„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 28. Juli 2012

Georg Northoff, Das disziplinlose Gehirn – Was nun Herr Kant?. Auf den Spuren unseres Bewusstseins mit der Neurophilosophie, München 2012

1. Kritik an der Neurophilosophie
2. Beispiele und Analogien
3. Methoden
4. Phänomene und Phantome: der Homunculus
5. Gestaltwahrnehmung
6. Statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit
7. Bewußtes und Unterbewußtes
8. Das funktionierende Gehirn
9. Neuronale und nicht-neuronale Prädispositionen
10. Zur Notwendigkeit einer Neurophilosophie

(Siehe auch Georg Northoff zu Kommentaren von Detlef Zöllner und Detlef Zöllner antwortet auf Georg Northoff)

Um die neurophysiologische Basis der transzendentalen Einheit des Bewußtseins zu finden, unterscheidet Northoff zwischen dem unreinen und dem reinen Gehirn. ‚Unrein‘ ist das Gehirn, wenn es ‚externe‘ Stimuli bearbeitet, womit zunächstmal  unsere sinnlichen Wahrnehmungen gemeint sind: „Wir haben das Gehirn bisher wesentlich als ein unreines kennengelernt. Das war vor allem der Fall, wenn nur die Stimuli der Umwelt betrachtet werden und die Art, wie sie im Gehirn prozessiert werden.“ (2012, S.192)

Mit dem reinen Gehirn meint Northoff also ein unabhängig von äußeren Sinnesreizen funktionierendes Gehirn. In diesem Zusammenhang spricht er mal von den „intrinsischen Fluktuationen“ des Ruhezustands des Gehirns (vgl. 2012, S.192), mal von „stimulus-freie(n) Zonen“ des mittleren Rings (vgl. 2012, S.228). In diesen Zusammenhang gehören aber auch die interozeptiven Stimuli zum ‚unreinen‘ Gehirn, die für das reine Gehirn ebenfalls nur ‚extern‘ sind, so daß Northoffs reines Gehirn von jeder Art von Stimulus unberührt und „fröhlich“ (2012, S.227) vor sich hin schwingt. Ungeachtet dessen, daß ich mich hier an das bei einigen Neurowissenschaftlern beliebte in einer Nährlösung schwimmende Gehirn erinnert fühle, findet Northoff für dieses von allem losgelöste reine Gehirn geradezu zen-buddhistische Formulierungen. Mal spricht er vom Ruhezustand des Gehirns als Verbindung von „Ruhe und Selbst“ (2012, S.229), mal vom „heitere(n) Ordnen“ (2012, S.275) oder vom „entspannte(n), heitere(n) Schwingen“ (2012, S.160).

Ob wir dabei nun eher an Nährlösungen denken oder an zen-buddhistische Kontexte, letztlich geht es Northoff um zwei besondere Aspekte, die er mit dem Ruhezustand in den Mittellinienzonen des Gehirns (mittlerer Ring) verbindet: einerseits, so Northoff, weist der Ruhezustand „ein spezielles Sensorium für Selbstbezogenheit“ auf. (Vgl. 2012, S.231) Seine Aktivität ist immer dann erhöht, wenn Versuchspersonen mit Wörtern konfrontiert werden, die eine persönliche Bedeutung für sie haben. Andererseits reguliert der Ruhezustand die Aktivität des Gehirns in bezug auf die statistische Häufigkeit von Stimuli der Außenwelt. Damit erhöht sich die Bereitschaft, auf bestimmte Stimuli zu reagieren, die mit größerer Wahrscheinlichkeit in der Außenwelt auftreten als andere.

Die ‚Statistik‘ – an sich schon eine Methode, deren Abstraktionsgrad immer einen problematischen Realitätsbezug beinhaltet – wird hier in zwei Richtungen auf unterschiedliche Prozesse bezogen, deren Wirklichkeitsgehalt wiederum kaum unterschiedlicher sein könnte: Einmal geht es um die statistischen Fluktuationen des Ruhezustands selbst, die „im Bereich zwischen 0,0001 und 4 Hertz“ schwingen. (Vgl. 2012, S.160) Hier werden also Frequenzen gemessen, die selbst wieder nur abgeleitete Epiphänomene von Prozessen sind, die wir selbst überhaupt nicht in den Blick bekommen. Zum anderen geht es um Objekte der Außenwelt, die zu bestimmten Kontexten gehören, wie z.B. ein Herd in die Küche, an dessen wahrscheinliches Auftreten als Stimulus sich die niedrigfrequenten Fluktuationen des Ruhezustandes so anpassen, daß ich beim Betreten einer Küche nicht lange überlegen muß, was ich hier tun könnte, sondern fast schon automatisch auf den Herd zusteuere, um ihn einzuschalten, weil ich gerade etwas schmoren will (z.B. einen Füllbraten).

Der Herd gehört also zu den wahrscheinlichen Stimuli in einer Küche, so daß ich in dem Fall, wo ich eine Küche betrete, in der sich kein Herd befindet, schon sehr irritiert wäre und sich mein Gehirn auf einen anderen Modus umstellen müßte, auf den Gammabereich: „Stattdessen muss es sich auf die spezifischen Stimuli selbst und eine hochfrequente Aktivität im Gammabereich konzentrieren. Also koordiniert das Gehirn die niedrigfrequenten Fluktuationen jetzt nicht mehr mit dem hochfrequenten, sondern unterdrückt die Ersteren, damit sich Letztere frei und weitläufig bewegen können.“ (2012, S.163) – Es wird also im Gehirn Platz gemacht, um mit der ungewöhnlichen Situation einer Küche ohne Herd fertigzuwerden.

Die Statistik einer Umwelt, in der Küchen mit Herden ausgestattet sind und die mit der Statistik von Fluktuationen des Ruhezustands abgeglichen wird, besteht also nicht in einem selbst wiederum sehr artifiziellen Frequenzbereich, sondern in der Relation von Objekten und ihren Kontexten. Beide zusammen, die statistischen Fluktuationen und die statistischen Objekte, ergeben noch einmal eine Statistik in zweiter Potenz: nämlich die eines statistischen Abgleichs zwischen den in ihren Kontexten statistisch verteilten Objekten und dem statistischen Fluktuieren des Ruhezustands in seinem Frequenzbereich. Diesen statistischen Abgleich in n-ter Potenz bezeichnet Northoff als „statistisch basierte räumliche und zeitliche Einheit zwischen Gehirn und Umwelt“ oder schlicht „Umwelt-Gehirn-Einheit“ (vgl. 2012, S.174).

Diese statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit soll nun dem den Boden bereiten, was Kants transzendentales Bewußtsein leistet. Sie organisiert nicht nur die Einheit im Gehirn selbst – das übernimmt schon die zeitliche und räumliche neuronale Synchronisation innerhalb des Gehirns (vgl. 2012, S.92ff.) –, sondern sie „spannt ... sich wie ein Netz zwischen Gehirn und Umwelt“ (vgl. 2012, S.174) und stellt so besagte Umwelt-Gehirn-Einheit her. Zusammen mit seinem „Sensorium für Selbstbezogenheit“, als Verbindung von „Ruhe und Selbst“, ist der Ruhezustand also der bislang aussichtsreichste Kandidat für eine neuronale Grundlegung der Einheit des Bewußtseins.

Dabei handelt es sich übrigens um ein Hängematten-Bewußtsein. Die „Hängematte“, als „Netz zwischen Gehirn und Umwelt“, ist die ideale Metapher für diese Verbindung aus „Ruhe und Selbst“: „Es scheint eine Hängematte, gespannt zwischen Gehirn und Umwelt, zu geben. Ein räumlich zeitlich kontinuierliches Feld, das sich durch die statistische Gleichschaltung von Gehirn und Umwelt konstituiert. Je stärker und besser diese Hängematte, desto bequemer liegen Sie und desto stärker ist Ihr Bewusstsein dieses Genusses.“ (Vgl. 2012, S.182)

Die Hängematte steht letztlich für ein Bewußtsein, das mehr schläft als wach ist. Jedenfalls – ob schlafend oder wachend – ist es extrem relaxt. An dieser Metapher – an die sich Northoff übrigens nicht durchgängig hält: an anderer Stelle spricht er stattdessen von einem Felsen „in der Brandung der Gedankenströme des Ich“ (vgl. 2012, S.233) – wird wie in einem Brennglas deutlich, worin sich Northoffs Bewußtseinskonzept von dem eines Plessner unterscheidet. Das in der Hängematte ausgestreckte Bewußtsein hat keinerlei Bedürfnis, sich nach außen zu wenden (Expressivität). Zwischen Hängematte und Bewußtsein gibt es auch nicht den Anschein eines Streites oder Konfliktes (Körperleib). Alle diese Momente sind aber bei Plessner für das menschliche Bewußtsein konstitutiv.

Indem Northoff das eigentliche, funktionierende Gehirn als Umwelt-Gehirn-Einheit konzipiert, setzt er sich durchaus wohltuend von seinen neurophysiologischen und neurophilosophischen Kollegen ab. Dabei sehe ich in der statistischen Basis dieser Umwelt-Gehirn-Einheit auch nicht das eigentliche Problem. Ich selbst würde hier zwar lieber von der homöodynamischen Funktion des Ruhezustands sprechen und den Ruhezustand als einen Bestandteil umfassenderer Stoffwechselprozesse im menschlichen Organismus darstellen. Aber ich bin durchaus bereit, mich auf Northoffs Verständnis von ‚Statistik‘ einzulassen.

Problematisch ist für mich jedoch Northoffs Konstruktion eines reinen Gehirns. Er selbst argumentiert übrigens kurioserweise damit, daß seine neurowissenschaftlichen Kollegen das Gehirn bislang zuwenig berücksichtigt hätten! (2012, S.2012) – Wer hätte das gedacht angesichts des grassierenden Neuro-Hypes.

Damit meint Northoff aber, daß sich seine Kollegen bislang nur mit dem ‚unreinen‘ Gehirn und seinen Stimuli beschäftigt haben, während es ihm um das reine Gehirn und seine intrinsischen Fluktuationen geht. Und genau das ist auch schon das Problem! Trotz seiner für das funktionierende Gehirn wesentlichen Ergänzung durch den Umweltbezug – das eigentliche Gehirn ist nicht das Gehirn für sich selbst, sondern das Gehirn als Umwelt-Gehirn-Einheit – reduziert Northoff die Homöodynamik zwischen Mensch und Umwelt auf eben dieses Gehirn, als gäbe es kein Fleisch dazwischen. – Kein Wunder, daß das Bewußtsein in seiner Hängematte so friedlich vor sich hindämmert.

Bei der statistisch basierten räumlichen und zeitlichen Einheit zwischen Gehirn und Umwelt wird ausgeklammert, daß es ein solches statistisch basiertes dynamisches Feld auch nach innen, also zwischen dem Gehirn und dem Körper geben müßte. Denn auch von dorther wird das Gehirn als ‚unreines‘ ständig mit Stimuli versorgt. Hier wäre es hilfreich, mal bei Damasio reinzuschauen, der das Gehirn als aufmerksamen Beobachter seiner körperlichen Zustände beschreibt. (vgl. „Descartes’ Irrtum“ (5/2007), S.16 u.ö.) Man denke auch an die drei ‚Ringe‘ von Todd Feinberg, von denen der ‚intrinsische‘ Ruhezustand nur einen von drei Ringen bildet. (Vgl. 2012, S.227ff.) Northoff konzentriert sich auf den äußeren Ring, den Umweltbezug, während er den inneren Ring, den Körperbezug überhaupt nicht beachtet.

Unter dem Strich: zuviel Gehirn, zuwenig Körper! Das reine Gehirn ist kein funktionierendes Gehirn. Das hat Northoff selbst überzeugend dargelegt. Es bedarf zu seiner Homöodynamik, also zur Selbststabilisierung, der Kontrolle durch die Umwelt. (Vgl. 2012, S.207) Dazu aber bedarf es wiederum des Körpers. Denn auch dieser ist eine Verbindungsleistung an der Grenze zwischen Innen und Außen, darin nicht minder essentiell wie die statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit.

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