„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 27. Juli 2012

Georg Northoff, Das disziplinlose Gehirn – Was nun Herr Kant?. Auf den Spuren unseres Bewusstseins mit der Neurophilosophie, München 2012

1. Kritik an der Neurophilosophie
2. Beispiele und Analogien
3. Methoden
4. Phänomene und Phantome: der Homunculus
5. Gestaltwahrnehmung
6. Statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit
7. Bewußtes und Unterbewußtes
8. Das funktionierende Gehirn
9. Neuronale und nicht-neuronale Prädispositionen
10. Zur Notwendigkeit einer Neurophilosophie
 
(Siehe auch Georg Northoff zu Kommentaren von Detlef Zöllner und Detlef Zöllner antwortet auf Georg Northoff)

Northoff spricht von drei sich prinzipiell unterscheidenden Methoden, die in der Wissensgeschichte verwendet wurden, um das Bewußtsein zu erforschen. (Vgl. 2012, S.34-38) Die historisch älteste ist die transzendente Methode, die man von vornherein und ohne Abstriche der Metaphysik zuordnen kann. (Vgl. 2012, S.35) Sie besteht darin, dogmatische Behauptungen zum Bewußtsein aufzustellen und dann das Bewußtsein auf der Grundlage dieser dogmatischen Behauptungen (Axiome) zu konstruieren. Ein Vorgehen, das man übrigens auch in der Mathematik anwendet. Der Nachteil dieser Methode ist, daß man letztlich alles behaupten kann, wenn es nur logisch ist oder wenigstens als irgendwie plausibel erscheint: „Alles ist möglich, everything goes.“ (2012, S.36)

Die mit der neuzeitlichen Wissenschaft einhergehende gebräuchlichste Methode ist die Empirie, die Methode der Beobachtung. (Vgl. 2012, S.34) Die Empirie versucht mittels der Beobachtung, herauszufinden wie das Bewußtsein funktioniert. Besonders konsequent gehen dabei die Behavioristen vor, die von vornherein auf den Begriff des Bewußtseins verzichten und sich ganz auf das beobachtbare Verhalten konzentrieren. An die Stelle des Bewußtseins setzen sie die Assoziation, als das Verknüpfen von Reizen und Reaktionen in Form des Reflexbogens. So eine beobachtbare Assoziationskette von Reizen und Reaktionen bis hin zur abschließenden Reaktion kann durchaus auch länger ausfallen und aus verschiedenen Umwandlungsprozessen von der Sensorik über das Gehirn bis hin zur Motorik bestehen.

Dabei kommt aber das entscheidende Problem nicht in den Blick: die bewußte, die Kette der Reize zur Einheit zusammenfügende Wahrnehmung; eben die Einheit des Bewußtseins: „Assoziation ist aber nicht Kontinuität. Genauso wie ein bloßes Zusammenlegen von Perlen noch keine Kette ergibt, kann die bloße Assoziation keine Kontinuität gebären. Beobachtung kann nur Assoziation erfassen, nicht aber Kontinuität.“ (2012, S.34) – Das Bild, das Northoff hier für diese Einheit des Bewußtseins findet, besteht in einer die lose nebeneinanderliegenden Perlen erst zur Einheit zusammenfügenden „Goldkette“: „Die Goldkette schafft ein Kontinuum für die einzelnen Diamanten. Analog konstituiert unser Bewusstsein ein Kontinuum für die verschiedenen Punkte in Raum und Zeit.“ (2012, S.20)

Gleichgültig, ob nun das Bewußtsein selbst geleugnet wird, wie bei den Behavioristen, oder ob neuronale Prozesse mit Bewußtseinsphänomenen gleichgesetzt werden, wie bei den Neurophysiologen, – im Effekt läuft beides auf dasselbe hinaus: auf die schlußfolgernde Gleichsetzung empirischer Phänomene mit Bewußtseinsphänomenen. Die Empirie schlägt in Metaphysik um. Entsprechend läßt Northoff seinen Kant beim Besuch des neurowissenschaftlichen Kongresses im heutigen Berlin schimpfen: „Wenn schon eine empirische Beobachtung des Gehirns im Kontext des Bewusstseins, dann wenigstens empirische Befunde. Und nicht noch mehr metaphysische Spekulation. Denn was ist der Unterschied, ob über den Geist und eine Seele, wie zu meiner Zeit, spekuliert wird. Oder über das Gehirn, wie in der heutigen Zeit? Seelen-Metaphysik oder Neuronen-Metaphysik – das ist mir egal. Metaphysik bleibt Metaphysik!“ (2012, S.93)

Wenn also weder die direkte Methode des Setzens von Behauptungen (Axiomen) noch die direkte Methode des Beobachtens zu brauchbaren Ergebnissen für die Beschreibung und Erklärung phänomenaler Zustände (Bewußtsein) führen, muß man es, so Northoff, mit indirekten Methoden versuchen. (Vgl. 2012, S.37) Als so eine indirekte Methode bezeichnet Northoff Kants transzendentale Kritik der reinen Vernunft. (Vgl. 2012, S.36ff.) Dabei bezieht er sich zunächst weniger auf die mit dieser transzendentalen Methode verbundene prinzipielle Trennung zwischen empirischen und noumenalen Gegenständen. Diese logische ‚Disjunktion‘ spielt im Verlauf der folgenden Gespräche zwischen dem Studenten und Kant noch eine den Studenten (und Leser) nervende Rolle: immer wenn der Student glaubt, endlich ein empirisches Phänomen gefunden zu haben, das mit Bewußtsein gleichgesetzt werden kann, fährt ihm Kant kritisch dazwischen und verweist darauf, daß empirische Phänomene immer ein ‚Zuviel‘ an ‚Welt‘ beinhalten und damit ein ‚Zuwenig‘ an ‚Bewußtsein‘. Das ist so nervig, daß selbst ich beim Lesen in Gefahr war, auf die Seite des Studenten zu wechseln, weil ich endlich mal zu gehaltvollen Resultaten kommen wollte.

Aber bei der Differenzierung zwischen empirischen, transzendenten und transzendentalen Methoden geht es Northoff eben noch nicht um die prinzipielle Trennung, die logische Disjunktion zwischen empirischen und noumenalen Gegenständen. Ihm geht es um die Indirektheit des transzendentalen Verfahrens, die von bestimmten Wahrnehmungen (empirischen Erscheinungen) ausgeht, um dann nach ihren Möglichkeitsbedingungen, dem Bewußtsein, zu fragen: „Wir schließen somit von einem empirisch gut beobachtbaren Endpunkt auf einen empirisch nicht beobachtbaren Anfangspunkt. Das ist genau das, was Kant als transzendentale Methode bezeichnet und von empirischen (und) transzendenten Methoden unterscheidet.“ (2012, S.38) – Dabei muß man allerdings berücksichtigen, daß die Wahrnehmungen, von denen Kant ausgeht, die empirischen Phänomene, immer schon von Subjektivität durchsetzt sind. Um zu verstehen, warum das so ist, muß man sich eben die Frage stellen, wie es kommt, daß wir überhaupt Wahrnehmungen haben können.

Auf das Beispiel, das Northoff hier verwendet, bin ich schon im letzten Post eingegangen. Es geht um eine sichtbare Tischplatte, von der wir auf die nicht sichtbaren Tischbeine schließen. (Vgl. 2012, S.39) Daran wird schon deutlich, daß die logische Disjunktion zwischen empirischen und noumenalen Gegenständen in diesem Beispiel nicht vorkommt. Alles ist empirisch: die Tischplatte und die Tischbeine. Wir gelangen vom „empirisch gut beobachtbaren Endpunkt“ der Tischplatte zum „empirisch“ nur umständehalber im Moment „nicht beobachtbaren Anfangspunkt“ und haben so letztlich gar nicht nach den Möglichkeitsbedingungen der Wahrnehmung von Tischen schlechthin gefragt, sondern nur nach der Möglichkeitsbedingung dieses Tisches, die, wie schon erwähnt, voll und ganz im Bereich der Empirie verbleibt.

Northoff wendet die transzendentale Fragestellung, für die die logische Disjunktion zwischen empirischen und noumenalen Gegenständen wesentlich ist, um in eine genetische Fragestellung: „Diese physikalisch-phänomenale Transformation, so nenne ich es einmal, ist es, was mich interessiert. ... Ich will verstehen, wie aus ‚Gehirn‘ Bewusstsein wird.“ (2012, S.115f.)

Es gibt Philosophen, die wir in diesem Blog besprochen haben, wie z.B. Lambert Wiesing, der nun einwenden würde, daß Northoff an dieser Stelle aufhört, zu philosophieren. (Vgl. meinen Post vom 04.06.2010) Philosophen, die sich mit Wahrnehmungserlebnissen, also mit Bewußtsein befassen, interessieren sich nicht für genetische Fragen, die diese psychischen Erlebnisse auf physikalische Prozesse zurückzuführen versuchen, weil dabei deren phänomenale Spezifik verlorengeht. Lambert Wiesing bewegt sich hier voll und ganz im Rahmen der transzendentalen Kritik. Die Möglichkeitsbedingungen für bewußte Wahrnehmung sind nicht in empirischen, sondern in intelligiblen Prozessen zu finden. Zu dieser intelligiblen Welt gehört auch die Einheit des Bewußtseins. Und es gehören die Verstandeskategorien dazu, wie z.B. die Kausalität mit ihren verschiedenen Modalitäten. Das sind die Möglichkeitsbedingungen, zu denen wir mittels der transzendentalen Methode gelangen können. Zu ihnen gehören keinesfalls neuronale Prozesse.

Northoff versucht letztlich, die transzendentale Methode neu zu definieren, um eine innere, vom Gegenstand (dem Gehirn) her begründete Verbindung zwischen Neurophysiologie und Philosophie zu schaffen, eben die Neuro-Philosophie. Dazu dient das Hervorheben der Indirektheit der transzendentalen Kritik, womit Northoff vor allem die Abwendung von der direkten Beobachtung hin zur Konstruktion von ‚relationalen‘ Prozessen meint (vgl. 2012, S.253f.), in Form der Umwelt-Gehirn-Einheit (vgl. 2012, S.173f.).

Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Ich selbst gehe mit Plessners Körperleib – der Körper-Leib-Einheit – von solchen ‚Relationalitäten‘ aus, um die Möglichkeitsbedingungen von Bewußtseinsphänomenen zu beschreiben. Dabei sollte man aber wieder – wie das eben beim Körperleib der Fall ist – so umfassend wie möglich ansetzen, um den ganzen Menschen in den Blick zu bekommen. Ich gehe hier von genetischen Zusammenhängen auf biologischer, kultureller und ontogenetischer Ebene aus. (Vgl. meinen Post vom 21.04.2010) Statt also auf molekulare Prozesse sollte man sich auf die umfassende ‚Gestalt‘ des Menschen als Person beziehen. Inwiefern diese Blickrichtung als ‚transzendental‘ bezeichnet werden kann – ich denke dabei an das phänomenologische Verfahren der freien Variation, z.B. in Form der Meditation –, will ich hier nicht weiter erörtern. Jedenfalls ist die auf neuronale Prozesse zurückführende genetische Fragestellung nicht mehr Teil einer transzendentalen Methode.

Northoffs Begriff der „Relationalität“ beinhaltet übrigens eine Definition der „Korrelation“, auf die ich hier noch kurz eingehen will, weil ich sie in meiner eigenen Stellungnahme dazu bislang nicht berücksichtigt hatte. (Vgl. meinen Post vom 19.03.2011) Ich war beim Begriff der Korrelation von einer theologischen Definition des Gott-Mensch-Verhältnisses und von einer anthropologischen Definition des Mensch-Welt-Verhältnisses ausgegangen. Als Bewußtseinskorrelate kamen (und kommen) meiner Ansicht nach nur Gegenstände bzw. die Welt als Gesamtheit aller Gegenstände in Betracht. Neuronale Prozesse sind keine Korrelate des Bewußtseins, sondern nur Funktionen, die für Bewußtsein mehr oder weniger funktional sind.

Northoff bezieht sich übrigens auf eine Stellungnahme von Kant, die in eine ganz ähnliche Richtung geht: „Er warnt. Warnt davor, nicht über die Kritik hinauszugehen. Nicht die Beziehung zwischen Verstand und Welt durch die zwischen Ich und Bewusstsein zu ersetzen.“ (2012, S.266) – Die eigentliche Korrelation, um die es geht, so Kant, besteht in der zwischen Verstand und Welt und nicht in der zwischen Ich und Bewußtsein. Denn wohin führt die Unterscheidung zwischen Ich und Bewußtsein? Sie verführt uns dazu, nach einem ‚Ich‘ zu suchen, als handelte es sich um ein selbständiges, vom Bewußtsein unterscheidbares ‚Ding‘, um jenen Homunculus, auf den ich im nächsten Post zu sprechen kommen werde.

Northoff führt nun den Begriff der Korrelation auf die Statistik zurück, „der ein bestimmtes Verfahren zur Überprüfung des Zusammenhangs zwischen zwei unterschiedlichen Variablen beschreibt. Festgestellt wird als Korrelation die lineare Beziehung zwischen den Variablen, womit noch nichts über die Kausalität zwischen beiden ausgesagt ist.“ (2012, S.294)

Den Begriff der Korrelation als einen statistischen Begriff zu definieren, findet meine Zustimmung. Denn dann beschreibt dieser Begriff nichts anderes, als was die Neurowissenschaft tut: unterschiedliche Variablen auf den Ebenen neuronaler Prozesse, des menschlichen Verhaltens und subjektiver Aussagen über innere Befindlichkeiten miteinander in Beziehung zu setzen. Aber schon wenn ich statt von ‚Korrelation‘ von ‚Korrelaten‘ spreche, besteht die Gefahr, daß sich der begriffliche Gehalt zu ändern beginnt: neuronale Prozesse werden jetzt nicht mehr mit Bewußtseinsprozessen ‚korreliert‘, sondern sie sind Korrelate des Bewußtseins. Von der Korrelation zum Korrelat verwandelt sich die Beziehung substantiell. Sie ist nicht mehr nur funktional.

Letztlich kommt übrigens Northoff selbst auf die Funktionalität als dem wichtigsten Kriterium für die Unterscheidung zwischen beobachtetem und realem Gehirn zurück. (Vgl. 2012, S.271f., 276ff.) Das Gehirn an sich, das noumenale Gehirn, besteht letztlich darin, daß es funktioniert, also für das Bewußtsein funktional ist: „Das noumenale Gehirn ist das Gehirn selbst, so wie es funktioniert, unabhängig von unserer Beobachtung und Untersuchung. Ich spreche daher von einem ‚funktionierenden Gehirn‘.“ (2012, S.271)

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