„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 6. Juni 2012

Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Berlin 2010 (2008)

(I: Warum wir kooperieren; 1. Zum Helfen geboren (und erzogen) (S.19-48); 2. Von sozialer Interaktion zu sozialen Institutionen (S.49-81; 3. wo sich Biologie und Kultur treffen (S.82) // II: Forum; Joan B. Silk (S.87-94); Carol S. Dweck (S.95-101); Brian Skyrms (S.102-107); Elizabeth S. Spelke (S.108-123))

1. Methode
2. Rekursivität und institutionelle Realitäten
3. Rekursivität und Roboter
4. Mutualität versus Altruismus?

Tomasellos Begriff der Rekursivität, wie er ihn in „Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation“ (2009) beschreibt (vgl. meine Posts vom 25. bis zum 27.04.2010), hängt eng mit der Griceschen kommunikativen Absicht zusammen (vgl. Tomasello 2009, S.100, 231 u.ö.). Die kommunikative Absicht trägt die Rekursivität des voneinander-Wissens, was man weiß und was nicht, indem sie ihr eine zusätzliche intentionale Schicht hinzufügt, die darin besteht, daß wir wollen, daß der jeweilige Gesprächspartner weiß, daß wir mit ihm kommunizieren wollen. Grice hatte ursprünglich angenommen, daß die rekursiven Ebenen des wechselseitigen Wissens voneinander logisch potentiell unendlich sind, wie Skyrms in seinem Kommentar festhält (vgl. Tomasello 2010, S.103), und Skyrms ergänzt später, daß die Menschen dennoch „vielen Studien zufolge nur sehr wenige Stufen dieser Leiter erklimmen zu können (scheinen)“ (vgl. Tomasello 2010, S.105).

Skyrms hält es deshalb für nötig, die rekursive Progression mit Hilfe einer spezifischen Ebene des Wissens zu stoppen und so das rekursive System des Voneinander-Wissens zu stabilisieren: „Ich glaube, Tomasello und ich sind uns darüber einig, daß es übertrieben wäre, von einem gemeinsamen Wissen der Menschen zu sprechen. Statt dessen beruft er sich auf den gemeinsamen Hintergrund (common ground), was eine viel bescheidenere Voraussetzung ist. Der common ground wird mit gemeinsamen Überzeugungen erklärt. Diese Überzeugungen müssen erstens nicht wahr sein. Noch wichtiger ist aber meiner Meinung nach, daß der common ground – soviel ich weiß – in der Hierarchie der gemeinsamen Überzeugungen nur eine Stufe weit nach oben geht. Dazu sind Menschen zweifelsfrei in der Lage.“ (Tomasello 2010, S.105)

Der common ground bzw. das Hintergrundwissen erinnert an die Lebenswelt, denn wir müssen dieses Wissen nicht ständig präsent haben. Auch wenn es unserem Bewußtsein entzogen wäre, könnte es unsere Kommunikation mit anderen Menschen ermöglichen und tragen. Aber das Hintergrundwissen selbst ist nicht vorm unendlich rekursiven Progreß gefeit. Wenn wir davon ausgehen, daß es ein sedimentierterTeil des Unterbewußten ist (vgl. meinen Post vom 20.04.2012), könnte es in Form eines rekursiven Regresses statt eines tragenden Fundamentes auch einen Abgrund bilden, in den hinein wir abstürzen und so den Kontakt zur Außenwelt und zum anderen Menschen verlieren. Auch Tomasello weist auf dieses Problem hin: „Man kann eine Menschenmenge am besten hinter sich bringen, indem man einen Feind identifiziert und behauptet, daß ‚die anderen‘ ‚uns‘ bedrohen. Die bemerkenswerte Kooperationsfähigkeit der Menschen scheint sich demzufolge hauptsächlich für Aktivitäten innerhalb der eigenen Gruppe entwickelt zu haben. Ironischerweise ist es ebendieses Gruppendenken, das heutzutage oftmals zu Unfrieden und Leid auf der Welt führt.“ (Tomasello 2010, S.81)

Den eigentlichen stabilisierenden Faktor sehe ich deshalb in der kommunikativen Absicht selbst. Denn wenn ich mit anderen Menschen kommunizieren will und auch will, daß die anderen Menschen wissen, daß ich das will, so verfolge ich dabei ein Ziel, das ich zum gemeinsamen Ziel machen möchte. Es wäre dieser Zielstrebigkeit sehr abträglich, wenn wir uns dem rekursiven Progreß ins Unendliche hingeben würden, – abgesehen davon, daß wir dabei auch an die Grenzen unseres logischen Fassungsvermögens kämen. (Vgl. meinen Post vom 25.07.2011) Wir verlören dabei das Motiv aus den Augen, das unserer Kontaktaufnahme mit den anderen Menschen ursprünglich zugrunde gelegen hatte. Es ist also die kommunikative Absicht selbst, die dafür sorgt, daß die logische Unendlichkeit des rekursiven Progresses psychisch begrenzt bleibt und in der Verwirklichung gemeinsamer Ziele ihr Ende findet.

Die Gricesche kommunikative Absicht begründet ein direkt auf einen Gesprächspartner gerichtetes System rekursiver Bezüge auf Motive und gemeinsames Wissen. Das auch von Tomasello in seinem Buch zu den Ursprüngen der menschlichen Kommunikation angesprochene Hintergrundwissen hat sich hier noch nicht zu einer eigenständigen Größe verselbständigt, sondern bleibt auch in seiner lebensweltlichen Dimension direkt mit den beteiligten Akteuren verbunden, die sich in wechselnden Perspektiven als Ich und Du vorstellen und ansprechen. In „Warum wir kooperieren“ bringt Tomasello nun eine dritte Perspektive ein, die er als „akteur-neutral“ bezeichnet (vgl. Tomasello 2010, S.44, 60, 74, 76, 79). Bei dieser akteur-neutralen dritten Perspektive handelt es sich um einen Beobachter, der nicht am Gespräch teilnimmt, von dem aber die Gesprächspartner wissen, daß sie von ihm beobachtet werden, was also einen neuen rekursiven Raum eröffnet. Diesen Raum bezeichnet Tomasello als „soziale Realität“ (Tomasello 2010, S.43f.) oder auch als „institutionelle Realität“ (Tomasello 2010, S.53).

Diese institutionellen Realitäten „füllen“, wie Tomasello schreibt, „den öffentlichen Raum“: „... und die meisten davon würden von Schimpansen vermutlich gar nicht wahrgenommen. Was all diese institutionellen Phänomene eint, ist das einzigartige ‚Wir‘-Gefühl der Menschen, der Sinn für geteilte Intentionalität. Und dieser Sinn stammt nicht nur aus der kollektiven, institutionellen Welt der Supermärkte oder Verbraucherschutzministerien, sondern tritt auch – vielleicht sogar noch deutlicher – in einfacheren sozialen Interaktionen zutage.“ (Tomasello 2010, S.53)

An dem Wir-Gefühl, dem rekursiven Raum sozialer Institutionen, macht Tomasello die anthropologische Differenz zwischen Menschen und Menschenaffen fest: „Verschiedene Daten belegen, daß ein Schimpanse es realisiert, wenn ein Artgenosse einen anderen Affen sieht;() es gibt jedoch keinen Beweis dafür, daß dem beobachteten Schimpansen bewußt ist, daß ein Artgenosse wahrnimmt, daß er diesen anderen Affen mit seinen Blicken erfaßt hat. Es gibt also keinen Beleg, daß Menschenaffen auch nur zur ersten Stufe des rekursiven ‚Mind Reading‘ (wenn diese Bezeichnung gestattet ist) fähig sind, was jedoch die Grundlage für alle Formen eines gemeinsamen konzeptuellen Hintergrunds darstellt.“ (Tomasello 2010, S.63)

Gegenüber seinem Buch zur kulturellen Entwicklung des menschlichen Denkens (1999) und auch gegenüber seinem Buch über die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (2009) beinhaltet das eine neue Akzentsetzung, die die mit der kommunikativen Absicht verbundenen Stufen des „du weißt, daß ich weiß, daß du weißt ...“ unter Beteiligten in die anthropologische Differenz nicht mehr mit einbezieht. Nunmehr soll die spezifisch menschliche Rekursivität nur noch in der Bezugnahme auf den unbeteiligten Anderen, also im Bezug auf die sozialen Institutionen bestehen. Nun heißt es: „Der unbeteiligte Andere dort weiß, daß ich über diesen beteiligten Anderen hier weiß, daß ...“ usw.

Die kommunikative Absicht als Bestandteil der Rekursivität beinhaltet aber nicht in erster Linie, daß der unbeteiligte Andere über meine Absichten informiert ist, sondern der beteiligte Andere! Um Kommunikation gelingen zu lassen, bedarf es nicht in erster Linie der Kontrolle durch den unbeteiligten Anderen, sondern des Vertrauens in die Kooperationswilligkeit des beteiligten Anderen, weshalb Tomasello ja auch in seinem Buch über die Ursprünge der menschlichen Kommunikation sogar die Möglichkeit der Lüge in diesem Vertrauen wurzeln läßt. (Vgl. Tomasello 2009, S.205) Erst wenn dieses Vertrauen enttäuscht wird, berufen wir uns auf soziale Institutionen, die also erst in zweiter Linie relevant sind. Das Vertrauen kommt zuerst.

Tomasello macht in „Warum wir kooperieren“ das Wir-Gefühl, die Gruppenidentität, als wesentliche anthropologische Differenz so stark, daß er die individuelle Komponente individueller Bedürfnisse und Interessen aus dem Auge verliert; zwar nicht vollständig, aber doch so, daß er sie in ihrer Funktion für die anthropologische Differenz bzw. für die Humanität des Menschen marginalisiert. Das wird ihm auch im Forum von mehreren Kommentatoren vorgeworfen. Joan B. Silk weist darauf hin, daß gemeinsame Interessen eher selten sind, so daß in „kooperativen Beziehungen ... die Herausforderung darin (besteht), mit den ungleichen Interessen der Teilnehmer zurechtzukommen.“ (Vgl. Tomasello 2010, S.91) Und Brian Skyrms schreibt: „Ein reines gemeinsames Interesse von Sender und Empfänger ist von Vorteil für die Kommunikation, aber wenn es eine Voraussetzung wäre, gäbe es deutlich weniger Kommunikation auf der Welt. Wenn wir über gemeinsames Interesse hinausgehen, finden wir Fälle, in denen unterschiedliche Ziele zu partiellem Informationstransfer führen – bis hin zu kompletter Täuschung.“ (Tomasello 2010, S.105)

Allerdings argumentiert Skyrms völlig an Tomasellos Anliegen vorbei. Während es Tomasello darum geht, im Vergleich zwischen Schimpansen und Kleinkindern das Spezifische am menschlichen Bewußtsein herauszuarbeiten, verallgemeinert Skyrm den Begriff der Kommunikation in Richtung auf eine biologische Informationstheorie und bezieht sich auf Glühwürmchen (vgl. Tomasello 2010, S.105f.), Erdmännchen, Nacktmulle und soziale Insekten (vgl. Tomasello 2010, S.107). Wenn er deshalb glaubt, Tomasello dahingehend kritisieren zu müssen, daß das „rekursive Erkennen geistiger Zustände“ dort nirgendwo vorkommt und deshalb „nur in ganz besonderen Fällen relevant“ ist (vgl. Tomasello 2010, S.107), geht diese Kritik irgendwie ins Leere.

Dennoch bleibt das Problem der Marginalisierung der individuellen Bedürfnisse der Kommunikationspartner, die sich nicht einfach zu einem gemeinsamen Interesse verallgemeinern lassen. In seinem Buch über die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (1999) hatte Tomasello noch eine besondere Entwicklungsphase des Kindes daran festgemacht, daß es nach den Stadien des individuellen (biologischen) Lernens und des kulturellen Lernens ab dem fünften Lebensjahr in der Lage ist, zwischen beiden Formen des Lernens zu wechseln. Tomasello spricht in diesem Zusammenhang von „kreativen Sprüngen“. (Vgl. meinen Post vom 24.05.2011) Es gibt also ein spannungsreiches Verhältnis zwischen individueller und kollektiver ‚Intelligenz‘, also letztlich zwischen individuellen und sozialen Bedürfnissen, die die Individuen in ein für sie lebbares Verhältnis überführen müssen. Ist es da nicht viel plausibler, die anthropologische Differenz an dieser kreativen Spannung festzumachen, statt sie einseitig nur auf die Gruppenintelligenz zu beziehen?

So wie Tomasello in „Warum wir kooperieren“ das Wir-Gefühl thematisiert, erinnert das sehr an John Lockes Gentlemanerziehung. (Vgl. meine Posts vom 15.03.2012 bis zum 17.03.2012) Tomasello spricht sogar vom „öffentlichen Ruf“ (Tomasello 2010, S.46)  und vom Wunsch der Kinder, sich an „Regeln als supraindividuelle Einheiten“ (Tomasello 2010, S.42) anzupassen: „Diese Studien zeigen, daß schon die frühesten kindlichen Normen – welche sich im Alter von rund drei Jahren zum ersten Mal beobachten lassen – echte soziale Normen sind (auch wenn sie sich später noch weiterentwickeln) und daß sie nicht nur auf Autorität und Gegenseitigkeit basieren.“ (Tomasello 2010, S.42)

Bis hin zur erzieherischen Bedeutung von „Schuld- und Schamgefühlen“ gleichen Tomasellos Darstellungen John Lockes Vorstellung von der Vernunftsfähigkeit von Kindern, sobald sie sprechen können. Bei John Locke ergibt sich daraus eine schwarze Pädagogik, die vor Demütigungen und Bestrafungen nicht zurückschreckt. Und auch Tomasello käme nun aufgrund seiner Darstellungen in „Warum wir kooperieren“ Schwierigkeiten damit, zu begründen, wie sich denn der eigene, individuelle Verstand von Kindern entwickeln soll, wenn die „erste Stufe“ der Rekursivität nicht mehr im Wechselbezug der individuellen Bedürfnisse von sozialen Partnern besteht, sondern im Wechselbezug der sozialen Realität: also letztlich im Lockeschen guten Ruf.

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