„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 17. Juli 2012

Dimensionen der Intersubjektivität

(Vgl. auch meinen Post vom 14.07.2012)

Im Anschluß an meine Posts zu Blumenberg, insbesondere meine Posts zum rekursiven Potential der Narrativität (vom 13.07.2012 und vom 16.07.2012), habe ich mich daran gemacht, meine Pyramidengraphik zur dreifachen Gliederung der Person (vom 30.01.2012) mit Bezug auf eine dreifache Dimensionierung von Intersubjektivität nochmal zu überarbeiten. Dabei gehe ich davon aus, daß zwischen einer spezifischen Intersubjektivität auf der Ebene des Geistes als Wissenschaft, einer Intersubjektivität auf der Ebene der Seele als Narration und einer Intersubjektivität des Körperleibs, die man auch als Intra-Subjektivität beschreiben könnte, unterschieden werden muß.



Auf alle diese Dimensionen von Intersubjektivität sind wir im Rahmen dieses Blogs schon einmal zu sprechen gekommen. Intersubjektivität, wie man sie üblicherweise versteht, wird mit wissenschaftlicher Objektivität gleichgesetzt. Plessner ordnet sie dem Geist zu. (Vgl. meinen Post vom 15.11.2010) Er spricht hier von der Nichtanwendbarkeit der Begriffe „subjektiv“ und „objektiv“ (vgl. „Stufen des Organischen“, S.305) , was auf Kants Formulierung zur „Erscheinung von der Erscheinung“ hinausläuft, die Blumenberg als Identität der Subjekte und als Identität der Objekte interpretiert (vgl. Blumenberg 1989, S.746). Dazu noch einmal Plessner: „Die Personmitte ist durch unpersönliche Sachmitte ersetzt. Zu ihr gehen vielleicht noch die Strahlen geistiger Liebe, doch nicht mehr aus dem individuellen Wesenskern jeder Person, sondern aus jenem Teil ihres Wesens, den sie gerade mit allen Personen gemein hat, aus der Vernunft. Nicht warme, dichte Atmosphäre, sondern kalte, dünne Luft weht hier, der Hauch des Geistes.“ („Grenzen der Gemeinschaft“, S.51f.)

Intersubjektivität als Narration können wir auf den Bereich der Seele beziehen, die in der Pyramidengraphik sowohl Lebenswelt als auch Haltung umfaßt. Über die Lebenswelt geht sie hinaus, weil sie gemeinsamen Sinn zum Ausdruck bringt und nicht verbirgt. Auf diese Weise formt sie unsere Haltung. Narrativität entspricht den ambivalenten seelischen Bedürfnissen, sich gleichzeitig zeigen und verbergen zu wollen. Denkt man an Welzers Montageprinzip (vgl. meinen Post vom 20.03.2011), so ist Geschichtenerzählen eine Form des Ausdrucks, die Lücken läßt, die die Zuhörer mit eigenem Sinn füllen können. Geschichten zu erzählen bietet also die Möglichkeit, sich einem gemeinsamen Sinn anzuschließen, einer Form geteilter Intentionalität (Tomasello), ohne den eigenen Sinn zu opfern. Individueller und gemeinsamer Sinn zeigen und verbergen sich zugleich in einer Struktur des Sinns von Sinn.

Welzer fügt dem noch den Aspekt des sozialen Markers hinzu. (Vgl. meinen Post vom 24.03.2011) Dieser soziale Marker ermöglicht die Verbindung zwischen individuellem und gemeinsamem Sinn, insofern er über gemeinsame Erfahrungen der Zuhörer mit bestimmten Objekten oder Personen, die in der Geschichte, die erzählt wird, vorkommen, den Eindruck eines identischen Verständnisses der erzählten Geschichte erzeugt.

Von Tomasello stammt der Aspekt der „extravaganten Syntax“. (Vgl. meinen Post vom 27.04.2010) Demnach erhöhen narrative Strukturen unsere Fähigkeit, ‚Referenten‘ (bzw. ‚Sinn‘) über mehr Ebenen und Kontexte hin zu ‚verfolgen‘, als wir es von unserer kognitiven Ausstattung her könnten. Man könnte es auch so formulieren: unsere Kognition ist begrenzt, aber unsere Phantasie ist unbegrenzt. In die gleiche Richtung wie Tomasellos extravagante Syntax geht Blumenbergs Hinweis auf das finale Höhlengleichnis mit seinem Mythos im Mythos: nur in der Form einer Erzählung können wir Höhlenbewohner auf die Möglichkeit hinweisen, daß es eine Welt jenseits ihrer Höhle gibt. (Vgl. meinen Post vom 13.07.2012)

Eine dritte Dimension der Intersubjektivität, die Kinästhesie, bildet die subjektive Basis für die beiden anderen. Sie bezieht sich auf den Körperleib. Sowohl Plessner wie auch Husserl sprechen von der „raumzeitlichen Verschiedenheit der Standorte“ (vgl. „Stufen des Organischen“, S.304) und von der leiblichen Veränderlichkeit von Horizonten (vgl. Blumenberg 1989, S.704). Bei beiden geht es um einen über die Bewegung im Raum vermittelten Wechselbezug unserer Sinnesorgane, der in uns ein erstes intra-subjektives Verständnis für die Möglichkeit von Inter-Subjektivität eröffnet.

Blumenberg spricht an dieser Stelle auch von „zwei Ebenen der Konsistenz“ und veranschaulicht sie am Beispiel einer Auseinandersetzung zwischen einem Kranken mit seinen ‚gesunden‘ Mitmenschen: „Wenn ein Kranker Wahrnehmungen zu haben behauptet, die von den Gesunden seiner Umgebung nicht geteilt werden, urteilen diese über seine Wahrnehmungsfähigkeit negativ, indem sie von der Abstimmbarkeit ihrer Wahrnehmungen untereinander ausgehen; also von dem, was sie gegen den einen gemeinsam haben. Dieser seinerseits beurteilt sein Recht, für Wahrnehmung zu halten, was er sich vorstellt, daraus, wie diese seine Vorstellung mit seinen übrigen zusammenhängt.“ (Blumenberg 1989, S.535)

Dazu kann man nur anmerken: der ‚Kranke‘ hat jedes Recht, seinen eigenen Verstand für gesund zu halten. Er zweifelt ja nicht an der Intersubjektivität der ‚Gesunden‘. Er weigert sich aber, an der Intra-Subjektivität seiner Vorstellungen zweifeln zu müssen. Auch für ihn gilt, was Blumenberg über die Legitimierung des Zwangs gegen Uneinsichtige sagt: daß sie „mit der Vertröstung auf künftige Einsicht“ jede Gewaltausübung „autorisiert“. (vgl. Blumenberg 1989, S.751)

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