„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 13. Juli 2012

Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt a.M. 1989

  1. Zurück in die Höhlen?
  2. Aufgeklärter Nihilismus
  3. Vom ‚Wesen‘
  4. Phylogenese und Anthropologie
  5. Höhlen und Medien
  6. Verstehen von Höhlen
  7. Zur Legitimität der Lebenswelt
  8. Sinnesorgane und ihre Evidenz
  9. Kinästhetik und Intersubjektivität
  10. Pädagogik und Macht
  11. Methode und Selber denken
  12. Narrativität und Montageprinzip
In Platons Höhlengleichnis wird einer der Höhlenbewohner von seinen Fesseln befreit und gegen seinen Willen auf einem schmerzvollen Weg durch die Höhle ans Tageslicht gezerrt, wo er sich erst allmählich an das grelle Sonnenlicht gewöhnen kann. Schließlich erkennt der Befreite, daß es eine Welt außerhalb der Höhle gibt, in der er bislang gelebt hat, und erst jetzt kann er die Befreiung als Wohltat verstehen und nicht als eine willkürliche Tortur. Als er in die Höhle zurückkehrt, um auch seine ehemaligen Mitgefangenen zu befreien, erfährt er an ihnen dieselbe Reaktion, die er selbst bei der gewaltsamen Entfesselung gezeigt hatte. Seine ehemaligen Mitgefangenen lehnen empört die Befreiung ab und drohen sogar, ihn umzubringen, so daß er sie vorsichtshalber gefesselt bleiben läßt. Unschwer ist an dieser Situation zu erkennen, daß Platon hier das Schicksal des Sokrates beschreibt, der ja tatsächlich von seinen Athener Mitbürgern zum Tode verurteilt worden war.

Blumenberg stellt nun eine provokante Frage: „Wir wüßten gern, welche Berechtigung sich der Unbekannte zugeschrieben hätte, der diesen ganzen Vorgang (der Befreiung des Höhlenbewohners – DZ) in Bewegung setzt. Ist es nicht immer eine Ungeheuerlichkeit, Gewalt gegen die Zufriedenen anzuwenden, um sie zu einem Glück zu zwingen, das sie nicht kennen und das vielleicht nicht das ihre sein wird? Uns Gegenwärtigen will das harmlose Vergnügen angesichts der Schatten, die wir in der technischen Frühzeit der Kinematographie als ‚Lichtspiele‘ bezeichnet hätten, nicht leicht ersetzbar erscheinen, erst recht nicht, wenn wir der schon eingetretenen oder erst drohenden Televisionssüchtigkeit gedenken. Erst wenn Anzeichen des Überdrusses oder der Langeweile erkennbar wären, würden wir die Menschenfreundlichkeit einer ablenkenden Freizeithilfe zu verstehen beginnen.“ (Blumenberg 1989. S.116)

Worauf Blumenberg hinauswill, ist nicht nur das Fehlen jeglichen Befreiungswunsches bei denen, die da befreit werden sollen. Allenfalls fällt ihm für unsere derzeitige mit Unterhaltungsmedien überversorgte Höhlenwelt noch der Überdruß an diesen ein, der als Motiv dienen könnte, auch mal selbst was erleben zu wollen, anstatt sich nur mit Erlebnissen aus zweiter Hand versorgen zu lassen. Aber eigentlich – und das ist Blumenbergs wichtigstes Argument gegen jeglichen Befreiungszwang – haben die Höhlenbewohner sogar recht gegen die Zumutung des Höhlenrückkehrers, alles das aufgeben zu müssen, was ihnen bislang Sicherheit und Orientierung geboten hat: „Das Leben ist zu kurz, um die Vollendung des moralischen Subjekts unter einem Anspruch zuzulassen, der rücksichtslos das Maß dieser Zeit überfordert, die Gleichgültigkeit der physischen Bedingungen gegenüber der Glückswürdigkeit des Subjekts nicht erträgt.“ (Blumenberg 1989, S.176)

Aufgrund seines endliches Lebens, wie es dem Menschen verhängt ist, darf dieser nur kraft eigener Einsicht zu riskanten Veränderungen seines Lebenslaufes veranlaßt werden. Jeder Zwang gegen die eigene Einsichtsfähigkeit, der erst nachträglich verstanden werden kann, wird illegitim: „Der Zwang wird nachträglich gerechtfertigt dadurch, daß der Befreite in die Höhle zurückkehrt, um einer Pflicht zu genügen, die er erst durch Zwang erkannt hat. Eine gefährliche Grundvorstellung, weil sie jeden autorisiert, mit der Vertröstung auf künftige Einsicht und künftiges Glück Zwang auszuüben. Oder anders: das, was ist, mit dem Blick auf das, was sein soll, der wütenden Verachtung auszuliefern, die im Grade der Unbestimmtheit von Erwartungen entsteht.“ (Blumenberg 1989, S.751)

Platons Befreiungszwang hätte nur dann eine gewisse Legitimität, wenn die Ideenschau tatsächlich innerhalb der Lebenszeit eines Individuums zu bewältigen wäre. So wird es auch in seinem Höhlengleichnis dargestellt: wenn sich die Augen des aus der Dunkelheit kommenden Höhlenbewohners erst an das Sonnenlicht gewöhnt haben, überschaut er die ganze Wirklichkeit der vor ihm liegenden Landschaft mit einem Blick. Das ist eine Erkenntnis, auf die man zwar geistig vorbereitet sein muß, insofern ihr ein mühseliger Weg durch die Höhle zum Ausgang vorausging. Aber wenn wir dann die Augen aufmachen, erfüllt sie uns mit all ihrer ganzen blendenden Fülle, ohne daß es darüber hinaus noch etwas zu erkennen gäbe: „Das liegt im Wesen der momentanen Evidenz als der Bestimmung des antiken Wirklichkeitsbegriffs.“ (Blumenberg 1989, S.606)

Die Neuzeit und ihre Aufklärung konfrontiert aber die zu befreienden Höhlenbewohner mit einer Wahrheit ganz anderer Art. Diese Wahrheit ist verzeitlicht: sie verändert sich nicht nur mit der Zeit, sondern sie erstreckt sich auch in die Zeit hinein, insofern sie immer nur stückweise erkannt werden kann, ohne daß je ein Individuum die Chance hätte, sie mit einem Blick zu erfassen. Platons „Maß der Wirklichkeit“ war das „Unvergängliche“. Für uns heutige ist es ihre „Flüchtigkeit“. (Vgl. Blumenberg 1989, S.522f.)

Hätte Platon noch auf Blumenbergs Frage nach der Berechtigung jenes Unbekannten, den Höhlenbewohner mit Gewalt zu befreien, antworten können, daß die Schattenhaftigkeit seiner Wahrnehmungen seiner Seele Schaden zufügt, sie gewissermaßen selber schattenhaft werden läßt, – daß also eine verzerrte Realitätswahrnehmung den Höhlenbewohner seelisch erkranken läßt (vgl. Blumenberg 1989, S.120f., 134f.), so geht dieses Argument in dem Moment fehl, wo die Schatten gar keine verzerrten Abbilder der Wirklichkeit sind, sondern Symbole (vgl. Blumenberg 1989, S.163ff.; vgl. auch meinen Post vom 15.06.2012). Als solche organisieren sie nämlich das Verhalten der Höhlenbewohner; sie bestimmen ihren Tagesablauf, – und sie geben ihrem Leben einen Sinn.

Einen Komparativ des Mehr oder Weniger an der Wirklichkeit dran, der die Schatten zu bloßen Abbildern zweiter Ordnung degradiert, gibt es auf der Ebene der Symbole nicht. Man kann sicher ein Symbol durch das andere ersetzen; aber es ist nicht echter oder wahrer als das vorherige. Allenfalls kann man einen Unterschied zwischen richtig und falsch machen. Und hier könnte man nun wieder nach Letztbegründungen für das Richtige bzw. Gute schlechthin suchen, also wieder einen Komparativ einführen. Allerdings haben es diese Letztbegründungen an sich, daß sie das menschliche Leben auf eine Sinnbestimmung ausrichten, für das es – wie schon erwähnt – schlicht zu kurz ist.

Mit Leibniz bringt Blumenberg deshalb die Situation des modernen, postplatonischen Höhlenbewohners auf folgende Formel: „Nur in dem, was erscheint und wie es erscheint, steckt das Potential dazu, eine Welt zu werden, die so wirklich ist, wie sie ist und sein kann.“ (Blumenberg 1989, S.486) – Darin besteht die Legitimität der Lebenswelt. Sie verhindert nicht einfach nur, daß wir uns der Mechanismen bewußt werden, die hinter unserem Rücken unser Denken bestimmen. Sie bildet vielmehr ein wesentliches Moment unseres Denkens, auf das wir nur um den Preis des Absturzes ins Bodenlose, Abgründige verzichten können. Aus ihr befreien uns weder Langeweile noch Überdruß, sondern Krisen und Störungen anderer Art, auf die ich in diesem Blog schon häufig zu sprechen gekommen bin.

Wenn es gegenüber der Lebenswelt eine Freiheit gibt, dann ist es die einer zweiten Naivität, in der wir im Wissen um unsere lebensweltliche Daseinsverfassung diese zum Mittel unseres Handelns machen, als Bildung, als Haltung und als kritische Begleitung unseres Sinnstrebens. Und nicht zuletzt als Schonung unserer selbst und unserer Erde.

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