„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 1. August 2012

Superbegabte

Beim Anschauen einer Geo-DVD zu „Superbegabten“ – Menschen mit extremen einseitigen Begabungen und damit zusammenhängenden Gehirnschädigungen – sind mir zwei Dinge aufgefallen: erstens wird eine Autistin beschrieben, die besondere Fähigkeiten beim Verstehen von Tieren aufweist, aber nicht in der Lage ist, die Mimik von menschlichen Gesichtern zu deuten. Ich hatte den Eindruck, daß die Wirklichkeitswahrnehmung von Autisten dem gleicht, was Plessner als  „komplexqualitative Wahrnehmung“ beschreibt. (Vgl. meinen Post vom 21.10.2010) Die betreffende Frau sagt, daß sie wie die Tiere in ‚Bildern‘ denkt bzw. wahrnimmt. Damit meint sie wahrscheinlich: ‚photographisch‘.

Sie nimmt, so sagt sie, wie Tiere viele kleine Details ihrer Umgebung wahr, die andere Menschen einfach übersehen bzw. wegselektieren, z.B. irgendwo herumliegendes Bonbonpapier. Vor solchen Dingen würden Kühe leicht erschrecken (und, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, Pferde; ich kannte mal eins, das sich vor praktisch allem erschreckte; sogar vor seinem eigenen Schatten). Im Grunde ist es genau das, was die Wahrnehmung von Tieren von der von Menschen unterscheidet. Menschen nehmen nicht jedes Detail wahr, also komplexqualitativ (bzw. photographisch), sondern versammeln ihre Wahrnehmung in Vordergründen und Hintergründen. Die Hintergründe nehmen sie dann nicht mehr bewußt wahr. So gelingt es Menschen besser als Tieren, sich auf einzelne Gegenstände zu konzentrieren und diese – z.B. beim Nachdenken – im freien Gedankenraum ‚rotieren‘ zu lassen.

Zweitens fiel mir auf, wie die Neurowissenschaftler beschrieben, daß es immer die sozialen Fähigkeiten sind, die unter den Sonderbegabungen der Autisten leiden. Die Neurowissenschaftler sprechen von mangelnder Empathie. Das paßt natürlich irgendwie nicht zu der Tierversteherin. Denn als solche müßte sie ja eigentlich eine geniale Empathin sein. Aber andererseits ist da eben auch ihre Unfähigkeit, menschliche Gesichter zu deuten.

Jedenfalls gab es mir zu denken, daß es sich bei den sozialen Defiziten von Autisten um regelrecht allergische Reaktionen des Körpers auf Berührungen mit anderen Menschen handelt. Das paßt zu Northoffs Balance der Umwelt-Gehirn-Einheit. Er beschreibt am Traum und an der Schizophrenie, wie bei beiden Bewußtseinszuständen das Gehirn in eine Dysbalance zwischen Außen und Innen gerät. (Vgl. meine beiden Posts vom 29.07.2012) Northoff bezieht sich vor allem auf die im Schlaf geminderte oder aufgrund von Schizophrenie gestörte Außenweltwahrnehmung, die dazu führt, daß die inneren, vorbewußten Aktivitäten des Gehirns die Grenze zum Bewußtsein überschreiten und bewußt werden. Dabei vernachlässigt Northoff den Körperbezug des Gehirns, dessen diesbezügliche Aktivitäten (innerer Ring) er in der Gegenüberstellung zur äußeren Umwelt (äußerer Ring) den intrinsischen Fluktuationen (mittlerer Ring) zuordnet. (Vgl. Northoff 2012, S.247)

Dabei gehört die Körperwahrnehmung bei Northoff, wie er mir jetzt noch einmal bestätigt hat, genauso zum Umweltbezug des Gehirns wie die Außenweltwahrnehmung. Es kann also nicht nur die Balance zwischen innerem und mittlerem Ring auf der einen Seite und dem äußeren Ring auf der anderen Seite verlorengehen, sondern auch der Körperbezug selbst (innerer Ring) kann, wie bei Autisten, gestört sein und so zu einer Dysbalance zwischen in diesem Fall mittlerem und äußerem Ring auf der einen Seite und dem inneren Ring auf der anderen Seite führen.

Aber auch hier gilt, was bei Northoffs Umwelt-Gehirn-Einheit fehlt: der Körper steht an erster Stelle, als Körperleib, denn ohne diesen hätte das Gehirn noch nicht mal eine Außenwelt. In gewisser Weise ist das eigentliche Korrelat des Gehirns nicht das Bewußtsein, sondern der Körper. So wie Bewußtsein nicht ohne Welt denkbar ist, ist auch das Gehirn nicht ohne Körper denkbar.

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