„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 12. Juli 2012

Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989

  1. Zurück in die Höhlen?
  2. Aufgeklärter Nihilismus
  3. Vom ‚Wesen‘
  4. Phylogenese und Anthropologie
  5. Höhlen und Medien
  6. Verstehen von Höhlen
  7. Zur Legitimität der Lebenswelt
  8. Sinnesorgane und ihre Evidenz
  9. Kinästhetik und Intersubjektivität
  10. Pädagogik und Macht
  11. Methode und Selber denken
  12. Narrativität und Montageprinzip
Blumenberg verweist auf die Notwendigkeit einer „Verschiebung des Schwerpunkts von der Metaphysik oder Ontologie zur Anthropologie“ (vgl. Blumenberg 1989, S.811) und meint damit, daß in der Philosophie bislang zu viel vom Sein und der Wahrheit die Rede gewesen ist und zu wenig vom Menschen. Wie aber ist vom Menschen zu reden? Blumenberg bezieht den Menschen auf die Höhlen, von denen er nach seiner Darstellung seinen Ausgang genommen hat und in die er möglicherweise wieder zurückkehren wird müssen, wenn die Erdoberfläche für Menschen unbewohnbar geworden sein sollte. Blumenbergs Methode, über den Menschen zu sprechen, besteht also darin, seine Anthropogenese zu thematisieren, und diese Anthropogenese beinhaltet seine Phylogenese und Ontogenese auf der Schwelle von Höhlenausgängen, vom Wald in die Savanne, von der Savanne in die Höhle, von der Höhle in die Stadt, – und nicht zuletzt aus dem Mutterschoß ins Leben und von dort gleich wieder in den Schutz der Kultur (vgl. Blumenberg 1989, S.404).

Die Höhlenlastigkeit dieser Anthropologie thematisiert vor allem die Lebensweltlichkeit des menschlichen Bewußtseins, also sein Befangensein in einer Innenwelt, zu der es kein Außen gibt, oder zumindestens einer Innenwelt, die ein problematisches Verhältnis zur Außenwelt hat. Die Metapher des Höhlenausgangs bezieht sich vor allem auf diese Übergangsproblematik von einem Bewußtseinszustand zu einem anderen, dem eine andere Sicht der Welt – und damit eine andere Welt – zugänglich wird. Wir haben es also mit einer Schachtelwelt zu tun, die aus lauter Wänden besteht, hinter denen andere Räume mit weiteren Wänden vermutet werden können. Blumenberg spricht auch – mit Bezug auf Husserl – von einem „Zwiebelschalenuniversum“. (Vgl. Blumenberg 1989, S.812) Darauf werde ich in einem Post zur Rekursivität (Verstehen von Höhlen) noch gesondert eingehen.

Für jetzt geht es mir vor allem darum, daß ein anderer Aspekt der Husserlschen Phänomenologie hier zu kurz kommt: gemeint ist der Begriff des Horizonts. Dieser Begriff beinhaltet zwar eine eigene Innen-Außen-Differenz, die wiederum mit der Innen-Außen-Differenz der Höhle korrespondiert. Aber zunächst einmal – vor aller Innen-Außen-Differenzierung – beinhaltet der Horizontbegriff einen Ausblick ins Offene, der der Höhlenmetapher fehlt. Der Horizontbegriff ist mit einer Bewegungsform, mit einer Kinästhetik verbunden, wo das platonische Höhlengleichnis nur eine Fesselung kennt: das Gehen, das Ausschreiten von Horizonten in immer weitere, offene (und nicht geschlossene) Räume hinaus. Hätte Blumenberg seine Anthropologie am Horizontbegriff festgemacht, und nicht am Höhlengleichnis, wäre er zu einer ganz anderen Anthropogenese gekommen.

Blumenberg selbst gesteht das ein, wenn er Höhle und Savanne gegeneinander stellt und den Höhlenmenschen als Konstrukt bezeichnet: „Schon die Höhlen der menschheitlichen Frühgeschichte waren nicht, was sie als Fundorte so scheinen lassen, die Urstätten der Anthropogenese. Eher die Notunterkünfte einer aus ihrem genuinen Biotop herausgedrängten, auf der Savanne von Sichtbarkeitssorge getriebenen und der Schlaf- und Nachzuchtzufluchten extrem bedürftigen Gattung, die ‚auf dem Sprung‘ stand, auch ihre Unterkünfte sich aufzurichten, statt am Vorgefundenen sich zu begnügen. ... Ohnehin ist der ‚Höhlenmensch‘ ein Konstrukt, zumal wenn man damit die Assoziation des ‚ständigen Wohnsitzes‘ verbindet. Sammler und Jäger, die mit Herden zogen, bevor sie diese zu den ihren machten und damit die Weidewanderung zur Lebensform, konnten Höhlen nur im Vorübergehen benutzen.“ (Blumenberg 1989, S.795)

Gegenbilder zu einer Höhlenmenschheit finden wir z.B. in der Antwort des Zen-Patriarchen Bodhidharma auf die Frage: „Was ist die Essenz des Buddhismus?“ – Seine Antwort: „Offene Weite, nichts von heilig.“

Diese Antwort hat alle Höhlen hinter sich gelassen. Andere Autoren fallen mir ein, wie Bruce Chatwin und Gary Snyder. Für Bruce Chatwin war das Gehen und Wandern, diese dem von Blumenberg so gern zitierten aufrechten Gang entsprechende, ursprünglichste Fortbewegungsform des Menschen, ‚heilig‘. Blumenberg selbst scheint von Fortbewegung generell nicht so viel gehalten zu haben; fällt ihm doch bei seiner Kritik an der Automobilität nichts anderes ein, als mit der Bezeichnung des Autos als „Fortbewegungsmittel“ (Blumenberg 1989, S.801) dieses mit dem Gehen auf eine Stufe zu stellen. Wenn Chatwin hingegen das Gehen als heilig bewertete, ging es ihm dabei nicht darum, auf diese Weise irgendwo anzukommen. Vielmehr beinhaltete das Gehen selbst schon eine Sinnerfüllung, und zwar eine so nachhaltige, daß er sie auch als Therapie empfahl. Im Gehen heilen wir körperliche und seelische Erkrankungen. So wären es bei den Pilgerfahrten zu heiligen Stätten nicht die heiligen Stätten selbst gewesen, die die Pilger von ihren Leiden befreiten, sondern auf dem Weg dorthin das Gehen.

Bei Gary Snyder finde ich eine an Bodhidharmas Worte von der offenen, unheiligen Weite erinnernde, aber auch an ihre Korrumpierbarkeit gemahnende Hymne an die unzivilisierte, nicht von Mauern und Zäunen umstellte Wildnis: „‚Wild und frei‘ – Worte aus dem amerikanischen Traum, die ihre Bilder einbüßen: ein langmähniger Mustang galoppiert durch das weite Grasland; hoch in der Luft in einer Formation, die ein ‚V‘ bildet, rufen kanadische Wildgänse; das keckernde Grauhörnchen, das in der Eiche über unseren Köpfen von Ast zu Ast springt. Und der Satz klingt auch wie eine Harley-Davidson-Reklame. Die beiden Worte, seien sie auch noch so fundamental politisch und gefühlsgetreu, sind zum Konsumententand geworden. Ich möchte die Bedeutung von wild herausfinden, inwiefern es mit frei zusammenhängt, und was man mit diesen Wortbedeutungen anfangen will. Um wirklich frei zu sein, muss man die grundlegenden Gegebenheiten hinnehmen, wie sie sind – schmerzhaft, unbeständig, offen, unvollkommen –, und dann dankbar sein für die Unbeständigkeit und Freiheit, die sie uns erlauben. In einem fixierten, feststehenden Universum würde Freiheit nicht existieren. Mit dieser Freiheit hingegen verbessern wir den Lagerplatz, lehren die Kinder, vertreiben die Tyrannen. Die Welt ist Natur, und auf lange Sicht ist sie unweigerlich wild, denn das Wilde ist auch eine Ordnung der Unbeständigkeit.“ („Lektionen der Wildnis“ (2011), S.9f.)

Was beim Bodhidharma, bei Gary Snyder und Bruce Chatwin anklingt, die unverstellte Perspektive auf die offene Welt, empfindet Blumenberg eher als Belastung, wenn er von der Notwendigkeit einer „Entlastung vom ‚Realismus‘ der freien Landschaft“ spricht (vgl. Blumenberg 1989, S.25), einer Landschaft, aus deren Weite dem Menschen nur Gefahr und Tod drohen. Keine Anthropologien sind gegensätzlicher als die der offenen, unheiligen Weite und die der Höhlen.

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