„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 30. Juli 2012

Georg Northoff, Das disziplinlose Gehirn – Was nun Herr Kant?. Auf den Spuren unseres Bewusstseins mit der Neurophilosophie, München 2012

1. Kritik an der Neurophilosophie
2. Beispiele und Analogien
3. Methoden
4. Phänomene und Phantome: der Homunculus
5. Gestaltwahrnehmung
6. Statistisch basierte Umwelt-Gehirn-Einheit
7. Bewußtes und Unterbewußtes
8. Das funktionierende Gehirn
9. Neuronale und nicht-neuronale Prädispositionen
10. Zur Notwendigkeit einer Neurophilosophie

(Siehe auch Georg Northoff zu Kommentaren von Detlef Zöllner und Detlef Zöllner antwortet auf Georg Northoff)

Immer wieder kommt Northoff in seinem Buch auf das Disziplinproblem zu sprechen, das ja auch im Titel des Buches angedeutet wird. Der Begriff der Disziplin bezieht sich vor allem auf Kants klare Trennung zwischen den Naturwissenschaften und der Philosophie. (Vgl. 2012, S.42, 57, 93 u.ö.) Das hängt unmittelbar mit der transzendentalen Methode selbst zusammen, bei der es ja nicht um empirische Phänomene geht, wie in der Naturwissenschaft, sondern um Bewußtseinsphänomene: „Kant ist sich klar darüber: Die Einheit des Ich und des Bewusstseins hätte er niemals durch empirische Beobachtung erkannt. Die Naturwissenschaften als Domäne der empirischen Beobachtung können also weder das Ich noch das Bewusstsein erfassen. Sie bleiben stumm. Und müssen stumm bleiben, denn sie verwenden schlichtweg die falsche Methode.“ (2012, S.57)

Nun ist es tatsächlich eben nicht einfach so, daß die Naturwissenschaften lediglich die falsche Methode verwenden und sie nur auf die richtige Methode umsteigen müßten, um jetzt sich auch als Naturwissenschaften dem Bewußtsein zuwenden zu können. Vielmehr ist das Bewußtsein schlicht und einfach nicht ihr Gegenstand! Es ist der Gegenstand der Philosophie, während sich die Naturwissenschaften mit empirischen Phänomenen befassen; und das ist der Grund, warum sich ihre Methoden so sehr unterscheiden.

Aber Northoff ist mit dieser strikten Trennung der Disziplinen nicht zufrieden. Immer wieder läßt er den Studenten dagegen an argumentieren und dafür eintreten, daß die neurophysiologischen Forschungsergebnisse für die Philosophie unmittelbar relevant sind. Und Northoff ergreift selbst Partei für den Studenten, der sich vergeblich an dem starrsinnigen Kant abarbeitet. So verweist er z.B. auf die wissenschaftliche community: „Die Mehrheit stimmt der strikten Trennung von Philosophie und Naturwissenschaften nicht zu. Die meisten Philosophen, wie beispielsweise Daniel Denett, John Searle, Patricia Churchland und viele andere halten solch einen Dualismus von Neurowissenschaften und Philosophie für überholt und veraltet.“ (2012, S.120) – Aber Mehrheiten sind nunmal kein objektives Kriterium: sonst könnte man ja über alle Forschungsfragen abstimmen lassen, und auf das Forschen könnte man dann gleich ganz verzichten; eine Ansicht, die einigen Vertretern der Gruppenintelligenz tatsächlich nicht ganz fremd sein dürfte.

Wie groß Northoffs Wunsch ist, in der Neurophysiologie selbst einen genuin philosophischen Gegenstandsbereich festzumachen, zeigt seine Konstruktion eines reinen Gehirns. Die „Kritik des reinen Gehirns“, die den ganzen dritten Teil seines Buches umfaßt (2012, S.186-283), ist nicht umsonst an Kants „Kritik der reinen Vernunft“ angelehnt: „Einer der ganz großen Gedanken von Kant ist, dass der Verstand selbst einen Input zum Bewusstsein liefert. Und dass Letzteres als Interaktion zwischen Verstand und Sinne betrachtet werden muss, wenn beide, Verstand und Sinne, einen Beitrag oder Input zum Gelingen des Bewusstseins beisteuern. Übertragen auf den heutigen Kontext heißt das, dass auch das Gehirn selbst einen Input liefert. Einen Beitrag, der vom Gehirn selbst stammt, der nicht auf die Sinne, die sensorischen Stimuli von Körper und Umwelt zurückgeführt werden kann. ... Ich sage, dass wir Bewusstsein nur verstehen können, wenn wir das Gehirn selbst betrachten. Ganz unabhängig von den sensorischen Stimuli, die es in seinen sensorischen und kognitiven Funktionen prozessiert. Nur Gehirn. Das reine Gehirn.“ (2012, S.286)

Dieser Versuch, das Gehirn auf eine Ebene mit der Vernunft zu bringen, muß aber schon im Ansatz scheitern. Denn auch das reine Gehirn von Northoff ist selbstverständlich immer noch ein empirischer Gegenstand. Der von Northoff in diesem Zusammenhang hervorgehobene Ruhezustand des Gehirns bildet ein – wie umwegig auch immer – meßbares Phänomen in einer wiederum eindeutig definierbaren Region dieses Gehirns. ‚Rein‘ ist es nur, weil es frei von Stimuli ist, von inneren wie äußeren Stimuli. Kants reine Vernunft ist aber nicht nur deshalb ‚rein‘, weil Kant sie von allen äußeren und inneren Stimuli isoliert, um ihrer transzendentalen Funktionsweise auf die Spur zu kommen. Sie gehört auch selbst nicht zu den empirischen Phänomenen, zu deren Erkenntnis sie die Kategorien zur Verfügung stellt. Kurz: an Kants reiner Vernunft können wir kein EEG anlegen.

Wenn also auch das reine Gehirn ein empirisches Phänomen darstellt, dann gilt auch Northoffs Argument – bzw. das Argument des Studenten – nicht, daß das Bedürfnis des Gehirns, sich mit allem zu verbinden, sogar mit der Umwelt, zwingend zu einer Verbindung von Neurophysiologie und Philosophie zur Neuro-Philosophie führen müsse: „Eben gerade weil Gehirn und Umwelt so eng in einer statistischen Einheit miteinander verknüpft sind, kommen Sie nicht umhin, auch Philosophie und Neurowissenschaft miteinander zu verbinden.“ (2012, S.282)

Was ist mit dem freien Denken, für das sich Northoff an verschiedenen Stellen seines Buches einsetzt? Besteht nicht diese Freiheit des Denkens auch gerade darin, daß ich mich nicht meinen Gehirnfunktionen unterordnen muß? Wenn also mein Gehirn so disziplinlos ist – wohl an: ich selbst denke lieber diszipliniert, und beweise dann gerade darin meine Freiheit vom Gehirn!

Dennoch bin ich nicht gegen Philosophie in der Neurophysiologie! Ich bin so wenig gegen Philosophie in der Neurophysiologie, wie ich gegen Philosophie in der Pädagogik bin oder gegen Philosophie in der Psychologie. Jede Disziplin hat ihre eigene Begründungsproblematik, die darin besteht, zu klären, was in der jeweiligen Disziplin eigentlich getan bzw. geforscht wird. So klärt z.B. die Allgemeine Pädagogik – oder wie es neuerdings heißt: die Allgemeine Erziehungswissenschaft –, was ‚Erziehung‘ eigentlich ist. Und die Allgemeine Psychologie klärt, was man unter ‚Psyche‘ verstehen könnte. Das sind genuin philosophische Fragen, die mit dem wiederum eigenen Gegenstand der Philosophie nicht in Konkurrenz treten und diesen auch nicht ersetzen und verdrängen können.

Ich denke deshalb nicht, daß wir eine „kritische Neurophilosophie“ brauchen, wie sie Northoff fordert (vgl. 2012, S.296), denn diese wird in dem Moment, wo sie im Vergleich zwischen reinem Gehirn und reiner Vernunft systematisch nach semantischen Entsprechungen zwischen neurophysiologischen und philosophischen Begriffen sucht (vgl. 2012, S.274f.), selbst schon wieder naiv. Wir brauchen vielmehr im Rahmen der Biologie so etwas wie eine Allgemeine Physiologie, die nun allerdings mit philosophischen Mitteln den Gegenstandsbereich der Neurophysiologie klärt und seine Grenzen absteckt; ganz diszipliniert eben.

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