„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 17. August 2012

Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München 2011

1. Begriffe und Hypothesen
2. Methode
3. Selbst kommt hinzu
4. Körper und Gehirn
5. Bewußtsein und Rekursivität
6. Erziehung des Unterbewußten
7. Biologischer Wert und Kultur
8. Die Grenze des Körperleibs

Angesichts der ungeheuren Komplexität lebenserhaltender Mechanismen, an deren Kontrolle und Steuerung das Gehirn beteiligt ist und die bis in die Anbahnung und Orientierung von bewußten Entscheidungsprozessen hineinreichen, wird von Seiten der Gehirnforschung immer wieder die Entscheidungs- und Willensfreiheit des Menschen in Frage gestellt. Damasio bezieht hier eine klare Position gegen eine solche Interpretation neurophysiologischer Forschungsergebnisse: „Bei der Aufklärung der neuronalen Mechanismen hinter dem bewussten Geist zeigt sich, dass unser Selbst nicht immer fehlerfrei ist und nicht die Kontrolle über alle Entscheidungen hat. Aber die Tatsachen rechtfertigen es auch, den falschen Eindruck abzulehnen, unsere Fähigkeit zu bewusstem Abwägen sei ein Mythos.“ (Damasio 2011, S.40)

Es macht Damasio zufolge gar keinen Sinn, die Frage nach der Handlungsfreiheit des Menschen mit einer Entweder-Oder-Alternative zu konfrontieren: also entweder volle Kontrolle über alle unsere dem Denken zugrundeliegenden physiologischen Prozesse oder keine Handlungsfreiheit. Vielmehr ist es ganz im Gegenteil eher so, daß wir überhaupt nur dann in den zahlreichen Situationen des alltäglichen Lebens sinnvolle Entscheidungen treffen können, wenn wir nicht ständig einen Großteil unserer bewußten Aufmerksamkeit auf die stets wiederkehrenden Routinen und Gewohnheiten richten müssen, mit denen wir uns am Leben erhalten und den sozialen Rollenerwartungen genügen: „Erstaunlicherweise existiert die selbstbezogene Lebenssteuerung immer gemeinsam mit dem automatischen Regulationsapparat, den jedes bewusste Lebewesen aus seiner Evolutionsgeschichte übernommen hat. Das gilt ganz besonders auch für den Menschen. Die meisten Regulationsvorgänge in unserem Inneren laufen unbewusst ab, und das ist auch gut so.“ (Damasio 2011, S.69)

Das Unbewußte reicht Damasio zufolge in der Evolutionsgeschichte zurück bis zu den Einzellern, aus denen sich dann die komplexeren, arbeitsteiligen Organismen gebildet haben. Das biologische Erbe dieser Einzeller steuert bis zu uns Menschen den Lebenswillen bei, der noch heute einen wesentlichen Teil unseres „riesige(n) Unbewusste(n)“ (Damasio 2011, S.187) bildet: „Nach meiner Überzeugung ist diese Gerichtetheit (der Neuronen auf den Körper – DZ) der Grund, warum der unterschwellige Lebenswille unserer Körperzellen sich jemals in einen mit Geist ausgestatteten, bewussten Willen umsetzen konnte. Der heimliche Wille der Zellen wurde in den Schaltkreisen des Gehirns nachgeahmt.“ (Damasio 2011, S.50)

Außerdem gibt es Damasio zufolge zusätzlich zu diesem elementaren Lebenswillen eine „gewaltige Zahl von Anweisungen, die in unserem Genom enthalten sind, als Leitfaden für den Aufbau des Organismus mit den charakteristischen Eigenschaften von Körper und Gehirn dienen und später auch zur Funktionsfähigkeit des Organismus beitragen. ... und zu diesem Grundaufbau gehört auch die Erstausstattung mit unbewusstem Knowhow, mit dem unser Organismus gesteuert werden kann.“ (Damasio 2011, S.292) – Der Einfluß dieses „genomischen Unbewussten“ reicht also sogar bis in die Verhaltenssteuerung unseres bewußten Lebens hinein und nimmt uns auf diese Weise viele Entscheidungen ab, mit denen so überhaupt erst ein Spielraum für ein selbstbestimmtes Leben eröffnet wird.

Außerdem lernt der Mensch in den langen Kinder- und Jugendjahren über die Erziehung und später über selbstbestimmte Bildungsprozesse einen Teil dieser unbewußten Mechanismen zu beeinflussen und schließlich sogar zu formen: „Es gibt zwei Formen der Lenkung von Handlungen, eine bewusste und eine unbewusste, aber die unbewusste Lenkung kann zum Teil durch die bewusste Form geprägt werden. Kindheit und Jugend nehmen beim Menschen gerade deshalb so viel Zeit in Anspruch, weil es sehr lange dauert, die unbewussten Vorgänge im Gehirn zu erziehen und innerhalb dieser unbewussten Domäne eine Form der Lenkung zu schaffen, die mehr oder weniger zuverlässig entsprechend den bewussten Absichten und Zielen funktioniert. In dieser langsamen Erziehung kann man einen Prozess sehen, durch den Teile der bewussten Lenkung an einen unbewussten Diener übertragen werden ...“ (Damasio 2011, S.283f.)

Ich habe diesen Bildungsprozeß anhand einer Pyramide dargestellt, die die entwickelte Individualität eines Menschen bis in seine biologische Basis hinunter veranschaulichen soll. (Vgl. meine Posts vom 01.06.2011 und vom 30.01.2012) Auch Damasio sieht in dieser produktiven Wechselbeziehung von Unbewußtem und Bewußtem, die ich als ausgewogenes Verhältnis von Naivität und Reflexion beschreibe (vgl. meine Posts vom 14.12.2010, 24.01.2011, 01.04.2011, 09.01.2012, 10.01.2012), die notwendige Voraussetzung für moralisches Urteilen und Handeln, also für die Autonomie der individuellen Urteilskraft: „Und schließlich entfaltet das kooperative Wechselspiel zwischen Bewusstem und Unbewusstem seine Wirkung in vollem Umfang auch bei moralischen Verhaltensweisen. Diese stellen ebenfalls eine Fähigkeit dar, die durch wiederholtes, langjähriges Üben erworben wurde. Sie speist sich aus bewusst formulierten Prinzipen und Gründen, ist aber ansonsten im kognitiven Unbewußten ebenfalls zu einer ‚zweiten Natur‘ geworden.“ (Damasio 2011, S.285)

Die dynamischen Mechanismen, mit denen hier grundlegende und soziokulturelle Homöostasen ineinandergreifen, habe ich im vorangegangen Post beschrieben. Ein gutes Beispiel für ein Erziehungskonzept, das die Entwicklungsphasen des Kindes auf ein Bedürfnisgleichgewicht hin orientiert, beinhalten die ersten drei Bücher von Rousseaus „Emile“. Dieses Gleichgewicht besteht darin, daß das Kind im Laufe seiner Entwicklung seine eigenen Bedürfnisse synchron mit seinen motorischen Fähigkeiten, sie zu befriedigen, entdeckt und entwickelt. Dabei ist es zu Beginn seines Lebens, als Säugling, unendlich schwach, weil es zur Befriedigung aller seiner Bedürfnisse der umfassenden Hilfe und Pflege der Erwachsenen bedarf, und am Ziel seiner Kindheit, in den wenigen Jahren der Vorpubertät ist es so stark, wie es danach nie mehr sein wird, weil es alle seine Bedürfnisse selbst befriedigen kann, ohne der Hilfe anderer zu bedürfen, und nun einen Überschuß an Kräften hat, die es ins Lernen investieren kann. Für dieses Lebensalter hat Rousseau den eigentlichen, gezielten Unterricht vorgesehen, verbunden mit einer ersten Berufsausbildung, um dieses schmale Zeitfenster zu nutzen; denn wenn das Kind erstmal in der Pubertät ist, als Jugendlicher, wird dieser für diesen Unterricht nicht mehr erreichbar sein.

Alles hängt bei Rousseaus Erziehungskonzept natürlich von diesem Gleichgewicht von Bedürfnissen und Kräften ab. Deshalb sind hier ‚falsche‘ Bedürfnisse, Bedürfnisse, die sich das Kind von anderen abschaut, aber nicht seine eigenen sind, so gefährlich. Das wichtigste Bedürfnis des Kindes aber, das Rousseau auch als das „Ziel der Natur“ bezeichnet, ist zu überleben, – ein Überlebenswille also, wie ihn Damasio jeder Körperzelle des menschlichen Organismus zuspricht, als Bestandteil eines genomischen Unbewußten. Erreicht das Kind aber die Zeit seiner glücklichen ‚Reife‘, so wird es – das ist Rousseaus Hoffnung – sich ‚Gewohnheiten‘ angeeignet haben, die es später als Jugendlicher und Erwachsener beibehalten wird: nämlich selbst zu denken und sich nicht der Autorität von anderen zu unterwerfen. Dieses Erziehungsziel entspricht ungefähr dem, welches Damasio anspricht, nämlich innerhalb der „unbewussten Domäne eine Form der Lenkung zu schaffen, die mehr oder weniger zuverlässig entsprechend den bewussten Absichten und Zielen funktioniert“. (Vgl. Damasio 2011, S.283f.)

Dabei darf man aber nicht übersehen, daß sich in Rousseaus „Emile“ nach der Kindheit eine weitere Erziehungsphase anschließt: die des Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Hier geht es nun nicht mehr um biologische Bedürfnisse und Werte, wie bei Damasio, sondern um Vernunft und Liebe. Hier bedarf es jetzt Rousseau zufolge eines völlig neuen Erziehungsansatzes, der sich von der Kindererziehung fundamental unterscheidet. Unabhängig davon, wie man Rousseaus Differenzierungen zwischen Kindheit und Jugend nun im einzelnen bewertet, muß ihm doch zugestanden werden, daß er Biologie (Kindererziehung) und Kultur (Jugenderziehung und Bildung) nicht einfach einander gleichsetzt und unterschiedslos nach einem einzigen Prinzip beurteilt.

Damasio geht mir hier in seinem Überschwang ein bißchen zu weit: „Die Verknüpfung von Persönlichkeit und Biologie ist eine Quelle unendlichen Staunens und Respekts für alles Menschliche. ... Ordnet man die Entstehung des bewussten Geistes in die Biologie- und Kulturgeschichte ein, eröffnet sich ein Weg, um den traditionellen Humanismus mit der modernen Naturwissenschaft in Einklang zu bringen.“ (Damasio 2011, S.41)

Auch ich bin der Meinung, daß man moderne Naturwissenschaft und traditionellen Humanismus wieder miteinander in Einklang bringen sollte. Dies darf aber nicht zur „Verschmelzung“ führen (vgl. Damasio 2011, S.213), wie wir im nächsten Post sehen werden.

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