„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 19. August 2012

Damasios rekursive Ordnung der Stufen des Selbst

(Vgl. meinen Post vom 17.08.2012)

Wenn ich Damasios Stufenaufbau des Selbst auf ein rekursives Sphärenmodell übertrage, müßte es ungefähr folgendermaßen aussehen: das Protoselbst repräsentiert den Körper, und zwar einen bestimmten homöostatischen Ausgangszustand dieses Körpers, der in Form von ursprünglichen Gefühlen (A) ein beständiges latentes Hintergrundgefühl zu unserem Selbst beisteuert. (Vgl Damasio 2011, S.118) Vor diesem Hintergrundgefühl heben sich alle besonderen Gefühle ab, die Variationen seines grundlegenden Themas bilden: den eigenen lebendigen Körper und seine „pure Existenz“. (Vgl. Damasio 2011, S.33, 130)


Dieser im Protoselbst repräsentierte relativ stabile Ausgangszustand erfährt durch Wahrnehmungen (B) und Erinnerungen (C) ständige Veränderungen. Diese Veränderungen werden in Form von losen, noch unbewußt bleibenden Bilderfolgen an das Kern-Selbst weitergegeben, das diese nun erst in „Form eines Handlungsablaufs“ (vgl. Damasio 2011, S.219) miteinander verknüpft und so mehr oder weniger regelmäßige „Pulse“ erzeugt (vgl. Damasio 2011, S.218), die die unterste Schwelle unseres bewußten Erlebens bilden. Diese Pulse werden von dem schon erwähnten Hintergrundgefühl von der eigenen Existenz begleitet (D), das wiederum mit dem Gefühl der Perspektivität (E) verknüpft ist: unser „Standpunkt“ ist in unserem Körper eindeutig lokalisiert. Er bildet die Mitte, von dem aus unser Geist „sieht, tastet, hört und so weiter“. (Vgl. Damasio 2011, S.198)  Diese Pulse des Kern-Selbst geben uns, so Damasio, das Gefühl (F), etwas zu wissen, wozu gehört, daß wir uns als Eigentümer unserer Wahrnehmungen und Erinnerungen erleben, und die Gewißheit, daß wir in unseren Handlungen frei sind.

Aus den kurzfristigen, an einzelnen Objekten ausgerichteten Pulsen des Kern-Selbst setzt sich das umfassende autobiographische Selbst (G) zusammen. Einzeln oder gruppenweise aus dem Gedächtnis abgerufene Erinnerungen werden als einzigartige, biographische Objekte behandelt und an das Protoselbst weitergeleitet, welches seinen Ausgangszustand verändert und Pulse des Kern-Selbst erzeugt. (Vgl. Damasio 2011, S.219)

Aber das autobiographische Selbst besteht natürlich nicht nur aus Erinnerung, sondern – wie Plessner schreibt – es muß sein Leben führen. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.310) Deshalb beinhaltet dieses autobiographische Selbst mehr als nur den Vergangenheitsbezug: „Dieses Selbst definiert sich unter dem Gesichtspunkt autobiografischen Wissens, das sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die vorhersehbare Zukunft bezieht. Die vielen Bilder, die in ihrer Gesamtheit eine Biografie definieren, erzeugen Pulse des Kern-Selbst, die in ihrer Summe ein autobiografisches Selbst ausmachen.“ (Damasio 2011, S.34) So beinhaltet bei Damasio das Gedächtnis also nicht nur Erinnerungen, sondern es bildet zugleich die Grundlage für eine freie Phantasietätigkeit, für einen durch „Reflexion“ gesteuerten „Bildverarbeitungsapparat“, in dem die bisherigen gespeicherten Erfahrungen in einem „Prozess des Überlegens“ „erinnert und manipuliert werden“. (Vgl. Damasio 2011, S.188)

Das autobiographische Selbst ist noch einmal in eine soziokulturelle Sphäre (H) eingebettet, deren verschiedenen gesellschaftlichen Institutionen weitere rekursiv organisierte Sphären bilden, die ich in der Graphik nicht noch einmal eigens dargestellt habe. Den verschiedenen übereinander geschichteten und rekursiv aufeinander bezogenen Sphären habe ich einen Intentionalitätsstrahl hinzugefügt, um die auf Objekte gerichtete Aufmerksamkeit darzustellen, die die verschiedenen Sphären einerseits zu einem umfassenden Bewußtsein integriert, andererseits aber auch immer wieder auf die jeweiligen Objekte unserer Aufmerksamkeit hin unterschiedlich gewichtet. Diese Gewichtung geschieht Damasio zufolge durch somatische Marker, den protonarrativen Urformen jeder späteren, explizit sprachlichen Syntax.

Die somatischen Marker sind aber nichts anderes als die alle Erinnerungen und Wahrnehmungen begleitenden Gefühle und werden insofern in der Graphik von den kleinen Doppelpfeilen als rekursiven Bindegliedern zwischen den einzelnen Sphären abgebildet. Zugleich sind diese Doppelpfeile auf den Intentionsstrahl gerichtet und deuten so die von den jeweiligen, durch ihn hervorgehobenen Objekten bewirkten Veränderungen in der Gesamtdynamik des Sphärenmodells an.

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