„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 30. April 2012

Friedrich Kittler, Optische Medien, Berliner Vorlesungen 1999, Berlin 2011

1. Kittlers Antihumanismus
2. Das Reelle und das Berechenbare
3. Medienverbundsysteme und die Einheit der Sinne (Plessner)
4. Standards und Stile
5. Das Subjekt als unendlicher Fluchtpunkt (Rekursivität)
6. Rekursivität und Resonanz
7. Leichen, Heilige und Löcher

Die Differenz zwischen Standards und Stilen ist gleich der Differenz zwischen Medien und Menschen. Bei den Medien, von denen bei Kittler die Rede ist, handelt es sich dabei um informationsverarbeitende Maschinen bzw. Rechner. Deren Funktionsprinzip, Phänomene auf binäre Zahlenreihen zurückzuführen, die wiederum darauf beruhen, Kontinua in diskontinuierliche, ‚diskrete‘ Momente unterhalb der Wahrnehmungsschwelle zu zerlegen – Pixel bei Photos, Einzelbilder beim Film –, bildet Kittler zufolge das Gemeinsame aller Medien. Zwar bilden analoge Tonmedien durchaus Kontinua, weil der Schall viel langsamer als Licht ist und sich deshalb trotz aller Komplexität z.B. von Orchesteraufnahmen unmittelbar – ohne Zerlegung in diskrete Momente – speichern und wiedergeben läßt. Aber auch der Schall wird im Medienverbundsystem des Computers in Bits zerlegt.

Beim Licht ist es jedenfalls so, daß es sich prinzipiell überhaupt nicht speichern läßt: „Umgekehrt (zum Ton – DZ) verfahren Film und Fernsehen nur darum diskret, also mit lauter Einzelbildern oder gar einzelnen Pixels, weil optische Speicher noch heute ein Ding der Unmöglichkeit sind. ... Deshalb speichern Film und Fernsehen nicht das Licht selber, sondern nur seine (von uns ja eingehend besprochenen) photochemischen Effekte, die dann alle() fünfundzwanzigstel Sekunden, also im Niederfrequenzbereich, abgetastet, gespeichert und wieder vorgeführt werden können.“ (1999/2011, S.258f.)

Licht läßt sich nämlich nicht speichern, weil es keine Speichermedien gibt, die mit der Lichtgeschwindigkeit mithalten können, – es sei denn man läßt das Licht sich selbst speichern, woran schon gearbeitet wird. Solange man hier aber keine Lösung gefunden hat, wird es dabei bleiben, daß man das Licht als Kontinuum in diskontinuierliche Elemente unterhalb der Wahrnehmungsschwelle zergliedern muß, um sie dann so abzuspielen, daß sie wieder den Eindruck einer kontinuierlichen Bewegungsfolge erzeugen.

Standards sorgen dafür, daß die Geräte, die das Licht beim Empfang in diskrete Elemente zergliedern, und die Geräte, die den fertigen Film abspielen, aufeinander abgestimmt sind und nicht nur ein Rauschen wiedergeben. Sie legen den Bereich der Täuschbarkeit unserer Sinnesorgane fest und regulieren innerhalb dieses Bereichs die weltweite Konsumierbarkeit der medialen Produkte. Ihre Funktion liegt also darin, das Uneindeutige in Form des Rauschens zu minimieren und das Eindeutige in Form von täuschend echten Bewegungsfolgen zu maximieren. Je ‚echter‘ die Bewegungsfolgen wirken, umso besser erfüllen die Standards ihren Zweck.

Dabei ist es interessant, daß gerade der Ton, der aus medientechnischer Perspektive eher simpel wirkt im Vergleich mit den Schwierigkeiten, Licht zu speichern und abzuspielen, die Standardisierung von Aufnahme- und Abspielgeräten erzwungen hat. Der Schall folgt einer ‚eindimensionalen‘ Schwingung, und es bedarf bloß einer eindimensionalen ‚Spur‘, wie etwa eine Schallplattenrille, um ihn abzuspeichern und wiederzugeben. Optische Medien stellen hingegen eine „prinzipiell zweidimensionale Signalverarbeitung“ dar (vgl. 1999/2011, S.258), was die Menge an Informationen, die hier verarbeitet werden müssen, quadriert. Dennoch ist es paradoxerweise gerade der informationstechnisch simple Ton, der wesentlich zur Standardisierung des Films beigetragen hat.

In Stummfilmzeiten war es nicht so genau auf die Abspielgeschwindigkeit des Films angekommen. Ob der Film schneller oder langsamer abgespult wurde, machte innerhalb gewisser Toleranzbreiten hinsichtlich des Filmgenusses wenig aus. Erst der Tonfilm erzwang exakte Kopplungen zwischen Aufnahme- und Abspielgeräten: „Durch millisekundengenaue Kopplung zwischen Bild und Ton hat erst der Tonfilm Messters Standardisierungsvorschläge wahr gemacht und das heißt zu einer absoluten Fixierung des Aufnahme- und Vorführtempos auch von Filmbildern gezwungen. ... Erst über das Ohr und die Akustik wurde Echtzeitverarbeitung auch und gerade von Augenweiden ernsthaft nachprüfbar.“ (1999/2011, S.260) – Unser Gehör ist offensichtlich weniger leicht täuschbar als unser Gesichtssinn.

Während Standards also dazu dienen, die Medien bei ihrem Angriff auf die menschlichen Sinne zu unterstützen, indem sie die Bewußtseinsschwelle unterlaufen, oberhalb derer man die scheinbare Kontinuität von Filmhandlungen noch auf ihre reale Diskontinuität hin durchschauen kann, funktionieren ‚Stile‘ nun ganz anders. Stile, z.B. in Form von Kunststilen (vgl. 1999/2011, 36), wollen nicht eine scheinbare Realität vortäuschen, sondern im Gegenteil die Subjektivität eines Künstlers zum Ausdruck bringen. Wir haben es also bei Kunststilen mit menschlicher Expressivität im Plessnerschen Sinne zu tun. (Vgl. meinen Post vom 26.01.2011) Das Interessante an Kunststilen ist nun, daß sie die ‚Konventionen‘, denen sie folgen, nicht verbergen, sondern offen zeigen. In der Malerei sind es z.B. bestimmte Maltechniken, Verfahren die Farben zu mischen etc. Wenn wir ein Bild betrachten, dann haben wir die verschiedenen Farbschichten samt der Textur der Leinwand deutlich vor Augen und werden über deren Materialität nicht getäuscht: „Anstelle der Naturwahrheit stand also eine Konvention, die man erst einmal ignorieren oder übersehen mußte, um der Illusion zu verfallen. ... These wäre also, daß überkommene Künste als Handwerke, die sie ihrem griechischen Begriff nach waren, nur eine Illusion oder Fiktion geleistet haben, aber keine Simulation wie technische Medien. In allem, was an Künsten Stil oder Code war, schrieb sich eine Trennung ein, die technischen Standards ganz im Gegenteil abgeht. Sicher waren Kunststile Weisen, auf die Sinne des Publikums zu wirken, aber sie beruhten nicht auf Messungen der Augenwahrnehmungsunfähigkeiten wie beim Standard des Filmbildwechsels ...“ (1999/2011, S.38)

Anstatt also dem Publikum durch „Messungen der Augenwahrnehmungsunfähigkeiten“ die Arbeit abzunehmen, die Absichten eines Regisseurs erraten zu müssen, um sich dann in einem bewußten Akt seinen Fiktionen (Täuschungen) hinzugeben, mutet es der Künstler dem Betrachter zu, sich selbst zu täuschen.

In der Literatur ist dieser Unterschied zwischen Standards und Stilen noch deutlicher. Dort bilden die Beschreibungen von Frauengestalten wie z.B. Novalis’ Mathilde oder Hoffmanns Aurelie (vgl. 1999/2011, S.228) ‚individuelle Allgemeinheiten‘. (Zum „individuellen Allgemeinen“ vgl. 1999/2011, S.181) Die Leser können (und müssen) sich ihr je individuelles Bild von diesen Frauengestalten machen, so daß sie bei keinem völlig gleich aussehen. Auf der Filmleinwand werden nun die Protagonisten ‚standardisiert‘. Alle sehen den gleichen Körper, das gleiche Gesicht. An die Stelle des individuellen Allgemeinen von Novalis’ Mathilde und Hoffmanns Aurelie treten „empirisch statistische Frauen“. (Vgl. 1999/2011, S.228; zum Thema „Selbstverwandlungstechniken“ vgl. auch meinen Post vom 23.01.2010 zu Günther Anders)

Wenn also Stile als individueller Selbstausdruck der Subjektivität des Künstlers zu individualisierenden Verstehensprozessen bei den Betrachtern bzw. Lesern führen, führen Standards als unterhalb der Bewußtseinsschwelle fungierende Täuschungstechniken zur Standardisierung des Wahrnehmens und Verhaltens beim Medienkonsumenten. Natürlich nur unter der Voraussetzung, daß sich bei dem einen oder anderen nicht doch unvorhergesehener Weise der Verstand einschaltet und sich rekursiv über den Täuschungsprozeß erhebt.

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