„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 18. August 2012

Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2011

1. Begriffe und Hypothesen
2. Methode
3. Selbst kommt hinzu
4. Körper und Gehirn
5. Bewußtsein und Rekursivität
6. Erziehung des Unterbewußten
7. Biologischer Wert und Kultur
8. Die Grenze des Körperleibs

Vor allem in einer Hinsicht versteht Damasio die soziokulturelle Homöostase als bruchlose Fortsetzung der grundlegenden Homöostase: wie diese ist sie ein „Verwalter des biologischen Wertes“. (Vgl. Damasio 2011, S.38) Den biologischen Wert macht Damasio an „geordnete(n), mit einem gesunden Leben vereinbare(n) chemische(n) Verhältnisse(n) in seinem Körper für jedes Lebewesen zu jedem Zeitpunkt“ fest (vgl. Damasio 2011, S.57), – was übrigens bedeuten würde, daß die Pubertät keinen ‚Wert‘ hätte.

Auf der Ebene von Körperzellen und Organismen besteht der biologische Wert im Überleben und auf der Ebene der Gattung in der Fortpflanzung: „Grob gesagt, besteht der entscheidende Wert für ganze Organismen darin, im gesunden Zustand bis zu einem Alter zu überleben, das den Fortpflanzungserfolg möglich macht. Die natürliche Selektion hat den Homöostaseapparat so perfektioniert, dass er genau dies erlaubt. Demnach ist der physiologische Zustand der Gewebe eines Lebewesens innerhalb eines optimalen Homöostasebereichs letztlich der Ursprung von biologischem Wert und Bewertungen.“ (Damasio 2011, S.59)

Dieser Wertbezug setzt sich bis in unser tägliches Lebens hinein fort: „Objekte und Prozesse, mit denen wir uns in unserem täglichen Leben auseinandersetzen, erhalten ihren zugeordneten Wert durch Bezugnahme auf dieses Urbild des durch natürliche Selektion entstandenen Wertes eines Organismus.“ (Damasio 2011, S.60)

So ist es letztlich kein Wunder, daß auch die kulturellen Einrichtungen, die unseren Lebensalltag organisieren, vor allem an diesem biologischen Wert orientiert sind: „Der bewusste Geist des Menschen, der mit einem so komplexen Selbst ausgerüstet ist und darüber hinaus noch über so großartige Fähigkeiten wie Gedächtnis, Vernunft und Sprache verfügt, bringt die Instrumente der Kultur hervor und eröffnet auf den Ebenen von Gesellschaft und Kultur den Weg zu neuen Mitteln der Homöostase. In einem außergewöhnlichen Sprung erfährt die Homöostase eine Erweiterung in die soziokulturelle Sphäre. Beispiele für diese neuen Mittel der Regulation sind Justizsysteme, wirtschaftliche und politische Organisationen, Künste, Medizin und Technologie.“ (Damasio 2011, S.38)

Auch wenn Damasio hier von einem „außergewöhnlichen Sprung“ von der grundlegenden zur soziokulturellen Homöostase spricht, sollte das nicht darüber hinwegtäuschen, daß er in Wirklichkeit von einem bruchlosen „Funktionskontinuum“ zwischen „Geist“ und „Selbst“ und damit auch zwischen biologischem Wert und kulturellen Einrichtungen ausgeht. (Vgl. Damasio 2011, S.177f.) ‚Außergewöhnlich‘ ist hier nur die Reichweite des Sprungs, nicht aber der Sprung selbst, etwa über den Bruch zwischen Biologie und Kultur hinweg: „Biologie und Kultur stehen in einer engen Wechselbeziehung. Soziokulturelle Homöostase wird durch die Tätigkeit der vielen Geister geformt, deren zugehörige Gehirne anfangs auf bestimmte Weise und unter Leitung ganz bestimmter Genome aufgebaut wurden. Faszinierenderweise deutet immer mehr darauf hin, dass kulturelle Entwicklungen zu tiefgreifenden Wandlungen im Genom des Menschen führen können.“ (Damasio 2011, S.308)

Ironischerweise bringt Damasio selbst ein passendes Beispiel für die Begrenztheit des biologischen Wertes, der sich eben doch nicht so einfach auf soziale und kulturelle Kontexte übertragen läßt. Damasio beschreibt eine neurologische Störung des präfontalen Cortex, die dazu führt, daß die davon Betroffenen bei der Beurteilung bestimmter hypothetischer ethischer Dilemmata kognitive Defizite aufweisen: „Manche anderen Patienten, bei denen sich der Schaden des präfrontalen Cortex auf den ventromedialen Bereich konzentriert, beurteilen hypothetische Dilemmata auf sehr praktische, pragmatische Weise, die wenig bis gar nichts mit den besseren Seiten der menschlichen Seele zu tun hat. Konfrontiert man solche Patienten mit dem hypothetischen Fall eines Mordversuchs, der trotz der Mordabsicht nicht zum Tod des Betroffenen geführt hat, schätzen sie die Situation nicht wesentlich anders ein, als die einer zufälligen, unabsichtlichen Tötung. ... Solche Personen verstehen Motive, Absichten und Folgen auf – gelinde gesagt – unkonventionelle Weise, und das obwohl sie in ihrem Alltagsleben in der Regel keiner Fliege was zu Leide tun.“ (Damasio 2011, S.298)

Damasio bemerkt an dieser Stelle überhaupt nicht, daß sich die beschriebenen Personen genau entsprechend dem biologischen Wert verhalten. Dieser Wert stellt einen Mittel-Zweck-Zusammenhang dar, der die Bestimmung dessen, was im jeweiligen Fall Mittel und was Zweck ist, in das Belieben subjektiver Willkür stellt. (Vgl. meinen Post vom 07.07.2011) Wäre der Patient selbst Teil der beschriebenen hypothetischen Situation, hätte er keine Schwierigkeiten. Wäre er das potentielle ‚Opfer‘, würde er den Täter verurteilen. Wäre er der potentielle Täter, würde er das Mißlingen seiner Mordabsicht bedauern. Denn der biologische Wert wäre für das Opfer selbstverständlich nicht derselbe wie der biologische Wert für den Täter! – Kein Wunder also, daß diese Patienten „auf – gelinde gesagt – unkonventionelle Weise“ urteilen. Ihnen steht ja auch nur der biologische Maßstab zur Verfügung!

Aus Plessners Perspektive stünden wir mit dieser Dilemmageschichte genau am Anfang eines kulturellen Entwicklungsprozesses. Kultur ist bei ihm nämlich nicht etwa die Fortsetzung der grundlegenden Homöostase mit anderen Mitteln, sondern Ausdruck einer „konstitutiven Gleichgewichtslosigkeit“ des Menschen (vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.316; vgl. auch meinen Post vom 26.10.2010), von der her sich natürlich auch wieder die Notwendigkeit entsprechender homöodynamischer Maßnahmen ergibt. Aber in dieser konstitutiven Gleichgewichtslosigkeit ist der biologische Wert nicht wie bei Damasio einfach in unseren Körperzellen und in unserem Genom vorgegeben, sondern das Gleichgewicht muß in Form von kulturellen Werten allererst geschaffen werden.

Deshalb wäre z.B. das Scheitern der Mordabsicht in der Dilemmageschichte bei Plessner ein guter Anlaß für den potentiellen Täter, über seine wirklichen Bedürfnisse nachzudenken. Denn die im Scheitern der Mordabsichten zum Ausdruck kommende Brechung des Intentionsstrahls (vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.340) könnte (wohlgemerkt: könnte, nicht müßte) bei neurologisch nicht gestörten Menschen zur Selbstreflexion führen und damit das Tor zu einer umfassenden Neubestimmung der eigenen Menschlichkeit aufstoßen, die auch die Bedürfnisse der anderen Menschen miteinbezieht.

Damasio würde hier sicher dagegenhalten, daß er genau das mit soziokultureller Homöostase gemeint hat: eben die Erweiterung der individuell ausgerichteten grundlegenden Homöostase auf den sozialen, den anderen Menschen miteinbeziehenden Zusammenhang. Und er hätte recht, wenn wir damit bei der Zweck-Mittel-Relation stehen bleiben würden. Aber Plessner zufolge bricht in der Brechung des Intentionsstrahls auch der Mittel-Zweck-Mechanismus auseinander. Und anstatt diesen Bruch nun mit kulturellen Mitteln zu ‚kitten‘ bzw. zu reparieren, beharrt Plessner darauf, daß wir uns jetzt auf einer Ebene der Selbstbestimmung befinden, die genau durch diesen Bruch definiert ist. Von nun an gibt es keine Authentizität mehr, sondern nur noch vermittelte Unmittelbarkeit. Jede Bedeutungsstiftung, jede Sinnbestimmung erfolgt auf der Basis einer Differenz und nicht auf der Basis einer Verschmelzung.

Bezogen auf die Dilemmageschichte heißt das, daß die Einbeziehung des anderen Menschen in die eigene Selbstbestimmung die Offenheit seiner Sinnbestimmung berücksichtigen muß. Der andere Mensch ist nicht darauf festgelegt, einen funktionalen Bestandteil meines biologischen Wertes zu bilden. Wenn ich so weit in meiner Selbstbestimmung gekommen bin, daß ich meine Verantwortung für die Offenheit der Sinnbestimmung des anderen Menschen erkenne, ist die Erweiterung des Bewußtseins bis zur höchsten Stufe vorgedrungen: zum Gewissen.

Die Grenzen des biologischen Wertes zeigen sich bei Damasio auch dort, wo er zu Ansätzen einer Kulturkritik vorstößt, dabei aber letztlich in der Affirmation des american way of life stecken bleibt: „In der Debatte über Nutzen und Gefahren kultureller Trends oder über Entwicklungen wie die digitale Revolution ist es von Nutzen, wenn wir mehr darüber wissen, wie unser vielseitiges Gehirn das Bewusstsein schafft. Wird beispielsweise die von der digitalen Revolution ausgehende fortschreitende Globalisierung des menschlichen Bewusstseins die Ziele und Prinzipien der grundlegenden Homöostase ebenso verfolgen, wie es die derzeitige soziokulturelle Homöostase tut? Oder wird sie sich von ihrer evolutionären Nabelschnur losreißen, sei dies nun gut oder schlecht?()“ (Damasio 2011, S.40f.)

Zunächst sprechen Damasios Fragen einen brisanten Themenbereich an, dem ja auch dieser Blog gewidmet ist. Es geht um Fragen der menschlichen Zukunft, insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen technologischer und wirtschaftlicher Entwicklungen auf unsere Menschlichkeit. Ein aktuelles Beispiel für eine entsprechende kulturkritische Wortmeldung von Seiten der Gehirnforschung ist übrigens Manfred Spitzers gerade erschienenes Buch zur „Digitalen Demenz“ (2012). In Damasios Zitat stolpert man dann aber über eine seltsame Formulierung: er fragt, ob die zunehmende Digitalisierung und Globalisierung „die Ziele und Prinzipien der grundlegenden Homöostase ebenso verfolgen (wird), wie es die derzeitige soziokulturelle Homöostase tut“!

Da ist man dann doch etwas überrascht. Welche „derzeitige soziokulturelle Homöostase“, die die „Ziele und Prinzipien der grundlegenden Homöostase“ verfolgt, meint Damasio genau? Müßte man nicht im hier angesprochenen Zusammenhang des biologischen Wertes, also des Überlebens, an eine Lebensform denken, die sich an den Prinzipien der Nachhaltigkeit orientiert? Damasio lebt und arbeitet in den USA. Da er nichts anderes erwähnt, liegt es nahe, daß er bei der derzeitigen soziokulturellen Homöostase an die us-amerikanische Lebensform denkt, also an den american way of life. Aber diese kann doch wohl kaum jemand ernsthaft als an biologischen Werten orientiert beschreiben? – Es sei denn in dem Sinne, wie wir es hier diskutiert haben, nämlich im Sinne der subjektiven Beliebigkeit von Mittel-Zweck-Bestimmungen; nach dem Motto: nach mir die Sintflut.

So paßt es auch, daß Damasio die „dramatische Verringerung der Gewaltanwendung in Verbindung mit zunehmender Toleranz“ auf den Fortschritt der soziokulturellen Homöostase zurückführt. (Vgl. (Damasio 2011, S.38) Es wundert mich daran vor allem, wie Wissenschaftler – etwa Steven Pinker in seinem Buch zur „Gewalt – eine neue Geschichte der Menschheit“ (2011) – ein so komplexes Phänomen auf eine statistische, skalierbare Größe bringen können, die dann Aussagen ermöglicht wie die von Damasio zur „dramatischen Verringerung der Gewaltanwendung“. Ich hätte da enorme Skrupel, denn allererst stellt sich ja wohl das Problem, was denn Gewalt genau genommen eigentlich ist. Und ‚genau‘ müßte man das schon nehmen, um zu solchen statistischen Aussagen kommen zu können. Und gerade der Rückblick auf das 20. Jahrhundert liefert eher Stoff für Alpträume als für so beruhigende Feststellungen.

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