„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 15. Juni 2012

Schatten und Symbole

Ich hatte schon in meinem Post vom 07.07.2011 auf fünf verschiedene semantische Dimensionen verwiesen, auf Expression, Artikulation, Referenz, Bedeutung und Sinn. In meinem Post vom 23.08.2011 hatte ich noch auf eine weitere Form der Informationsübertragung verwiesen, die aus der Semantik herausfällt: auf das Signal. In Blumenbergs „Höhlenausgänge“ (1989) bin ich nun auf noch eine semantische Differenzierung gestoßen, die ich bislang nur im Rahmen meiner Unterscheidung zwischen phänomenalen und narrativen Gegenständen berücksichtigt hatte. (Vgl. meinen Post vom 25.10.2011) Dabei geht es um das „Symbol“ und seine „lebensweltliche Integration“. (Vgl. Blumenberg 1989, S.163ff.)


Im Verlauf seiner Kommentare zu Platos Höhlengleichnis verläßt Blumenberg die Ebene der Erkenntnisbeziehung zwischen Schatten und Ideen, in der die Schatten nur schwächliche Abbilder der Ideen darstellen, und er fragt sich, ob nicht die Schatten im Bewußtsein der Höhlenbewohner längst eine ganz andere Bedeutung erhalten haben könnten. Im Bewußtsein der Höhlenbewohner besteht das von Plato aufgeworfene Problem der Realitätsferne der Schatten überhaupt nicht. Die Frage nach ihrer „Herkunft“, also nach ihrem Bezug auf die Ideen, stellt sich ihnen nicht. Vielmehr sind die Schatten in die Lebenswelt der Höhlenbewohner vollständig integriert.

Die Höhlenbewohner haben zwar auch eine Erkenntnisbeziehung zu diesen Schatten, aber nicht eine der Abbildlichkeit zu einer ihnen völlig unbekannten Außenwelt, von der sie noch nicht einmal wissen, daß es sie überhaupt geben könnte. Sie verständigen sich vielmehr, so Blumenberg, über die zeichenhafte Bedeutung der Schatten, die auf lebensweltliche Rituale der Höhlenbewohner verweisen. Die Schatten sind zu „bloße(n) Zeichen für die Auslösung und Terminierung von Verhaltensweisen“ geworden, – zu „Symbolen“: „Das Symbol verschließt sich gegen seine Herkunft, auch und gerade gegen die als Abbild. Es heraldisiert sich bis zur formalen Unkenntlichkeit, um ganz seiner Verweisung zu dienen: Verweisung auf das, was es selbst nicht ist, nicht sein darf und nicht sein kann.“ (Blumenberg 1989, S.164)

Wir haben es also mit jenem Aspekt einer Semantik zu tun, die als Referenz auf Gegenstände verweist. So wie Namen und Bezeichnungen auf äußere, physische Gegenstände verweisen, verweisen Symbole auf innere, lebensweltliche ‚Gegenstände‘, womit vor allem das ‚Verhalten‘ gemeint ist: „Ein Symbol beeinflußt das Verhalten gerade kraft des Einverständnisses, sich mit ihm als ‚Gegenstand‘ nicht einzulassen.“ (Blumenberg 1989, S.165)

In beiden Verweisungsformen, nach außen wie nach innen, steht das verweisende Zeichen oder Symbol in keinem Abbildverhältnis zum Gegenstand, was die spezifische Differenz der Referenz ausmacht. So wenig wie der Wegweiser in der äußeren Welt schon der Ort selbst ist, auf den er verweist, sondern ganz in seiner Funktion, auf ihn hinzuweisen, aufgeht, ist das Symbol, „als Verweisung auf das, was es selbst nicht ist, nicht sein darf und nicht sein kann“ (Blumenberg 1989, S.164), schon die Sache selbst. Das Symbol – etwa eine Fahne – weckt eben nicht aufgrund seiner Materialität unser Interesse, sondern als Verweis auf eine Zugehörigkeit, die uns entweder einschließt oder ausschließt. Der Stoff der Fahne ist weder ein Vaterland noch ein Verein.

Die Höhlenbewohner verständigen sich also eigentlich gar nicht über die Wirklichkeit der Schatten als scheinbarer Außenwelt, sondern über deren lebensweltliche Funktion. Es geht ihnen – folgt man Blumenbergs Vorschlag – nicht um Fragen der ‚Passung‘, der Abbildlichkeit ihrer Erkenntnisse mit der Realität, sondern um den subjektiven Bezug ihrer Aussagen zur Welt als Lebenswelt. Kurz gesagt: auch die Höhlenbewohner leben in einer Welt, und in dieser Welt haben die Schatten vor allem eine symbolische Bedeutung, in der ihre Abbildlichkeit, ihr Bezug zur Wirklichkeit bzw. zu den ‚Ideen‘ überhaupt keine Rolle spielt.

Wir können also innerhalb der Referenz als einer semantischen Dimension noch einmal unterscheiden zwischen Verweisen auf äußere Gegenstände und Verweisen auf innere Gegenstände. Und die ‚Realität‘ der Schatten innerhalb der Lebenswelt der Höhlenbewohner ist von keiner geringeren Qualität als die der Gegenstände der Außenwelt.

Und schließlich steckt darin auch noch eine andere, über die referentielle hinausgehende Differenz: die des Bewußtseins zu seinen Gegenständen. Auch mit seinen inneren Gegenständen ist das Bewußtsein nicht identisch. Denn unsere innere Welt umfaßt als zentrale narrative Struktur insbesondere das Gedächtnis. Und unsere Erinnerungen haben wir nur begrenzt unter Kontrolle. Aufgrund dieser entscheidenden Differenz des Bewußtseins zur Innen- wie zur Außenwelt sind semantische Dimensionen deshalb immer auch Dimensionen einer Differenz.

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