einer historischen Chance. Schrift als Anschlag, Rückung, Automatik diskreter Blockbuchstaben setzte ein ganzes Schulsystem außer Kraft.“ (1986, S.287)

Schreiben ist nicht länger expressiv. ‚Diskretieren‘ bedeutet nicht ‚artikulieren‘. Die Seele wird zum bloßen Oberflächenphänomen, das von Leinwänden und Monitoren flimmert, aber kein Inneres mehr zum Ausdruck bringt: „Schreiben“, wie Kittler mit Bezug auf Nietzsches Schreibmaschine, Modell „Malling Hansen“, konstatiert, „ist also keine natürliche Ausweitung des Menschen mehr, der durch Handschrift seine Stimme, Seele, Individualität zur Welt bringen würde.“ (1986, S.305)

An dieser Bedeutungsambivalenz des ‚Diskreten‘ wird erschreckend deutlich, wie sehr Kittler das Seelische verstümmelt und der Folterung der Blicke preisgibt. ‚Diskret‘ sind bei Kittler Körper zerstückelnde Folterinstrumente (vgl. 1986, S.28) und Kugeln abfeuernde Schußwaffen (vgl. 1986, S.283), weil sie entweder kontinuierliche Erlebnisabläufe in unterbrochene Phasen ‚zergliedern‘ oder selbst ‚gegliederte‘, ‚unterbrochene‘ Zeitverläufe darstellen. Die noch verbliebene seelische Funktion des psychischen Apparates besteht dann lediglich darin, im Imaginären die zerhackten Stücke als „Phantasmen“ (1986, S.182f., 328 u.ö.) wieder zusammen zu „halluzinieren“ (vgl. S.20f., 27, 60f., 108f., 245 u.ö.).

In dieser Bedeutungsdimension des ‚Diskreten‘ ist kein Platz mehr für ‚Diskretion‘, als einem Bedürfnis der Seele, deren Ambivalenz im Zurückschrecken vor der Entblößung besteht, nach der sie insgeheim doch verlangt. Sich zugleich zeigen zu wollen und doch vor dem sich Zeigen zurückzuschrecken ist das Wesen ihrer Expressivität. Vollständige Sichtbarkeit wäre ihr augenblicklicher Tod. Plessner bezeichnet die Seele in „Die Grenzen der Gemeinschaft“ als „Weisheit des Verborgenen“ (vgl. Grenzen, S.16) und als „Schlaf der Welt“ (vgl. Grenzen, S.31). (Vgl. auch meinen Post vom 14.11.2010) Deshalb ist die Seele Plessner zufolge ein „Noli me tangere“ (Grenzen, S.65).

Günther Anders spricht von der „Scham“, die wir vor den Blicken der Anderen empfinden. Diese Scham kann so empfindlich sein, daß wir uns sogar vor toten Gegenständen schämen, z.B. vor technischen Apparaten, an deren Perfektion wir mit unseren unvollkommenen biologischen Körpern nicht heranreichen. (Vgl. Anders: 1956, S.21-95 (vgl. auch meinen Post vom 23.01.2011))

‚Scham‘ aber ist kein Wort mehr, das bei Kittler noch vorkommt, der sich dem „Versuch“, die „Seele oder den Menschen“ auch nur per definitionem zu berücksichtigen, „systematisch verweigert“. (Vgl. 1999/2011, S.34) Er spricht eben lieber von „psychischen Apparaten“ und verzichtet damit – wie Plessner in einem anderen Zusammenhang anmerkt – leichtfertig auf den Sinngehalt von Begriffen wie ‚Seele‘ und ‚Geist‘, an deren Bedeutungsreichtum zweieinhalb Jahrtausende der Antike und des Christentums mitgearbeitet haben. (Vgl. Lachen/Weinen, S.24 und meinen Post vom 31.12.2010) Angesichts des Computers als „universaler diskreter Maschine“ (S.356f., 362 u.ö.) gerät schließlich vollends in Vergessenheit, was mit ‚Diskretion‘ einmal gemeint gewesen war. Dem „neurologischen Datenfluß“ (1986, S.240) stehen keine seelischen Hindernisse mehr im Wege.

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